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An die Familie, die Freunde und Freundinnen, Bekannte und Verwandte, Ende Dezember 1995

Ihr Lieben alle - Freund und innen Be- und Verkannte, Ab und zu und nicht Verwandte! Bruder Thomas und Familie haben dieses Jahres erstmals "anstelle einer 'relativ' nichtssagenden Weihnachtskarte" - die Ihr von mir ohnehin nicht bekämt! - einen Rundbrief mit einem Jahresrückblick verschickt ... - Die Sache hat mich interes­siert, und jetzt sitz ich schon seit ein paar Tagen da und denke darüber nach, ob vielleicht auch ich soll oder ob ich lieber nicht oder schon aber anders soll. Noch ist die Entscheidung nicht gefallen, denn natürlich muss Alles immer erst gründlich abgewogen werden, bis man dann - wenn man des Abwägens müde geworden ist - endlich irgend einen Entscheid fasst -, meist natürlich nicht den richtigen oder den, den man für richtig hält, sondern halt gerade den, der in dem Augen­blick der Erschöpfung gerade oben aufschwang bei der Alles in Allem doch recht anstrengenden Abwägerei. Man drückt dann also den roten Knopf oder drückt ihn halt nicht, gerade wie's so kommt.

Nun ja. Jahresrückblick! Es ist ja wirklich so: Man hat dauernd zu tun, dass man sich nur noch auf Geburtstagen und zu Beerdigungen trifft und bald wird man auch darauf noch verzichten müssen, denn, je mehr man tut, desto mehr Unerledig­tes sammelt sich an und desto zäher klebt man am Gedanken fest, dass man diese Woche leider nicht - leider! - und nächste leider auch nicht ... obwohl man natürlich wieder einmal sollte - sich wirklich einmal wieder besuchen oder schreiben oder anrufen oder faxen oder e-mailen sollte - unbedingt! Z.B. Dir, Eric, dort hinten im eisigen la Chaux-de-fonds oder Dir, Christian oder Barbara oder ... Also denn ein Rundbrief, eine Art Telefonkonferenz mit Euch Allen oder eine grosse Party im Kopf!

Was habt Ihr denn Alle so getrieben? Christian ist aus Norwegen nach Bern zurückgekehrt - nach fast 20 Jahren! Und ich habe noch "keine Zeit" gefunden, Dich einmal anzurufen! Pfui! Schäm Dich, Martin! - Und Hachi, an dem ich noch pädagogisch herumgewerkelt habe - damals in der Ecole - hat sich ein ganz nah von Aarau ein Riesen Haus gekauft, und ich war noch nie dort ... Pfui schäm Dich -Hachi! Und ... Tja. Man hat ja nie Zeit. Man muss ja immer einen Artikel schreiben - schreibt ihn dann zwar meist doch nicht, aber eben!

