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An Andres B., 19. Februar 1997, San Diego, Kalifornien

Lieber Andres! Inzwischen bin ich schon fast zwei Monate unterwegs. Ich war - nach 14-tägiger Seereise - eine Woche bei Mariann und Bill zwei Zugstunden nördlich von New York City; danach war ich eine Woche in New York City selbst und dann fast drei Wochen in Tennessee, in jener schwulen Landkommune, von der ich schon in der Schweiz gehört hatte, und die das erste grössere Ziel meiner Reise sein sollte. Von dort bin ich vor zehn Tagen in Richtung Houston, Texas, weitergereist, wo ich Dennis und Shelley und ihre beiden Kinder (6 und 8 jährig) besucht habe.

Dennis und Shelley kenne ich, wie übrigens auch Mariann, von der Ecole her. Mit Dennis habe ich einige Zeit lang gemeinsam am Geheeb-Nachlass gearbeitet. Wir wollten und sollten ursprünglich einen Band mit Briefen und anderen Dokumenten rund um Geheeb und seine Schulen herausgeben. Dennis ist dann aber in die USA zurückgekehrt, hat hier seine Diss fertig gemacht und eine Familie gegründet. Inzwischen ist er - seit 5 oder 6 Jahren - Professor an einer relativ bekannten und geachteten privaten Uni in Houston. Es war interessant, ihn dort - nach mehreren Jahren, während welcher wir keinen Kontakt mehr miteinander hatten - wieder zu sehen und einen Blick in seine Arbeitswelt tun zu können -, interessant und ernüchternd, was die Attraktivität dieser Arbeit angeht: Kaum Zeit für ernsthaftere Forschungs- oder Denkarbeit -, so gut wie keine Diskussionen über Sachthemen innerhalb seiner Fakultät -, ziemlich kleinkarierte Unterrichtsarbeit mit künftigen LehrerInnen -, kein weites und hitziges sich Emporschwingen der Gedanken, keine kritische Vertiefung und Fortentwicklung, so wie ich mir das immer vorstelle, wenn ich an Unis denke. Dennis selbst empfindet die Leere auch, doch was nützt das. Er hofft jetzt auf eine andere Stelle -, eine Stelle an einer Uni mit einem grösseren erziehungswissenschaftlichen Bereich und einem generell stärkeren Interesse an geisteswissenschaftlichen Themen, denn dort, wo er jetzt ist, scheint man sich zunehmend auf Biotechnologie und Informatik zu spezialisieren ...

Nach drei Tagen in Houston bin ich - Ende letzter Woche - nach San Diego weitergefahren. Hier bin ich am Samstag früh angekommen. Heute ist bereits wieder Mittwoch. Ich wohne bei Cathrin, der Frau bzw. Exfrau von Franck. Ich weiss nicht, ob Du Dich an sie erinnerst. Cathrin wohnt 50 Meter vom Strand, und wenn ich  in ihrem Höfchen sitze, so höre ich (neben dem Lärm an- und abfliegender Flugzeuge) in der Ferne den Pazifik rauschen. Ocean Beach - das Quartier von San Diego, in welchem Cathrin wohnt - hat viel Charmes: Wenig Verkehr, relativ wenig Tourismus (trotz idealem Surferstrand), eine richtige kleine Hauptstrasse mit diversen Geschäften und Beizen - alles sehr fussgängerfreundlich und von einer durchaus handhabbaren Grösse -, in vielem so gar nicht USA-mässig!

Ich habe den heutigen Tag sehr still und zurückgezogen zugebracht: habe ein wenig Tagebuch geschrieben, relativ viel Flöte gespielt (ich bin am Lernen eines neuen Stückes), war kurz draussen, um mir ein paar Shorts zu kaufen (habe keine gekauft, da sie mir alle viel zu gross und zu teuer waren), habe in meinem Hirnkasten gegrübelt, Kaffee getrunken, Radio gehört und wieder Flöte gespielt. Gestern hatte ich ein längeres Telefongespräch mit Andres H., meiner grossen Liebe von anno dazumal, das mich noch immer zu beschäftigen scheint. Ich denke viel an zuhause, an meine Wohnung, an Freunde, an Pläviggin. Ich bin in Gedanken überhaupt häufig dort bei Euch - viel mehr als hier scheint es! Es ist fast so als ob ich noch gar nicht weg bin von zuhause. Ich habe zwar dies und das erlebt, doch irgendwie scheint alles relativ belanglos, relativ äusserlich. Ich kämpfe im Grunde immer gegen ein Gefühl der Langeweile und der Leere an, und ich frage mich oft, weshalb ich eigentlich freiwillig in dieses Exil gegangen bin.

