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An Maja O., 25. April 2003, Basel

Liebe Maja! Danke für Deine Antwort und für die Nachrichten von Dir. Dass Du Dich in Sachen Öffentlichkeit zurückhältst kann ich verstehen, dass es zu einem guten Teil aus Rücksicht, um nicht zu sagen aus Angst um Eure beiden Buben geschieht klingt beklemmend, macht Deine Absage aber doppelt verständlich. Als durchschnittlicher Mittelstandsmensch und Bewohner einer einfachen Zweizimmerwohnung in der Breite habe ich mich mit solchen Sorgen noch nie herumschlagen müssen – Gott sei Dank.

Es freut mich, dass es Dir in Sachen Liebe und Kinder zur Zeit so gut geht und ich hoffe, dass dies noch lange oder für immer und ewig so bleibt. Für mich ist beides – Liebe und Kinder – ein eher schwieriges Thema, schwierig, weil ich mehr als ich will "allein", d.h. ohne Partner bzw. Lover lebe und gelebt habe, und weil ich als schwuler Mann immer weniger in das normale Familienschema passe. Meistens bin ich ganz zufrieden mit dieser Variante von Leben, sehe ja auch, wie allein Andere sich trotz Familie und "Beziehung" fühlen und wie einengend diese Bindungen auch sein können, aber wenn meine Seele müde ist, dann kommt die Sehnsucht nach der grossen Liebe und nach mehr Geborgenheit in einer Familie oder doch einem familienähnlichen Verband. Dazu würden unbedingt auch Kinder gehören. Es müssen nicht "eigene" Kinder sein, aber doch Kinder, mit denen ich viel zu tun habe, die Teil meines Alltags sind. Ja das fehlt seit einiger Zeit, und in diesem Bereich meines Lebens ist Veränderung angesagt.

Was die grosse Liebe angeht, so kann ich da wohl nicht viel mehr tun als offenen Herzens, froh und neugierig durch die Welt zu spazieren und mich so gut es geht über das zu freuen, was da ist, statt mich über das zu grämen, was fehlt. Was das übrige Alleinsein angeht, so lassen sich Veränderungen  leichter arrangieren. Ich habe ja schon einige Male in Wohngemeinschaften gelebt – vom Grossbetrieb der Ecole d'Humanité und der Landidylle in Danvan oder Höllstein bis hin zur Klein-WG im St. Johan-Quartier – und dies immer sehr genossen. Im Augenblick warte ich jedoch bis ich weiss, wie's mit mir "beruflich" weitergeht.

Nach einer sehr lebendigen und menschenreichen Zeit als Schweizer Alternativschulguru bin ich seit Mitte der 1990er Jahre immer mehr in die Geschichte abgedriftet. Ich bin zum Erstbearbeiter des Nachlasses von Paul und Edith Geheeb, den Gründern der Ecole d'Humanité, geworden, habe diesen Nachlass ordnen und archivieren helfen und eine auf diesem Material beruhende, unmöglich lange und detaillierte Biographie dieser beiden bekannten Reformpädagogen begonnen. Der erste Band dieses Epos erschien vor ein paar Jahren; der Zweite ist jetzt so gut wie abgeschlossen. Noch ein paar Wochen, so hoffe ich jedenfalls, und ich bin endlich wieder zurück in der Welt der Lebenden! Was dann kommt, weiss ich nicht

der zweite Band sollte eigentlich einmal meine Habilitation sein, sodass meine Zukunft irgendwo im Unibereich gelegen hätte, doch jetzt schaut's so aus, als ob das Buch als Habilitation doch nicht genügt. Diese Nachricht ist neu und kam überraschend, denn bis vor Kurzem war der in dieser Sache massgebende Professor ganz zuversichtlich. Alles in allem bin ich aber nicht unglücklich mit dieser Wendung der Dinge, denn sie zwingt mich, noch einmal zu überlegen, ob ich mein Leben wirklich weiterhin mit der Uni verbinden will, obschon ich mich in der dort herrschenden übermässigen Gescheitheit seit Jahren eigentlich nicht mehr wohl gefühlt habe. Ich hoffe jedenfalls mit dem zweiten Band dieser Biographie in den nächsten Wochen fertig zu werden und dann kommt die Zeit fürs Neue, und je nachdem wie dieses "Neue" ausschaut, kommt dann auch die Zeit, meine private Lebensform wieder einmal zu ändern.

Die private Änderung geht in Richtung WG, Leben mit Menschen. Das Berufliche ... hmmm. Ich weiss es nicht. Ich spüre da eine deutliche Linie in mir, eine Art Grundanliegen, das mir sehr wichtig ist, doch in welcher äusseren Form und auch an welchem Ort ich dieses Anliegen in den nächsten Jahren umsetze, hängt stark von Gelegenheit und Zufall ab. Da gäbe es viele Möglichkeiten, denn was ich auch tue, wichtig ist die "Botschaft", die in dieser Arbeit oder Tätigkeit steckt. Vorerst denke ich über diese möglichen Zukünfte noch nicht viel nach. Die nächsten Wochen bin ich noch reichlich beschäftigt und dann will ich zuerst einmal fort -, vielleicht für ein paar Wochen nach Griechenland, vielleicht auch noch weiter. On verra. Reisen, ganz neue Dinge erleben und mit mir völlig unbekannten Menschen in Kontakt zu kommen ist etwas, was mir ungeheuer gut gefällt und mich immer sehr belebt. Und dies tun zu können ist ein Privileg meiner unfamilienhaften Lebensform, über die ich anfänglich ein wenig gejammert habe!

Liebe Maja. Vielleicht kreuzen sich unsere Wege ja wieder einmal. Bis dahin wünsche ich Dir und Deinen drei Männern alles Gute: Gesundheit, Freude, viel Lachen und alles, was Du selbst hoffst und willst. Bei mir ist jetzt Mittagessen angesagt. Nachher kommt  Besuch. - Leb wohl und sei ganz herzlich gegrüsst!