"Kann der nicht rechnen?" Von der Zivilcourage der Elite
1. Es war gegen Ende meiner Gymnasialzeit als ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass mit unserer Schule etwas wesentliches nicht stimmt. Ich war damals 17 und galt allgemein als unproblematischer Schüler.
Nach vier unbeschwerten, vor allem spielend verbrachten Jahren in der Primarschule war ich mit zehn oder elf Jahren in das humanistische Gymnasium übergetreten, wobei das Wort Übertritt hier eigentlich fehl am Platz ist. Es war eher eine von meinen Eltern vorgenommene, durch mich nebenher und ohne tieferes Interesse abgesegnete Umsiedlung. Das humanistische Gymnasium gehörte damals zu den "besten Schulen" unserer Stadt. Wir empfanden einzig das mathematisch naturwissenschaftliche Gymnasium in der Nähe des Bahnhofs als einigermassen ebenbürdige Konkurrenz, wenn uns auch heimlich vor den dort offenbar herrschenden strengen Anforderungen graute. Andere Schulen existierten in meinem damaligen Bewusstsein im Grunde nicht.
Ich war kein besonders glänzender Schüler, doch meine Leistungen reichten für die regelmässige und reibungslose Beförderung von Klasse zu Klasse. So wie die meisten meiner Mitschüler (Mädchen gab es in dieser Schule damals noch nicht!) fand ich die neue Schule nach der ersten Zeit der Um- und Eingewöhnung bald ziemlich langweilig, doch diese lange Weile war für uns so normal, dass wir darin kein Problem sahen. Wir stönten zwar gelegentlich über diesen oder jenen Lehrer und über die zu vielen Tests oder Hausaufgaben, aber an eine grundsätzliche, über dieses Jammern und Klönen hinausgehende kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Schule kann ich mich nicht erinnern. Diesbezüglich war das humanistische Gymnasium der späten 1960er und der frühen 1970er Jahre vielleicht ein Extremfall, denn an anderen Schulen der Stadt scheint es damals mehr gebrodelt und gegährt zu haben. Nun, wie gesagt, wir waren brav, heuchelten Interesse und mogelten uns durch.
Ein paar aufmüpfigere Figuren sind mir in Erinnerung, doch entweder passten sie sich dem in unserer Klasse herrschenden Groove an oder sie verschwanden bald wieder ebenso sang und klanglos von der Bildfläche wie diejenigen, welche die erforderlichen Leistungen nicht erbrachten oder erbringen konnten. Es gab natürlich auch ein paar Lehrkräfte, die ich lieber mochte als andere, und vor allem gegen Ende der Schulzeit genoss ich es, wenn ich in bestimmten Fächern hie und da mit einer "besonderen Leistung" glänzen konnte. Doch alles in allem waren die acht an dieser Schule verbrachten Jahre wie gesagt nicht gerade aufregend, ja eigentlich erscheinen sie mir von heute aus gesehen als grosse Zeit- und Geldverschwendung, denn natürlich kostet so ein Gymnasiast die Allgemeinheit einiges, auch wenn er sich bloss langweilt.
Das Ereignis, welches den faulen Frieden, den ich mit dieser Institution geschlossen hatte, in Frage stellte und mich vielleicht zum ersten Mal dazu brachte, ernsthaft über die Schattenseiten der Schule nachzudenken, hängt mit Herrn M. zusammen. Er war zu Beginn unseres zweitletzten Jahres unser Mathelehrer geworden, eine Aufgabe, an der er angesichts des in unserer Klasse herrschenden mathematischen Wirrwarrs offenbar keine grosse Freude hatte. Er reagierte jedenfalls oft sehr gereizt auf unser mathematisches Unverständnis und liess seinen Frust dabei öfter auch an einigen besonders schwachen oder hilflosen Schülern aus. Ich hatte das schon mehrmals erlebt, und dabei war mir immer unbehaglicher zu Mute geworden, dies nicht eigentlich wegen jenes Lehrers, denn – naja, mit solchen Menschen muss man rechnen. Nein. Was mich mehr und mehr beschäftigte war mein eigenes Schweigen und das Schweigen unserer gesamten Klasse. Hier wurde jemand mitten unter uns fertig gemacht, und wir reagierten nur durch wegsehen! Mehrnoch. Im Geschichtsunterricht sahen wir uns zur selben Zeit Filme über den deutschen Nationalsozialismus an und lamentierten danach jeweils herzergreifend über die Feigheit der Menschen, die dies alles mitgemacht hatten! Dabei geschah all das in einer Schule, in der man uns seit Jahren mehr oder weniger subtil zu verstehen gab, dass wir zur künftigen Elite unseres Landes gehörten ...