Ja gut. Jetzt also ernsthaft hineingebissen in die süss-saure Frucht dieses Jahresrückblickes. Wo war ich denn am 1. Januar, als das Ganze anzufangen vorgab? Vielleicht in Reinach bei Johanna - nicht als Untermieter, sondern viel eher (und sehr wörtlich) als Gast unter ihrem Dach? Man muss das schon gesehen haben: viel getäferte Dachschräge, eine Dusche und ein kleines Schlafzimmerchen, ein grosser Raum und überall Luft und Aussicht - Aussicht auf die nahe bewaldte reinach‑münchensteinerne Flanke des Bruderholzes mit seinen stillen Wegen hinauf zu Licht und Sonne und Gartenlokal! Aussicht über viel ungeordnete Zivilisation hinüber zum Gempen und zum Goetheanum, der Hochburg der Anthroposophen, und - vorne raus ‑ Aussicht auf Schrebergärten und ebensolche Menschen, ihre parkierten Autos und Gartenhäuschen und Grills und Lampions und Bäume und Beete. Wirklich viel Aussicht. - Vielleicht hat das zu Ende gehende Jahr dort begonnen - vielleicht auch auf dem Hasliberg bei Muttern, wo es seit dem Auszug von Vatern einsamer und trauriger geworden ist, wo das Leben jetzt aber - seit einiger Zeit - langsam, langsam wieder weiterzugehen scheint nach einer langen Zeit des Schmerzes, des Fluchens und Trauerns und Nichtverstehens. - Ich soll (und will) ja nicht über Andere und deren Gemach und Ungemach schreiben -, doch in diesem Fall: Die Trennung meiner Eltern nach fast 40 Ehejahren - das hat schon auch mein Leben beeinflusst - auch noch in diesem Jahr, und davon nicht zu sprechen macht die Sache ja nicht besser. Wohl nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen Andern, welche die Beiden gekannt haben und noch kennen, hat diese Trennung viel an eigenen Gedanken und Gefühlen ausgelöst - viel an Nachdenklichkeit über "Liebe", "Beziehungen" und ganz allgemein Lebenssinn und -haltung ... Natürlich: Gemessen an dem Elend, welches wir überall in der Welt sehen, wenn wir nur ein wenig über unsern eigenen Tellerrand hinausguggen, und gemessen an dem Chaos, welches wir überall entdecken, wenn wir nur ein wenig hinter die scheinbare Ordnung unseres gesellschaftlichen Lebens denken - gemessen an alle dem sind diese Liebessachen ‑ mögen sie für die Beteiligten auch noch so schmerzlich und schwierig sein - ein Klaks - aber eben - auch ein Klaks kann einem manchmal fast umbringen, fast erdrücken! Und - so richtig es in gewissem Sinn auch ist - sich überhaupt nicht ernst zu nehmen angesichts der grossen Dinge dieser Welt - so wichtig ist es auch, sich ganz ganz fest ernst zu nehmen - gerade auch angesichts der grossen Dinge dieser Welt! . . .

Aber was red ich! Wie ein verhinderter Pfarrer! Schöne Gedanken in die Luft hinaus sprechen, die Worte wie Vögel über den Köpfen der lieben Gemeinde kreisen lassend, auf dass die Erde besser werde! Aus allem und jedem und Stücklein Philosophie und Selbst- und Wleterkenntnis machen! Ja ja. Es wird wohl nichts mit diesem Rundbrief! - Auch das Tempo lässt zu wünschen übrig! Es geht hier genau wie mit meiner Biographie über Paul Geheeb, an der ich - das hat sich inzwischen sicher schon bis in die fernsten Winkel meines "sozialen Netzes" -ja ja, ein solches Wort wird hier verwendet! Soziales Netzgefüge, das wir Menschheit nennen, und Du mit uns! - ... Also - wo war ich stehen geblieben bzw. wo bin ich vom Wege abgekommen? Ja eben, die Biographie. Es geht mir mit dem Rundschrei­ben hier genauso wie mit obgenannter Biographie, der ich seit Jahren schon einen Grossteil meines Seufzens und Stöhnens und mich Freuens und Klönens widme! Je mehr ich schreibe, desto weiter rückt das Ziel von mir ab und desto mehr verirre ich mich in immer tiefere Tiefen des Daseins oder laufe wie ein Irrer im Kreis herum. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste - das ginge ja noch. Aber man kommt von dort nie mehr zurück, denn im "Tausendsten" stecken wieder tausend Möglichkeiten und immer so fort, wie im Lied vom  Coiffeurgestühl, in welchem Mani Matter seiner Zeit das metaphysische Gruseln erlernte als er im vor ihm hängenden Spiegel den hinter ihm hängenden Spiegel mit dem Bild des vor ihm hängenden Spiegels sah, in welchem er den hinter ihm hängenden Spiegel sah und immer so weiter, tausend Mal und immer sein Kopf drin, klein wie eine Stecknadel und noch kleiner und noch kleiner - so klein wie diese Quarkse in den Teilchenbeschleunigern, die wir unsern Forschern immer auf Weihnachten schenken, seit sie mit einer Spielzeugeisenbahn nicht mehr zufrieden sind! - Also so wie dem Mani Matter ... Gut. Jetzt zurück zum - wo waren wir stehen geblieben!

