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An Angelika O., 13. Januar 1992

Wie herrlich war's doch auf der Petersinsel, wie frühlingshaft und warm, und wie romantisch doch die Pferde grasten vor unsres Zimmer weiten Fenstern! Dir war zwar, was im Bett geschah - so schien es jedenfalls - recht fade, doch war es immerhin!

Liebe Angelika! Man müsste uns aufhängen oder zu den Bergarbeitern nach Uspekistan befördern und dort in irgendeine Grube schicken! -Dann hätte mein Gejammer schliesslich doch konkreten Anlass und bestimmten Grund! ... Doch so! Ich schäme mich geradezu, denn eigentlich ...

Wir sitzen doch wie MadInnen im Speck,
und essen diesen ungestört so vielen Andern weg!
Das müsste uns doch glücklich machen -,
doch schau Dich um! -, wen siehst Du lachen?
Mich - zumindest heute - nicht!

Ich denke nach und geh von hier zur Küche.
Dann schreib ich Dir, doch was? ... Nur Sprüche!
Nicht einmal zu ein paar gediegnen Zeilen
kann ich mich durchlangweilen!
Wie draussen still der Nebel zieht,
füllt Nebel auch mein altes Hirn.

Ich blicke hin, doch trotz Kaffee und sonst'gen Therapien -
die Nebel wollen sich auf keinen Fall verziehen!
Was ist des Lebens Sinn? Ich denk schon bald 10 Stunden lang darüber nach -
doch die Verstandeskräfte liegen brach -
Ein ödes Grau in Grau vorm innern Auge,
dunkelbraune lustlos abgestandne Lauge,
in der die Trümmer ehemaliger Gedanken
wie Leichen leblos auf und niederschwanken.
Was ist des Lebens - meines Lebens! - Sinn? ...
Wo ist der Olle nur schon wieder hin?
Kaum war er ein paar Wochen hier -
ist er schon wieder fort –
ist er bei Dir?

Ich schau mich um -
ich fühl mich dumm -
ich fühl mich alt
und in mir kalt!

Nur künstlich halt ich in mir einen kleinen Optimismus noch am Leben - so wie das Feuer in dem Ofen, das längst schon ausgegangen wäre, wenn ich nicht treulich ab und zu ein Scheit nachlegen würde!

Man könnte sich in solchen Zeiten doch ein wenig schreiben,
um so vielleicht die Nebel aus sich auszutreiben -,
man könnte sich auf diese Weise die Welten wieder schaffen,
nach denen wir im Nebel glücklos gaffen!
Man könnte beispielsweise von den Taten schreiben,
die einem sonst so durch das Leben treiben,
man könnte von den Zielen sprechen,
für die wir manchmal unsre Lanzen brechen,
man könnte so das inn"re Feuer schüren,
auf dass wir uns erneut als tät'ge Menschen spüren!

Angelika, Du gute Seele,
es reicht wohl nicht, dass ich mich quäle!
Nun musst auch Du noch in den Nebeln irren,
die mir so schmählich Kopf und Herz verwirren!

Ach wär ich doch ein Held, der siegreich alle Hindernisse überwindet,

die er auf dieser Erde findet!

Ach hätt ich doch ein Herz, das immer froh und mutvoll wäre ...

Angelika, Du Kluge! Woran glaubst Du in diesen Tagen,
in denen es so schwer scheint, irgendeinen Glauben überhaupt zu wagen ...

Die Menschheit durch Erziehung bessern -,
den Strom des Längst gesagten durch erneutes Sagen noch einmal verwässern?

Der Welt als Green-Piece-Angestellter die Leviten lesen ...

Es war wirklich ein mühsamer, langweiliger, unproduktiver Tag heute. Ein Tag zum Wegwerfen. Ein Tag, an dem ich im Grunde nichts tue ausser gründlich an dem zu zweifeln, was ich sonst so tue und meistens ja auch gut und richtig und - hin und wieder sogar - wichtig finde. Einen Teil - einen "Auszug" - aus diesem Tun lege ich Dir bei, damit Du siehst, dass ich manchmal doch noch einigermassen bei Trost bin. - Ja, Trost! An sonsten laboriere ich immer noch (oder wieder) an der alten Geheeb-Biographie herum, ein meist ziemlich zähes Unterfangen, manchmal ein wenig friedlich, gemütlich, oft mit dem Beigeschmack des belanglos Langweiligen ...

Vergangene Woche habe ich mich einer Theatergruppe in Zürich angeschlossen ‑ Verwirklichung eines seit Jahren in mir lebenden Traumes, an den ich während der Weihnachtstage wieder einmal intensiv gedacht habe! Wir wollen im Laufe dieses Jahres in demokratischem Miteinander ein Stück entwickeln und auf die Bühne bringen, von dem zur Zeit lediglich eine sehr allgemeine Idee vorliegt: das erste Treffen hat mich neugierig und hoffnungsfroh gemacht! Vielleicht liegt hier der Keim eines neuen Lebens, das sich aus dem gegenwärtigen herausarbeiten will - und muss, wie mir oft scheint!

Nun ja - würde ich Dir gerne noch Renzo vorstellen - the new man in my life - ... nur wie die heikle Materie anrühren und das Thema ins Feld führen? Er ist ein ganz lieber Mensch, ein wahrer Segen für mein Herz! Dies je länger desto mehr. D.h. seit einem Jahr immer mehr! Ganz wunderbar. Nimmt mir mein Gefühl nicht, "beruflich" an einem toten Punkt (Wendepunkt?) angekommen zu sein, nimmt auch nicht die Notwendigkeit, mich mit diesem Gefühl fühlend und denkend auseinanderzusetzen -hilft dabei, auf Grund seiner Natur und seiner eigenen Lebensbedrängtheit auch wenig - erfüllt mich aber immer wieder mit grosser Freude und Dankbarkeit! O diese Liebe - diese gute Liebe! Ja! Dass ich die erlebe, das ist ein wirkliches Geschenk! O Wendepunkt, o Nebel! O Sackgasse und Verlorenheit! O Liebe!

Jetzt, liebe Angelika, schreib mir, wie Du lebst, was Du so tust, was dich umtreibt und was Du deinerseits um- und anzutreiben versuchst? Schreib mir, wie Du gerne leben, was Du gerne arbeiten würdest, wenn du könntest, wie du möchtest! - Dann schreib mir auch, was ich tun soll. Setz dich an das Steuer meines Lebensschiffchens und bringe es durch ein paar kluge Worte wiederum auf Kurs! Nur dieses erwarte ich von Dir - Nur dieses!

Ich bin tatsächlich neugierig zu vernehmen, wie's Dir geht und wo Du auf Deinem Lebensweg inzwischen angelangt bist! Wenn Du magst, dann setz Dich mal hin und schreib oder komm - wenn Du in der Nähe bist - wiedermal vorbei, gell?

Indem ich Dir für dieses noch immer ziemlich neue Jahr ganz ganz viel Gutes und Schönes wünsche grüsse ich Dir aus nebligem Winterort ganz herzlichst und so innig es eben geht in solcher Zeit!