Ich war ein harmloser Schüler und bin bis heute kein besonders mutiger Kämpfer, aber diesen Widerspruch zwischen unserem eigenen Duckmäusertum und unserer lauten Empörung über die „schrecklichen Nazis" ertrug selbst ich irgendwann nicht mehr. Als der besagte Lehrer wieder einmal mit ausgestreckter Hand auf einen meiner Mitschüler zeigte und ihn spöttisch fragte, ob er überhaupt auf drei zählen könne, und ob er uns dies bitte einmal vormachen würde, griff ich deshalb ein und erklärte ihm, dass er nicht dazu da sei, uns fertig zu machen, sondern dass er uns Mathematik beizubringen habe. Mein Protest war viel schüchterner als er hätte sein müssen, aber immerhin, ich habe reagiert. Doch wenn ich daran denke, wie lange es gedauert hat, bis ich mich aufgerafft und „stop" gesagt habe, und wenn ich daran denke, wie ängstlich meine Klassenkameraden auf meine Intervention reagierten, dann wird mir noch heute beinahe schlecht, denn wie können wir von uns erwarten, dass wir in einer politisch brisanten, wirklich gefährchhen Situation stop sagen, wenn wir es schon in so harmlosen Momenten nicht können?
2. Ich weiss nicht, ob mir der Name von Hanna Arendt damals bereits ein Begriff war. Sie hatte zu Beginn der 1960er Jahre über den Prozess gegen Adolf Eichmann, einen der grausamsten Vertreter der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie berichtet, und dabei den bis heute bekannten Begriff der „Banalität des Bösen" geprägt. Eichmann, der den Tod von hunderttausenden von Juden und anderen von den Nazis zur Vernichtung bestimmten Menschen organisiert hatte, war, so Arendts einfache, in gewissem Sinn jedoch erschütternde Feststellung, kein Monstrum und kein agressiver Fanatiker, wie wir es naiverweise vielleicht vermuten würden, sondern ein ziemlich biderer, wenn auch begabter Verwaltungsbeamte, der seine Gräueltaten damit rechtfertigte, dass er ja bloss seine Pflicht getan habe. So wie die Mehrheit der damaligen „Verbrecher" hatte Eichmann gelernt, dass seine Gefühle bei der Arbeit keine Rolle spielen -, keine Rolle spielen durften. Er hatte gelernt, zu gehorchen und zu funktionieren. 1
Sicher hatte ich damals auch noch nicht von dem us-amerikanischen Psychologen Stanley Milgram und dem nach ihm benannten Experiment gehört. Durch die Forschungen seines Mentors Solomon Asch zum Phänomen des Gruppendrucks angeregt wollte Milgram herausfinden, in wie weit und unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, anderen menschen Schmerzen zuzufügen. Zu diesem Zweck suchte er zu Beginn der 1960er Jahre per Inserat Versuchspersonen, welche an einem Experiment zur Erforschung des Zusammenhangs von Lernerfolg und Strafe teilnehmen würden. Dazu musste die Versuchsperson einem „Schüler" bei jeder fehlerhaften Erinnerung eines Wortpaares einen elektrischen Schlag versetzen. Der „Lehrer" sollte die Stärke des Schocks bei jedem Fehler um 15 Volt erhöhen. Begonnen wurde mit 15 Volt. Das Ende der Skala lag bei 450 Volt. Die Rolle des „Lehrers" und des „Schülers" wurden vermeintlich per Loos festgelegt. IN Wirklichkeit war der „Schüler" jedoch ein Schauspieler, welcher nach einem vorgegebenen Muster auf die angeblichen Stromstösse reagieren sollte.