Johanna und Reinach. Da bin ich ja im März 1994 hingezogen als die "Gesetze des Immobilienmarktes" und eine zu Ende gelebte WG-Zeit mit Urs uns aus der alten Wohnung an der Landkronstrasse ausziehen und nach neuen Heimaten suchen liessen. Johanna, die Gute, hat mich damals gastlich unter ihrem Dach aufgenommen ‑, ein grosses Geschenk von einem mir seither lieb gewordenen Menschen! - Wir haben uns sogar (das geht wohl aus diesen Andeutungen hervor?) gut vertragen, und als ich in diesem Sommer wieder auszog - diesmal in eine richtige, pompöse Wohnung mit Bad und Balkonen -, da haben wir uns sogar richtig zu vermissen angefangen!

Ja und gemacht? Hast Du denn auch etwas "gemacht"?, höre ich Euch fragen während Ihr Euch räkelt und heimlich kuckt, wie lange diese Schreiberei denn noch dauert. - Gemacht. Ja, schon, aber soll ich das jetzt aufzählen? - Gut. Ich will's probieren. Schön chronologisch und in Stechworten, damits voran geht mit der Geschichte!

Januar 1995: Unterm Dach gesessen; festgestellt, dass Geheebs pädagogische  Anliegen das ist, was mich an seinem Leben (und damit an meiner Biographie über ihn) am meisten interessiert. Beschlossen, bei meinem Schreiben zielstrebig auf diese pädagogi­schen Dinge zuzusteuern und allen historischen Detailkram einfach zu übersprin­gen, zu ignorieren und weg zu pusten, um nicht in ihm zu ersticken.

Dann hab ich mich fürs Landmark-Education Forum angemeldet, eine 4-tägige Selbstfindungsübung, die Durchbruch, Zielsicherheit, Neubeginn, Vitalität und Glücksfähig­keit und alles was du sonst noch brauchst fürs Leben verspricht - nach längerem Zögern und Abwägen natürlich.

Februar 1995: Habe an eben dieser Veranstaltung teilgenommen. Die Sektengurus der Schweiz sprechen bei Landmark von einer "weichen Psychosekte". Freund Frank aus alter Ecole-Zeit (jetzt lebhaft in Paris!) hat am Telefon mit mir ge­schimpft, dass ich solchen Betrügern mein Geld zutrage, war aber auch ganz lieb besorgt und versprach, mich nicht so schnell aufzugeben, wenn er mich würde abdriften sehen! Die vier Tage waren - interessant, auch gut für mich, ohne dass die Lebensprobleme, die mich dorthin geführt haben, seither gelöst wären. Aber - so ein Stück mehr Klarheit und Energie hat's schon gebracht dieses "Forum". Im übrigen - Februar -, das ist doch schon ziemlich lange her!

März 1995: Siehe Januar, nur dass ich bereits wieder ziemlich tief im historischen Staub und Detailkram gesteckt und entsprechend nur noch sehr langsam vorangekommen bin (wie ein Auto im Sand!). Geheeb dürfte damals ungefähr 25 gewesen sein!