Oberflächlich geht es mir gut - akut abgestürzt bin ich bis jetzt nie -, doch, wie gesagt, so interessant dies und das auch ist, es scheint mit mir letztlich nichts zu tun zu haben. Es ist, als ob Du im Wartezimmer des Doktors sitzt und versuchst, Deine Nervosität und die Wartezeit mit irgendwelchen Heftchen zu überbrücken: Du liest dies und das, kuckst Dir die Bilder an, doch in Dir ist nur die Frage: Was ist wohl mit mir los? Was sagt der Doktor? - Ich versuche, zu geniessen, im Moment zu leben, an den Strand zu gehen, den warmen Sand, die Sonne  und die Wellen in mich aufzunehmen, versuche gelassen zu sein, doch so sehr ich es auch will - es gelingt nicht. "Was sagt der Doktor wohl?" - Ich habe eine Vorstellung, eine Ahnung davon, was mit mir los ist und was ich tun müsste, aber ich fürchte mich vor dem Eingriff ... Welche Pfeile habe ich in meinem Köcher? In welche Richtung soll ich meinen nächsten Pfeil schicken?

Ich könnte von hier aus für ein paar Wochen nach Mexico und Lateinamerika! Ich bin ja nur 10 KM von der Grenze entfernt. Ein paar Kassetten mit einem spanischen Sprachkurs hat Cathrin mir am Sonntag aus der Bibliothek mitgebracht. Doch: Nein. Ich habe keine Lust mehr auf Allein Reisen! Wenn jemand mit käme -, zu zweit, ja dann. Aber so. Nein. Zu öd. Zu anstrengend und zu langweilig.

Ich könnte hier bleiben, bei Cathrin. Nein. Zu einengend für meine Seele. Auch räumlich zu eng. Zu viel Staub, zu viel Unordnung, zu viel Spinnweben, und zugleich zu viel und zu wenig Cathrin.

Ich könnte zu Albert und Kim ziehen - fünf Minuten per Auto von hier - sehr ruhig gelegen! Auf einer Klippe über dem Meer. Zikaden, Vögel und das Rauschen des Pazifiks! Dazu ein schöner Garten mit Orangenbaum, Bananenstauden und allerlei anderen ungewöhnlichen Gewächsen. Ich war gestern dort, habe mit den beiden zu Abend gegessen und das ganze Haus und die Skulpturen von Albert erforscht. Nachdem Franck und Cathrin sich vor sieben oder acht Jahren getrennt haben, at Franck mit Albert und ein oder zwei anderen Leuten dieses Haus gemietet, und er hat noch immer ein Zimmer dort. Nur: Sein Zimmer ist an irgendwelche Sprachstudenten untervermietet, sodass ich dort nicht wirklich einen Raum für mich hätte, und gerade einen solchen suche ich! Ich habe genug vom unbehausten Leben, vom Leben aus dem Rucksack, vom ständigen Weiterwandern. Also auch das ist nicht das, was ich will, trotz Orangenbaum und trotz lieber Einladung von Albert und Kim!