Wenn die Versuchsperson zögerte oder das Experiment abbrechen wollte, forderte der Experimentator in ruhigem Ton zum Weitermachen auf. Dazu gab es vier standartisierte Sätze vom freundlichen „Bitte, fahren Sie fort" Oder „Bitte machen Sie weiter" bis hin zum kühlen „Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen". Wenn der "Lehrer" nach der vierten Aufforderung nicht weitermachen wollte, wurde der Versuch abgebrochen, und der "Schüler" wurde über den wirklichen Charakter des Experiments informiert.
Die 1963 erstmals veröffentlichten Ergebnisse des Experimentes waren erschreckend: In der ursprünglichen Versuchsanordnung gingen 62,5% der „Lehrer" bis zur maximalen Stromstärke von 450 Volt, obwohl ihr „Schüler" gemäss seinen Anweisungen bei 120 Volt zu schreien begann und bei 150 Volt darauf bestand, das Experiment abzubrechen. Bei 200 Volt liessen die Schreie „das Blut in den Adern gefrieren" und nach 330 Volt war vom „Schüler" nichts mehr zu hören. 2 Keine Versuchsperson verweigerte das Experiment ganz; die ersten Aussteiger gab es erst ab 300 Volt.
Später veränderte Versuchsanordnungen ergaben, dass die Bereitschaft zum Gehorsam direkt von der physischen Nähe des Versuchsleiters und dem Prestige abhing, welches die von ihm vertretene Institution in den Augen der Versuchspersonen genoss. Gab der Versuchsleiter seine Anweisungen lediglich über Telefon oder wurde der Versuch statt in der bekannten Jale-University in den schäbigen Räumen eines angeblich „privaten" Forschungsinstituts durchgeführt, wurde der Versuch wesentlich öfter und wesentlich früher abgebrochen.3 Das mochte vielleicht etwas beruhigen, doch tröstete diese Tatsache nicht über die Erkenntnis hinweg, wie leicht Menschen ihre Werte über Bord werfen und sich einer Autorität fügen, die eine angeblich vernünftige Sache und eine respektable Institution vertritt. Milgram betont zwar, dass das Experiment viele seiner Versuchspersonen in extreme Gefühls- und Gewissensnöte gestürzt habe; sie handelten also ganz offensichtlich gegen ihren Willen und entgegen dem, was sie für gut und richtig hielten – aber sie handelten, und sie handelten extrem grausam in einer Situation, in der eigentlich so gut wie kein realer Druck auf sie ausgeübt wurde.
Milgrams Experiment löste in der Folge eine heftige Debatte über die ethischen Grenzen psychologischer Experimente aus. Trotz einiger methodischer Mängel und Schönheitsfehler wurden seine Ergebnisse jedoch nie grundsätzlich in Frage gestellt. Im Gegenteil. Ähnliche, von anderen Forschern seither durchgeführte Versuche ergaben stets vergleichbare Zahlen, wobei kein Unterschied zwischen Frauen und Männern festgestellt werden konnte.4 Unter dem Strich sind wir Menschen, so könnte man die Resultate der verschiedenen Milgram-Experimente zusammenfassen, eine erbärmlich feige Gesellschaft.