April 1995: Jetzt gibt's mal was "richtiges" zu erzählen. Ich war nämlich zum ersten Mal in England. Ich war 14 Tage mit Gil - einem jungen alten Kämpfer aus der Alter­nativschulszene! - unterwegs. Zuerst ein paar Tage in Oxford an einem Kongress des "European Forum for Freedom in Education", an welchem viele kluge Herren in wohlformulierten Referaten in einem herrlichen, fensterlosen Raum sehr gelehrte Dinge über die Notwendigkeit der Freiheit und andere kühne Dinge gesagt haben. Herrlich war's. Auch die Architektur, die jetzt noch dort ist, während die Mitglieder dieser Kongresses wieder abgefahren sind, was Gil und ich auch mit frohem Herzen taten, und zwar in Richtung Nord Devon. Dort verbrachten wir einen Tag am Meer, wo wir zwischen und auf den Felsen herumkletterten, welche dort am Fuss der riesenhohen Klippen die vom Atlantik kommenden Wellen im Empfang nehmen. Es war die beste Erholung, die wir nach Oxford hätten finden können und für mich das stärkste Erlebnis in diesem Jahr! Dann runter nach Süd-Devon: Knappe zwei Tage im Schumacher-College um dieses kennenzulernen. Alternatives Erwachsenenbil­dungsangebot, ähnlich vielleicht wie es in den mehrwöchigen von dänischen Vorbildern inspirierten Volkshochschulkursen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts an vielen Orten versucht wurde: Ein paar Wochen miteinander leben und sich gemeinsam mit einem aktuellen Thema unserer Zeit befassen. Dort oben mit Fragen einer "neuen Ökonomie" mit "ökologischem Bewusstsein", mit "Spiritualität und Politik" u.ä.. Spannend. Wohltuend. Es gibt noch Menschen, die nicht ganz resigniert und gleichgeschaltet und noch nicht emigriert sind! Das ist sehr gut zu wissen! - Nach Schumacher-College - den Wodka und all die Gespräche, den sehr friedlichen Ausflug quer durch das Gelände von Dartington Hall und all die andern Details lasse ich mal weg - nach dem Schumacher-College also autostopten wir, von den für diese Art der Fortbewegung zuständigen Götter und Heiligen äusserst gütig betreut, in Richtung London. Schauten uns unterwegs noch die Krischnamurti-Schule in Broakwood Parc an, sprachen mit ein paar dortigen Menschen ohne jedoch, wie wir es eigentlich gewollt hatten, das Schulleben miterleben zu können. Die dort gewonnene Zeit benützten wir dann dazu, Michele Sani, der seit einiger Zeit bei World-Television-News in London arbeitet, auf die Nerven zu fallen, was er mit grosser Gelassenheit ertrug und sogar zu geniessen vorgab! London! Busse! Ein alter Friedhof mit vielen umgefallenen Grabsteinen. Die Suche nach einem schnurlosen Telefon, mit dem wir (ohne viel Geld auszugeben) in der Schweiz Eindruck machen könnten. Völkergemisch. Riesige Gegenden, in welche die Polizei sich nicht mehr reintraut aus Angst vor den Menschen, die sich dorthin zurück-und zusammengezogen haben. Micheles harmlos freundliche Strasse in einem stillen Teil Londons, der noch immer halb in den 30er Jahren zu stecken scheint, dann ... - Gut, gut. Weiter. Der Brief wird ja sonst unendlich lang! Micheles Bier- und Sirup-Vorräte, die Gespräche - 6 Menschen irgendwie hin gequetscht zwischen Fenster und Kühlschrank und Tisch, dazu Zigarettenqualm und aktuelle Aufklärungen über die Organisation, die Formatierung und den Vertrieb von Fernsehnachrichten ... das war London! Dann tschutschutschu wieder heimwärts mit Bahn, Schiff und wiederum Bahn. Viel Kanal und Frankreich und gute Vorsätze, das Erlebte in Form einiger Artikel aufzubereiten, um es der Welt zugänglich machen zu können! Die "eigene Zeitung", das "endlich!" erschien ja im Dezember 1993 zum letzten Mal, aber bei den freundschaftlichen Beziehungen zum Nachfolgerblatt "unterwegs" wäre eine Veröffentlichung immer möglich! Aber eben. Vorsätze. Gil hat stattdessen das Parteiprogramm der in Gründung begriffenen "Jeunesse Europe" (oder so ähnlich) redigiert, sein Sprungbrett in den Nationalrat, das man, wie ich höre, wieder abgebaut und eingemottet hat, nachdem aus dem Sprung trotz eines brutalen Wahlkampfes nur so ein Hupferl geworden ist. Schade und toll zugleich! Wieder einmal war ich gereist, hatte andere Menschen getroffen, hatte von Veränderungen geträumt, und "Anderes" - zumindest als Möglichkeit - gerochen! Ja. April! Du darfst in ruh zu Bette gehen. Du warst ein guter Monat!

