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An Bertrand S., 10. März 1992

Lieber Bertrand! Nein nein. Nicht gekränkt! Don't worry. Hingegen leidend. Nicht physisch, aber geistig. Leidend an Zerstückelung und Aufreibung in den Rutinen meines Daseins ... Wie heisst es doch: wir sind sehr beschäftigt, aber wir tun nichts. - So kommt mir mein Dasein seit langem vor.

Ich bin wirklich ziemlich beschäftigt, leide aber dennoch sehr oft am Gefühl, im Grunde nichts zu tun. Es ist, als ob der tägliche Kleinkram mir zu wenig Zeit lässt, zum Kern dessen, was ich tue vorzudringen und in diesem Sinne dann wirklich etwas zu tun. Ich hoffe, dass die Erkenntnis dieser Situation und der wachsende Unmut über sie mir helfen, mein Leben nach und nach so umzugestlaten, dass ich wieder mehr Raum und Musse für die Dinge und Fragen haben, die mir wirklich wesentlich sind. Dazu gehören auch die Fragen, die von Dir her immer wieder zu mir rüberwehen ... auch in Deinem langen Brief zum Jahresanfang, auf den ich Dir irgendwann einmal ausführlicher antworten will ... Irgendwann einmal ... Nein. Ich sage lieber: bald einmal!

Heute nur kurz zu Deiner Karte. Ich habe mit Theres von Salecina vereinbart, dass ich mir überlege, wie wir für Dein Seminar werben können bzw. was ich dazu tun kann, sobald die Ausschreibung vorliegt. Die scheint nun heute bei mir eingetroffen, und spätestens Ende Woche, wenn meine Vorleserin wieder kommt, werde ich sie mir zu Gemüte führen. Danach werde ich mit Zeitungsredaktionen, Schulblättern etc. und mit interessierten Institutionen Kontakt aufnehmen und sie bitten, auf das Seminar aufmerksam zu machen. Gleichzeitig will ich dort, wo mir dies sinnvoll erscheint (die Uni Bern gehört mit dazu) die Möglichkeit ansprechen, Dich vor oder nach der Woche in Salecina für einen Vortrag oder etwas ähnliches einzuladen. Wie ich in diesen Dingen genau vorgehe kann ich erst sagen, wenn ich die Ausschreibung kenne. Es wird jedoch etwas geschehen und zumindest im Hinblick auf Salecina bin ich optimistisch: es werden Menschen da sein. Ansonsten: nun, wir werden sehen. Was Termine angeht, so fürchte ich, dass wir hier erst im April oder Mai konkret zu verhandeln beginnen können, aber, wie gesagt: Wir werden sehen. - Wenn ich für diese Aktionen noch was von Dir brauche, dann werde ich es Dir mitteilen. Auch über den Verlauf der Aktionen berichte ich Dir, wenn es was zu berichten gibt.

Für heute ... Ja. Schon wieder Schluss. Ich muss noch auf die Bank und danach einkaufen, um David heute abend anständig bewirten zu können. Dann sollte ich mich innerlich einmal mit dem nächsten "endlich" befassen, in dem wir über das dänische Bildungswesen berichten wollen. ... Und auch hier, wie das Gebrumm eines kleinen Flugzeuges weit weg - die zweifelnde Frage: was interessiert Dich daran wirklich? Was ... Brr! - Paul Geheeb - die Bestandteile seiner Biographie füllen einen guten Teil meiner Festplatte! - hat von den Kindern als der grössten unterdrückten Minderheit gesprochen und plädierte in seinen Schriften immer wieder für eine "völlige Abrüstung der Erwachsenen" gegenüber den Kindern. Und dann: was ist aus ihm geworden? Einer der präsentabelsten Reformpädagogen Deutschlands, der Leiter einer der bekanntesten Reformschulen ... ein "guter Pädagoge"! Wie schrecklich! ... Er winkt mir aus den Tiefen meines PC entgegen. Aber ob ich heute noch Zeit haben werde für ihn? - Wohl kaum!

So. Jetzt aber wirklich Schluss. Leb wohl und sei zusammen mit Anita ganz herzlich gegrüsst! Wir hören wieder voneinander, wenn es Zeit ist!

Ich wünsche Euch einen ganz wunderbaren Frühlingsbeginn!