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An Anja M., im Dezember 1989

Liebe Anja! Auf den diversen Papieren, auf denen ich immer aufschreibe, was ich in absehbarer Zeit noch tun muss oder will, steht auch "an Anja schreiben". Dabei empfinde ich dies nicht als "Muss", sondern im Grunde als Freude, denn über Deine letzten Briefe und Karten habe ich mich immer sehr gefreut: da klang so viel "neue", für mich mich neue und sehr "schö­ne" Anja durch -, eine eher verwirrte, fragende Anja, eine die nachdenkt, die nicht verletzen, aber doch nicht auch zu allem ja und Amen sagen möchte, die Stellung beziehen möchte ohne hart oder engstirnig oder ungeduldig oder humorlos zu sein oder als hart, humorlos etc. empfunden zu werden.

Ja dieses fragende hat mir sehr gefallen, auch dass Du einmal geschrieben hast, du wollest versuchen toleranter mit den Menschen zu werden (so habe ich Deine Worte in Erinnerung). Dabei geht es mir nicht darum, dass ich jemanden "auf meine Seite" gekriegt habe (im Gegenteil, es ist mir sehr recht, wenn Du dich nicht so einfach überall hin zerren lässt), nein: ich habe einfach tolerante Menschen unheimlich gerne -, nicht aus irgendwelchen philosophischen Erwägungen heraus, sondern ganz einfach als jemand, der selbst immer wieder ganz stark auf die Toleranz, das grundsätzliche Wohlwollen und die Sympathie der Andern angewiesen ist und zwar vor allem dann, wenn ich nach aussen vielleicht nicht besonders sympathisch und ideal etc. wirke -, besonders dann. Dabei bedeutet Toleranz für mich vor allem die Bereitschaft mit dem Andern auch dann im Gespräch zu bleiben, wenn ich ihn (Mann oder Frau oder Kind oder Gruppierung, Kultur etc.) nicht verstehe, wenn das Verstehen nicht leicht fällt. Im Gespräch bleiben, weiterhin verstehen wollen, es zumindest immer wieder versuchen, das ist für mich Toleranz. Damit verbunden scheint zu sein der Verzicht auf abschliessende Urteile, nicht nur auf negative, auch auf positive. Nicht mit dem Begriff der Toleranz verbunden ist für mich eine Art von Neutralitätspolitik, bei der man sich aus allem "raushält", keine Meinung hat und keine Stellung zu beziehen sich getraut, sondern zu allem "Ja" sagt.

Nun - ich wollte eigentlich gar nicht so tiefsinnig werden, sondern Dir nur mal kurz hallo sagen und eben: Freude habe ich gehabt an dem, was Du mir in den letzten Monaten geschrieben hast, an Deinem Fragen und Nachdenken und Suchen und Wollen! - Ich wollte Dir das schreiben, weil ich vielleicht noch länger nicht zu einem "richtigen" Brief kommen werde, und statt ewig auf das Vollkommene zu warten ist's doch manchmal besser, sogleich das unvollkommene in die Tat umzusetzen.

Jetzt will ich weitermachen mit meinem grossen Schreibtischaufräumen - zu Ehren des zu Ende gehenden Jahres und zu Gunsten des kommenden. Ich hoffe Du hast das neue Jahr gut begonnen. Ja: möge es Dir und Michael viel Freude bringen, so viel es eben zu bringen vermag! Freude, Fröhlichkeit, Kraft, auch die Kraft, schwieriges, unklares, langsames und dunkles mit einer gewissen Gelassenheit auszuhalten. - Für Euer Paket übrigens noch vielen Dank: der Ring und der Tannzapfen hängen ganz dekorativ an der Palme, die Du mir vor zweieinhalb Jahren (ist das schon so lange her!!!???) mitgebracht hast. Diese steht frohgemut an ihrem Winterplatz in meinem Zimmer und gedeiht fröhlich vor sich hin. - Die Schokolade ruht auf dem Regal zu ihrer Linken und harrt der Zähne die da kommen werden! - Ciao Anja - bis bald wieder.