Mai und Juni 1995: Hab ich nicht Stechwörtchen versprochen, von wegen des Tempos der Voranschreitens der Erzählung?! Da sieht man's ja wieder, was diese Versprechen wert sind! -Also. Mai. USA geflogen (obwohl ich mir - apropos Versprechen - vor ein paar Jahren ja mal versprochen habe, NIE MEHR ohne wirkliche, grosse Not in ein Flugzeug zu steigen und mich an diesem Ökowahnsinn zu beteiligen!) - USA. Schifffahren "dauert zu lange" und "ist zu teuer".

Boston. Cambridge. Ein paar Wochen bei Pina in ihrer WG. Intensive Eindrücke von Pinas Leben und Arbeit am Lesley-College zu dieser Zeit. Auch intensive Eindrücke von Josh und Maria, den beiden WohnpartnerInnen von Pina. Auch Verkehr. Ventilatoren, Geräusche und Gerausche all überall!

Eine ganz tolle, erholsame Woche in upssate New York bei Mariann und Bill verbracht. Ganz ländlich! Idyllisch. Mit einem 85-jährigen Waldorf-Teacher (sprich Steiner-Lehrer) gesprochen, der ca. 1947 aus Europa in die USA emigriert ist und mir aus seinem Leben erzählte. Viele gute Gespräche mit Mariann, die ich seit fast 10 Jahren nicht mehr gesehen habe, und Bill, den ich bis dahin noch kaum kannte: Gespräche über unsere gemeinsame Vergangenheit (Ecole, Wohngemeinschaft in Riehen etc.), über Steinerpädagogik ... Genau. Keine Einzelheiten. Weiter! Wieder Cambridge. Schwulensze... - keine Einzel­heiten. Weiter!

Dann plötzlich und heftig der Wunsch, wieder heim zu gehen. Geheeb rief, und meine Klause unterm Dach und Oma Kriens (meine Tross­mutter väterlicherseits), die am Tag vor meinem Abflug in die USA von der Wohung, in der sie über 60 Jahre lang gelebt, geliebt, gelitten, gelacht, gekocht, geschimpft, gestrickt und alles andere, was man während eines langen Lebens so tut, gemacht hatte ins Pflegeheim umgezogen war, um dort, wie sie sagte (und seither immer wieder sagt) zu sterben - wenn es denn endlich Zeit dafür wäre!

Den Durchbruch, den erhofften grossen Energiestoss haben die 5 Wochen in den USA nicht gebracht. Im Gegenteil: Die ländlichen GlücksucherInnen und GlückbauerInnen waren zwar wohltuend, doch das gestresste urbane Ostküstenleben hat mich eher erschreckt in meinem Gemüt, sodass ich froh war, mitte Juni wieder zuhause zu sein! - Die Arbeit, die ich mitgenommen hatte, war ein wenig voran­gekommen während der Zeit -, aber - oje! - wie langsam schreibe ich doch, und wie viel gäbe es immer zu schreiben rund um meinen guten Paul Geheeb! Und wie drückend ist manchmal das Gefühl, so sehr im Staub der Geschichte stecken zu bleiben - bezahlt von irgendwelchen Stiftungen! - während rings um mich so viel Aktuelles nach Zupacken, nach Hilfe und Stellungnahme ruft -, mich, uns Alle braucht!