Wie leicht durchschnittliche Menschen zu bösartigen Sadisten werden zeigte schliesslich auch ein anderes, 1971 von Philip G. Zimbardo, einem ehemaligen Mitschüler Milgrams an der Stanford University in Kalifornien durchgeführtes Experiment. Zimbardo richtete im Keller seines Institutes ein Gefängnis ein, in welchem 21 StudentInnen während zwei Wochen „Wärter" und „Gefangener" spielen sollten. „Was passiert, wenn man rechtschaffene Menschen an einen Ort des Bösen bringt? Siegt die Humanität über das Böse oder triumphiert das Böse", das waren einige Fragen, die Zimbardo und seine MitarbeiterInnen sich damals stellten. Sie mussten den auf zwei Wochen angelegten Versuch wegen des sadistischen Verhaltens der Strafvollzugsbeamten und der bei den Gefangenen auftretenden schweren Depressionen nach 6 Tagen abbrechen. 5
3. Angesichts dieser Studien und angesichts der in unserer Kultur bestehenden, nicht nur während der Zeit des Nationalsozialismus zu beobachtenden Bereitschaft zu Unterwerfung und Gehorsam, wird die Frage nach dem Mass der Bravheit, zu welchem wir in unseren Schulen erziehen wollen oder „müssen", im Grunde eine Frage aller erster Priorität. Dabei sollten wir uns nicht zu leicht dem Glauben hingeben, dass wir heute anders handeln würden als „die Nazis" damals oder dass unsere Schulen heute zu mehr Mut und Eigenständigkeit erziehen als die Schulen vor 30 oder 40 Jahren. Beides halte ich für eine Illusion. Durch unser Schweigen und unser Mitmachen – mag es auch ein Mitmachen unter Protest und unter Vorbehalt sein – unterstützen wir heute ein Regime – und ich meine damit eher den von Galbraith erstmals breitenwirksam beschriebenen „industriell militärischen Komplex", nicht unsere zur Folklore degenerierten nationalen „Regierungen" -, welches gegenüber unserer Umwelt und gegenüber den verelendeten Massen der ersten, zweiten und dritten Welt ähnlich zynisch und unmenschlich handelt wie die Männer um Hitler oder Stalin damals gehandelt haben. Und bei genauerem Hinsehen erweist sich auch die „Mitbestimmungskultur", die sich in den letzten Jahrzehnten zumindest hie und da an unseren Schulen entwickelt hat, als reiner Ettikettenschwindel, denn solange die SchülerInnen nicht die Freiheit haben, in Sachen Schule und Ausbildung ohne Angst vor Strafe und ohne Angst davor, aus dem System herauszufallen, ihre eigenen Wege zu gehen, ist alle schulische „Mitbestimmung" nur eine erweiterte Aufforderung, doch bitte „mitzumachen". Man übergibt tatsächlich mehr Verantwortung, doch die grundsätzliche Unfreiheit der SchülerInnen bleibt. Hier ist eine ehrlichere Diskussion dringend nötig, denn die durch die Durchsetzung des Schulobligatoriums im Verlauf des 19. Jahrhunderts sanktionierte und zum allgemeinen Standard erhobene misstrauisch belehrende Haltung unseren Kindern gegenüber steht in einem so offensichtlichen Widerspruch zu unseren idealistischen Äusserungen über die Ziele, zu denen wir in unserer Schule erziehen wollen, dass wir entweder diese Rethorik über Bord werfen oder die Schule zu einer prinzipiell freiwilligen Einrichtung machen müssen. Wer glaubt, 10, 12 oder noch mehr Jahre in fabrikartigen Gebäuden systematisch zum Mit und Weitermachen erziehen zu können und sich danach über den Mangel an Zivilcourage bei den so erzogenen entsetzt ist im besten Fall naiv; im schlimmeren Fall ist er ein Heuchler oder ein Lügner. ...
1 Arendt, Hanna: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Reinbek 1978
2 Vgl. dazu die Angaben zum Stichwort Milgram Experiment in Wikipedia.de
3 Milgram, S.: Behavioral study of obedience. Journal of abnormal and social psychology, 67, 1963 S. 371-378
4 Vgl. dazu Stangl sowie Miller
5 Vgl. dazu das von Zimbardo zusammengestellte Bild- und Textmaterial auf http://www.prisonexp.org/german/indexg.htm, „das Stanford-Gefängnis-Experiment: Eine Simulationsstudie über die Psychologie der Haft", sowie Zimbardo, Philipp: The Lucifer Effect: Understanding How Good People Turn Evil (Random House, 2007)
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