Ich könnte nach Ohai, ein paar Stunden weiter nördlich von hier, könnte dort, im Krishnamurti Institut für ein paar Wochen ein Zimmer mieten, hätte meine Ruhe, hätte eine Bibliothek, hätte Frühstück und Abendessen, schöne Bäume, Sonne und ein paar Menschen, die wie ich wegen irgend einer inneren Sache dort sind, etwas tun oder sich erholen wollen. Ich kenne einen der Mitbegründer dieses Institutes, ein Schweizer, der vor einigen Jahren nach Ohai ausgewandert ist, und er würde mir wohl helfen, mich dort für einige Zeit einzurichten und anzusiedeln. - Ja, ich glaube nach Ohai wird mein nächster Pfeil fiegen -, ich glaube es, obwohl ich heute ganz stark an Pläviggin und ans Heimkommen gedacht habe. Ich will versuchen, mich für ein paar Wochen in Ohai niederzulassen, um dort "mein Buch" zu schreiben. Ich habe ja schon seit Jahren immer wieder davon gesprochen und daran gedacht, einmal das, was mir in Sachen Pädagogik durch den Kopf geht, zu Papier zu bringen, um mir selbst über meine Position klarer zu werden und diese Position auch einmal einigermassen differenziert nach Aussen sichtbar zu machen. Allerdings brrr! Ob das was wird! "Parturiunt montes ...", und was kommt dabei heraus? - Ich fühle mich unsicher und zwispältig in dieser Sache: Sollte ich mich nicht lieber ins Leben stürzen, äussere Abenteuer suchen, die Bücher für einige Zeit vergessen? Dieses ständige fixiert sein auf das Schreiben, auf Pädagogik etc. hat irgendwie etwas sehr ödes an sich, und ich habe Mühe, mir den "grosen" (oder auch nur einen Kleinen) Wurf zu glauben ... Aber das äussere "Heldentum", Reiseabenteuer etc. scheinen auch nicht zu stimmen. Ich muss wohl wirklich nach Ohai, muss es für ein paar Wochen versuchen, um zu wissen, ob es ein wertloser Furz oder ein Mäuschen oder wirklich ein brauchbares Buch ist, was da in mir herum spukt und meine Energie absorbiert. Vielleicht bin ich dann auch wieder im Stande, die äusseren Abenteuer zu geniessen.

Im Grunde bräuchte ich jetzt jemanden, der mich irgendwo einsperrt mit Papier und was ich sonst so zum Schreiben brauche, damit ich einfach mal anfange. Ich selbst drücke mich mit allen Mitteln um dieses Anfangen herum -, aber eben: Es ist wohl das, was jetzt fällig ist.

Ojai, Montag, 3. März gegen Abend: Ich bin gestern hier angekommen! Es ist alles da, was der Schriftsteller braucht, nur der Mensch, der mich einschliesst, der fehlt noch! - Ich habe ihr ein kleines Häuschen ganz für mich: Badezimmer, Küche, ein Wohnraum mit Vorräumchen -, Schränke, ein Telefon, draussen ein Tisch unter einem Baum mit zwei Stühlen -, hier drinnen ein breites Bett und 100 Meter weiter das Hauptgebäude des Ojai-Instituts mit Küche, Bibliothek und - höre und staune! - einem ausgezeichneten Flügel, der mir tagsüber fast uneingeschränkt zur Verfügung steht und den ich heute bereits reichlich traktiert habe!

Ich sitze am offenen Fenster - Geräusche der fernen Strassen und Vogelgezwitscher in meinem Ohr. Auf dem Fensterbrett steht ein kleines, jetzt stummes Radiölein, und neben mir eine Tasse lauwarmen Kaffees! Es ist wirklich alles da! Schreiben - auch auf meiner lauten Blindenschriftmaschine - kann ich Tag und Nacht, da niemand unter oder neben mir wohnt! Die grosse Küche im Haupthaus kann ich brauchen, wenn ich - mitten in der Nacht oder sonst wann - etwas will ... All das stell Dir vor in einer parkartigen Landschaft - Häuser und Hüttchen verstreut zwischen grossen Eukaliptusbäumen! Das ist das Ojai-Institut. Es wohnen verschiedene Leute hier - die Einen als reguläre MitarbeiterInnen, die Andern als Gäste oder inoffizielle Mitarbeiter oder "Freunde des Hauses". Olga, eine temperamentvolle Venezuanerin, die im Showbusiness arbeitet (d.h. Fernsehen, Film, Radio etc.), hat mich bereits als "aussergewöhnlich" entdeckt und für ein Interview engagiert; Judith, die einzige Amerikanerin, die hier bis jetzt aufgetaucht ist, hat mir von ihren Improvisationsprojekten (Theater, Musik, Kabarett) erzählt, Andrej, ein Russe, der hier mit seiner Frau so eine Art Hauswartsehepaar darstellt, möchte gerne Englisch lernen und Antony hat mich angefragt, ob ich im April an einer Konferenz über die Herausbildung einer neuen Kultur teilnehmen möchte ... Alles ist da, wie Du siehst -  sogar ein "computer-litterate" (computerkundiger) Vorleser! -, nur der Mensch, der mich einschliesst ... der fehlt ... noch.