Juni / Juli 1995: Ende Juni bin ich an meine jetzige Wohnung, die ich zuvor drei Monate unterver­mietet hatte, eingezogen. Dank der tatkräftigen Hilfe einiger unermüdlicher FreundInnen ging der Umzug ziemlich schnell und problemlos über die Bühne. Da das Haus meiner Grosseltern zur selben Zeit verkauft wurde, habe ich einige schöne, alte Möbel aus ihrer Wohnung erben können -, ein grosser Glücksfall. Jetzt wohne ich also so gediegen wie noch nie seit dem ich von zuhause ausgezogen bin! - Am 7. Juli hab ich dann, schon in der neuen Wohnung, meinen 40. Geburtstag gefeiert.

Obschon ich ursprünglich an alle möglichen Festereien gedacht habe, reichten die real existierenden Kräfte dann doch nur zu einem ziemlich einfachen Nachtessen mit ein paar lieben Menschen hier auf meinem grossen Balkon. Im Übrigen habe ich viel Zeit mit Einrichten zugebracht und mich immer wieder sehr über meine Wohnung gefreut. Diese Freude ist nach wie vor da, wenn mein hausmännlicher Enthusiasmus seither auch wieder etwas zurückgegangen ist, und ich nicht mehr ganz so viel Zeit mit Putzen und Abstauben und Verschönerungen aller Art verbringe wie in diesem Sommer.

August 1995: Tja. August. Viel besonderes fällt mir dazu nicht ein. Frühstücken auf dem sonnigen Balkon. Immer wieder arbeiten. Zwischenhinein Musik machen - ganz selten mal eine Stunde geben (Klavierimprovisation oder Handorgel). Viel Zeit mit Pina, die den Sommer über bei mir gewohnt hat, zugebracht. Viel mit ihr und ihren Freunden geredet. ...

September 1995: Turbulenter Monat. Er Begann mit einem 4-tägigen Reformpädagogik-Kongress auf dem Monte Verita. Der Name des Tagungsortes passt wie die Faust aufs Auge. Der Kongress gleicht in meiner Wahrnehmung viel eher einem Markt der Eitelkeiten, einem Forum für Karriereplanung und Privilegienpflege als einem gemeinsamen Suchen nach "Wahrheit". Wissenschaft ist ein Geschäft, ein grosses, vom unwissenden Volk geduldig finanziertes und immer wieder ehrfürchtig bestauntes Gesellschaftsspiel ... Brrr! Es war schauderhaft - auch schauderhaft spannend. Leider bin ich mit meinen diesbezüglichen Gedanken und Gefühlen, zumindest im Umfeld des pädagogi­schen Institutes der Uni Bern, ziemlich allein - eine Art Rufer in der Wüste. Es scheint, dass Leute wie Maslow, Feierabend, Ruth Cohn, Bakunin, Marx und Freire, Rogers und Illig und all die andern ganz vergebens gelebt haben! Es ist mir noch nicht so ganz klar, inwiefern die dort Arbeitenden nur so tun, als verstünden sie nicht was ich meine, und inwiefern sie wirklich nicht verstehen. Brrr! Für mich viel Frust, aber doch auch ein grossartiges Übungs- und Lernfeld! - Die 4 Tage auf dem "Berg der Wahrheit" waren jedenfalls unvergesslich! - Viel mehr mein Fall war dann ein kurzer Abstecher nach Offenburg, wo ich - eine wirkliche Ehre! -eingeladen war zur Eröffnung das SPAZ, einer kleinen "freien Schule", um deren Bewilligung Jutta und Bärbel seit Jahren gekämpft haben (und auch heute noch kämpfen!). Danach versinkt auch dieser Monat wieder in Alltäglichkeit: Geheeb, Arbeit, Bibliothek ... und - o Gott! Die Viren! Mein Computer hatte, jetzt kommt's mir wieder sehr deutlich in den Sinn, eine äusserst schwere Zeit im September, und natürlich hab ich zum Teil mitgelitten! Ganz überstanden war die Sache erst im Oktober, und bis mein PC und mein Drucker wieder miteinander konnten, hat es fast 3 Monate gedauert! Letztlich habe ich nur relativ wenig der vielen vielen Geheeb-Daten verloren, mit denen mein PC angefüllt ist, doch Zeit und ein Stück weit auch Nerven hat die ganze Viren-Entfernerei und Datei-Retterei schon gekostet!

