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An Bertrand S., 14. Dezember 1993

Lieber Bertrand! Hab Dank für Deine Karte von vor ein paar Wochen. Bertrand -, es gibt mich noch. Dass ich mich anlässlich meines Besuches in Witten Mitte November nicht mehr bei Dir gemeldet habe, ist lediglich Ausdruck der ziemlich überfrachteten Tage damals. Ich nahm an, dass Du nicht auf mich warten würdest, wenn ich mich nicht noch einmal mit Euch in Verbindung setze, um etwas Genaueres zu vereinbaren. Dennoch hätte ich Dich natürlich über mein Nichtkommen unterrichten können und müssen.

Ich bin in diesem Jahr nur für anderthalb Tage - im Grunde nur für drei Sitzungen - nach Witten gefahren, da ich Samstag (20. Nov.) bereits wieder in Zürich sein musste. Ich bin dort seit August regelmässig und phasenweise sehr intensiv als freundschaftlicher Berater beim Aufbau einer Schule tätig. Dazu kam in der ersten Novemberhälfte die Schlussredaktion der letzten Ausgabe von "endlich!", sowie die GV der Vereinigung Freier Schulen der Schweiz und - von 23. November bis zum 8. Dezember -eine relativ kurzfristig angesagte Reise in die USA, wo ich einer Freundin, die dort (Cambridge, MA) ab Januar 94 studieren will, geholfen habe, sich einzuschreiben, eine Wohnung und die Hilfe zu finden, die sie als blinde Studentin brauchen wird. Davor - im Oktober - war ich für eine Woche - ganz privat und ferienhalber! ‑ in Peschici (Gargano, Italien) und für eine weitere Woche - als pädagogischer Redner - in Wroclaw (Polen). - Reiche, spannende Zeiten ...

Gewiss. Ich hätte Dich auch gerne getroffen, um mit Dir über dies und das zu sprechen. Nicht nur über das "endlich!"‑Nachfolgeprojekt, von welchem Dir inzwischen offenbar auch Uli Klemm erzählt hat. Auch sonst bewegt sich Vieles in meinem Leben, wobei zur Zeit vor allem Vieles aufhört und von mir abfällt, was mich in den letzten Jahren ausgefüllt und beschäftigt hat. Das Ende von "endlich!" ist Eines; der Austritt aus dem Vorstand der Vereinigung Freier Schulen der Schweiz ist ein Zweites. Dazu kommen der misteriöse Kollaps des (Schweizer) "Initiativkreises für Freiheit im Bildungswesen" und mein allmählicher Rückzug aus dem (in Witten beheimateten) "europäischen Forum für Freiheit im Bildungswesen" ... alles in allem also eine Art Abschied von der Pädagogik oder besser ein Abschied vom (alternativ)-pädagogischen Funktionärsdasein, das ich in den letzten 3 bis 4 Jahren geführt habe.

Zu der inneren Veränderung kam in diesem Herbst die Nachricht, dass Urs und ich im Frühjahr 94 ausziehen müssen. Hausverkauf, Renovation, Mietsteigerung, Eigenbedarf ... Innen und Aussen heisst es deshalb zur Zeit: "Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!"

Ich bin sehr neugierig zu erfahren, was das Leben mit mir vor hat und wo's mich in den nächsten Monaten hintreiben wird - innerlich, in Bezug auf meine Arbeit, und äusserlich, in Bezug auf das Wohnen. Sofern sich bis Ende März keine andere Lösung ergibt, werde ich, im Sinne einer Zeit des Rückzugs und der Besinnung, ab April für ca. ein halbes Jahr in den Bündner Bergen zwischen Schneeglocken, Kühen, Melkmaschinen und Scheitstöcken leben ... Ob es wirklich so wird, und ob ich dort oben tatsächlich, wie ich's mir jetzt so romantisch denke, meine lang versprochene Geheeb Biographie oder meinen pädagogischen Best-Seller "Aus eigener Erfahrung" schreiben werde, wird sich zeigen.

Du siehst, es gäbe einiges zu erzählen - rück- und vorausblickend - Einiges über gewesene und Einiges über künftige Dinge. Kommunikation und Begegnung. Du hast in Deinen letzten Briefen immer wieder danach gefragt und wünschst sie Dir! Ich auch, lieber Bertrand. Wann wird es sein? - Verzeih mein vielleicht rüdes Benehmen im November. Vielleicht ist das Schicksal uns endlich doch wieder einmal gnädig und eines unserer Begegnungsprojekte wird plötzlich Wirklichkeit! Sicher erhöht sich die Chance, wenn in mein Leben etwas mehr Ruhe eingekehrt ist!

Für heute sei ganz herzlich gegrüsst und mit vielen guten Wünschen

für die kommenden Festtage und das schon wieder vor der Tür stehende neue Jahr eingedeckt von Martin N.