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An Daniel C., 20. März 2003

Hoi Dänu, Was ein wirrer Tag! Die Töne in der Klarinette waren wie sehr oft nicht die,  die ich dort gerne finden würde. Irgendwie haben wir zwei (die Klarinette  und ich, meine ich) eine stressige  Beziehung! Ich glaube, es hat mit meiner  Atemtechnik oder einfach mit meinem Atmen zu tun ... Ich weiss schon, weshalb  ich nur noch so selten spiele! Flöten liegen mir offenbar eher und auch mit  dem Klavier ist's bedeutend entspannter. Manchmal will der Schimmel und manchmal  will er halt nicht, aber die enge, vielklapprige Klarinette mit ihrer Neigung  zum Gägeligen und zum verräterischen Gequietsche! ... Nun, ein wenig hab  ich herumgemacht mit dem Teil und geschieden sind wir noch nicht, aber eben  - glücklich auch nicht. Dann haben mich Computerprobleme überrollt - wie  gut mann sich doch in solchen verkriechen und verärgern kann. Der Laptop  tut inzwischen wenigstens wieder, sodass ich Dir doch noch schreiben kann.

Es geht mir hie und da durch den Sinn, dass ich Dir noch gar nicht von meiner  "Behinderung" geschrieben habe. Ich glaube, in meinem damaligen Inserat hab  ich sie kurz erwähnt, um nachher nicht wegen Verschleierung eines Deffektes  und Missachtung der Gesetze des schwulen Fleischmarktes vor den Kadi gezerrt  zu werden.        Es ist schon etwas eigenes mit diesem Behindertsein. Man ist ja ein Mensch  wie jeder andere, so wird einem von allen Seiten und zu fast allen Zeiten  beteuert, aber in meinem Gefühl ist diese gute Nachricht offenbar noch nicht  angekommen, obwohl ich andauernd in meiner Psyche herumwerkle und sie bzw.  mich in Sachen Selbstbewusstsein auf Vordermann zu bringen versuche. Es ist  ein wenig wie mit dem Schwulsein - süss klingt die Melodie der Toleranz,  doch mein Herz glaubt dem Gefiedel nicht so recht. Es sitzt misstrauisch  auf der Mauer und guckt zu. So schnell vergess ich nicht. Und was hab ich  doch in Sachen Behinderung vor zwei oder drei Tagen gelesen: ein japanisches  Forscherteam hat eine Methode gefunden, die es vielleicht bald ermöglichen  soll, den Gesundheitszustand eines Fötus im Blut der Mutter feststellen zu  können. Damit werden die etwas riskanten und uneleganten Fruchtwasseruntersuchungen  unnötig; es genügt ein Tröpfchen Blut der Mutter und die Sache ist im Butter!  "Treiben Sie ihr Kind doch ab, es gibt schönere!" "O, es ist kaputt? Dann  werfen Sie's doch weg und Sie sind die Sorgen los!"

Lieber Dänu, ich will nicht lange über die Dummheit der Welt jammern und  damit um den heissen Brei reden. Meine Behinderung ist dramatisch, ich bin  nämlich blind. Ich sage dramatisch, weil ich denke und dies immer wieder  mal höre, das Blindheit für viele Menschen zum "Schlimmsten" gehört, was  sie sich vorstelln können. Ich selbst finde mein Blindsein überhaupt nicht  dramatisch oder schlimm. Im Gegenteil. Ich finde das Blindsein meistens interessant,  eine spannende Herausforderung, etwas, was mich daran gehindert hat, allzu  schnell normal zu werden und Karriere zu machen im Teich der Haie. Im übrigen  spielt das Blindsein eigentlich keine grosse Rolle, wenn ich an all das denke,  was mich ausmacht, was mich bewegt, bedrückt, begeistert, berührt und interessiert.          Natürlich gibt's Momente, wo es weh tut, nicht sehen zu können, Momente,  in denen ich das Sehen wirklich vermisse! Oft ist's auch sau unpraktisch,  wenn ich irgendwo im Sumpf stehe und keine Ahnung hab, was jetzt um mich  los ist und wo's lang geht. Da kann mir dann schon mal die philosophische  Ruhe und die Freude an der Unbeholfenheit abhanden kommen, sodass ich nur  noch stresse oder fluche oder mich deprimiert in einen Winkel meiner Seele  zurückziehe, doch wie gesagt: Diese Momente sind eher selten. Ich lasse mich  auch nicht so leicht wegschüchtern und beeindrucken. Aber dann, wenn ich  mit zumindest theoretisch doch erfüllbarer Liebeshoffnung im Herzen auf einen  Mann zugehe oder dann, wenn ich auf eine Stelle hoffend an eine Türe klopfe,  da werden meine Knie noch immer weich und es wird mir mulmig in der Magengegend.

In solchen Momenten merke ich, wie tief ich die Negativbewertungen von Behinderung  und Blindheit internalisiert habe. Plötzlich steigen sie aus ihren Gräbern,  bleich und irreal und fangen an in mir herumzugehen, mich zu umstehen und  anzuglotzen:  "E blinde, lueg, e Blinde!" "Oje, e Blinde! Oje!" "Lueg dört,  ..." - Ich fange an, mich gegen die Invasion der Gespenster zu wehren, doch  sie sind zäh und ich merke, wie ich mir abhanden komme, wie ich zum Bettler  werde, genauso wie es vorgesehen ist im internationalen Rollenspiel. Ich  werde traurig und verliere meinen Mut. - IN solchen Momenten brauche ich  Freunde, die verstehen, Freunde, bei denen ich einmal abladen, fluchen, jammern  und weinen kann - wie kürzlich bei Frank (von dem ich gestern schon schrieb),  dem ich mitten in der Nacht ein Mail schrieb und nur immer geweint habe vor  dem Compi, weil ich mich wiedermal so nackt und ungewollt gefühlt habe.

... Fortsetzung folgt. Renzo - ja, wieder dieser Renzomann - ist gekommen.  Wir wollen später an eine Lesung von Pierre Stutz gehen und vorher noch kurz  etwas essen. Ob ich später am Abend noch schreibe, weiss ich nicht, aber  sicher morgen! Damit Du aber nicht zu lange warten musst, kriegst Du halt  mal diesen etwas abrupt beendeten Ergüsel!

Liebe Grüsse,

Martin