Oktober 1995: Ach ja. Oktober! Ihr habt ja gewusst, dass Geheeb am 10. Oktober 1995 seinen 125. Geburtstag gefeiert hat. Die Fahnen hingen ja in allen deutschen und schweizeri­schen Städten reichlich zu den Fenstern heraus! Ich habe anlässlich dieses Tages in der Ecole d'Humantié auf dem Hasliberg über das gesprochen was der Geheeb mit seiner Schule - eben dieser Ecole - eigentlich gewollt hat. Den Kindern und Jugendlichen hat's durchaus gefallen; den Erwachsenen zum Teil weniger, denn ... naja -, er war ein unrealistischer Spinner, der Geheeb, der eigentlich Erziehung überhaupt ziemlich öd fand und es viel lieber gesehen hätte, wenn einfach Alle miteinander leben könnten wie Freunde - ohne Gängelung und Bevormundung der Einen durch die Andern. Er hat davon geträumt, dass wir Erwachsenen die Kinder endlich als vollwertige Menschen ernst nehmen und sie nicht mehr wie "Kinder", sondern wie irgendwelche anderen Freunde von uns behandeln würden. Ja, er war schon ein ziemlich radikaler Mensch trotz seines so harmlosen Äusseren. - Das hab ich auch in einem Artikel, der im Dezember im "unterwegs" erschienen ist, auszudrücken versucht. Ursprünglich wollte ich ja ein richtiges Essay über ihn verfassen, umfassend, systematisch, überzeugend. Daraus ist bis jetzt allerdings nichts geworden.

Tja Oktober! Im Oktober habe ich mich - nach mehrjährigem Rückzug -wiedermal aufs Feld der "Kursarbeit" mit Erwachsenen gewagt. Das war spannend! Eine Gruppe zu leiten, einen in Gang kommenden Prozess zu begleiten, in Gang zu halten, zu beeinflussen ... eine sehr spannende Sache, bei mir jedoch immer noch mit sehr viel Angst und Unsicherheit verbunden, denn - anders als bei einem Vortrag ‑ versuche ich bei solchen Kursen immer mit dem zu arbeiten, was die TeilnehmerIn­nen mitbringen. Es geht um gemeinsames Nachdenken, um Verdauen eigener Erfahrungen, um bewussteres Wahrnehmen der eigenen Einstellungen etc. - Eine ganz andere Sache als Belehrung, Anregung von aussen, Unterhaltung. Während ich Referate als relativ harmlos empfinde, erscheint mir diese Art von Kurs im Grunde als total subversiv und sehr "emanzipativ" und damit echt pädagogisch in meinem Sinn! Ach ihr fühlt es : Der alte Enthusiast lebt noch - wenigstens hie und da! Aber Schiss hat er gehabt in der Nacht vor dem Kursbeginn - Leute! Es war richtig zum Schreien und zum Davonlaufen! Ehrlich, so ein Drama!

November 1995: Naja. November? - Ha! Da fand wieder einmal ein grosses Treffen von ehemaligen MitarbeiterInnen und SchülerInnen der Ecole statt. Als ehemaliger Mitarbeiter und seitheriger "Freund" der Schule war ich natürlich auch dabei und habe es sehr genossen, bei dieser Gelegenheit wieder einmal ein paar Menschen zu sehen, die sonst immer so weit weg sind, und ein paar Neue kennenzulernen! Das Getümmel da oben auf dem Berg - der neblig graue Samstag, die Eisenbahnfahrt dort hinauf und der prächtig sonnige, eiskalte Sonntag - das war Alles ganz toll! ...

Und dann? November? Ach ja. Ende November habe ich an der Uni (in unserem Doktorandenkollo­quium) über meine Arbeit gesprochen. Das war nicht gerade ein Höhepunkt des Jahres -, auch kein "Erfolg", denn das, was ich "rüberbringen" wollte, ist glaube ich bei niemandem wirklich angekommen. Der Geheeb mit seiner naiven utopischen Art passt nicht besonders gut in die von diesem Enthusiasmus und Glauben ziemlich weit entfernte Landschaft der Uni. Dort sind "kritische Köpfe" und "grosse Denker" gefragt, die man intellektuell verarbeiten, zerhacken, aus- und umdeuten kann. Jemand der nur an das "Gute im Menschen" glaubt und dessen "Theorie" im Grunde nur aus diesem immer neu formulierten Glaubensbekenntnis besteht, der eignet sich irgendwie nicht für diese Art der Weiterverwertung und vielleicht wirkt er auch zu bedrängend mit seinem ungebrochenen Glauben an die Möglichkeit einer humaneren Welt.

Wenn man sich darauf einlassen wollte, dann wäre ja Trauerarbeit zu leisten, dann müsste man ja von seinen eigenen Hoffnungen und Visionen erzählen, müsste auf gemeinsame "Wahrheitssuche" gehen ... All das ist ziemlich weit weg von dem, was in diesem Wissenschaftsbetrieb üblich ist. Es ist, als ob man sich dort in der Belanglosigkeit eingerichtet hat -, und weshalb soll man sich da stören lassen, solang das Bettchen warm, das Benzin nicht zu teuer und das Brötchen frisch ist? ... Und wenn man sich einliesse -, man könnte ja doch nichts machen ...! Ja der Geheeb. Begleitet mich jetzt schon so viele Jahre und hat sich schon so viele schreckliche Dinge, die ich über ihn gesagt habe, anhören müssen! Und ist doch so ein guter Kerl! Hat einfach nicht aufgegeben!

Dezember 1995: Wieder hier in meiner Stube vor dem PC sitzen. Bis Ende Februar soll die erste Fassung meiner Arbeit fertig sein. Im Juni oder Juli hoffe ich, die ganze Sache hinter mir zu haben. Dann bin ich wieder ein "freier Mensch" - hhmmm! Frei? -Ich bin ja gespannt, was das Leben dann vor hat - falls es überhaupt noch etwas mit mir vor hat!

Ihr fragt Euch vielleicht, was denn mit der Liebe war in diesem Jahr, und wie ich sonst so gelebt habe - "gefühlsmässig", "beziehungsmässig". Ja ... Also einerseits merke ich immer wieder, dass die "intellektuelle" Auseinandersetzung mit dem, was ich tue, vor allem die Auseinandersetzung mit dem Thema Erziehung / Schule etc. für mich sehr wichtig und durchaus nichts "Abstraktes" oder "Theore­tisches" ist, das mit meinen Gefühlen, mit Liebe und Lebendigsein nichts zu tun hätte. Was aber die Liebe im üblichen Sinn angeht -, davon möchte ich so öffentlich lieber nicht sprechen, da es dabei ja nicht nur um mich, sondern um mich und jemand Anderen geht, jemand, der zudem ziemlich schüchtern ist. Dass es zu dem Thema Viel zu erzählen gibt, und es auch in diesem Jahr von Anfang bis Ende eine grosse Rolle gespielt hat -, so viel sei hier immerhin verraten!

Jetzo, ihr viel geliebten, weit verzweigten mir Verbundenen, lasst Euch einmal kräftig an mein Herz drücken, solange dieses noch so regelmässig vor sich hinbumbert hinter dem Gehege meiner Rippen! Lasst Euch drücken und Euch für das kommende Jahr ganz viel Gutes, viel Mut und Zuversicht, Gesundheit und Glück wünschen, auf dass wir es unbeschadet überstehen! - Lebt Alle wohl und lasst - wenn Ihr mögt - gelegentlich von Euch hören!