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An Monika Z., im März 1990

Hoi Monika, du liebe, gute! Es war schön, so unerwartet wiedermal von dir zu hören! - Ja: es wird mir ganz warm ums Herz und im Bauche tauen die alten Gefühle! ...

Ich sitze gerade im alten "Haupthaus" der Ecole d'Humanité auf dem Hasliberg - viel Schindeln, Holz, Ziegel, Moos, Effeu - und warte auf Margot, die in ein paar Minuten zurückkommen wird; dann beginnt die letzte Arbeitsrunde mit ihr, bevor ich - heute Nachmittag - wieder nach Basel fahre. Nachdem mein Buch über "Alternative Schulformen in der Schweiz" vor ca. 1 1/2 Jahren erschienen ist, bin ich ja zum vollamtlichen Historiker der Ecole d'Humanité geworden, d.h. ich wurde von der Schule engagiert, um eine Biographie über die beiden Schulgründer (Paul und Edith Geheeb-Cassirer) zu schreiben, sodass ich seither sehr viel hier oben im Archiv der Schule arbeite, das hiesige Material (ca. 20 oder 30,000 Briefe und andere Unterlagen) sichte und aus ihm die wesentlichen Facts des Lebens dieser beiden Menschen herausklaube. Mit dem Schreiben des eigentlichen Buches habe ich noch nicht begonnen, obschon mein Vertrag mit der "Ecole" nicht mehr sehr lange läuft: mein Perfektionismus (oder "die Sache") erlaubt es noch nicht, denn zu viele Dinge sind mir noch unklar, zu viele Briefwechsel haben wir noch überhaupt nicht angeschaut und auf ihren Inhalt, ihre evtl. Wichtigkeit hin überprüft. ... - Wenn ich hier oben arbeite, so wohne ich (wie vor 12 oder 15 Jahren, als ich hier Lehrer war) intern und bin Teil einer sogenannten "Familie", d.h. einer Gruppe von etwa 10 Jugendlichen und zwei oder drei Erwachsenen; ich wohne in einem Haus mit dieser "Familie", wir essen (im grossen Essaal der Schule) am selben Tisch, teilen Balkone, Clos, Waschbecken, Butter, Freuden und Sorgen und was sonst noch so anfällt zwischen Aufstehen und ins Bett gehen mehr oder weniger geschwisterlich oder freundschaftlich miteinander, gehen uns gegenseitig auf den Geist und freuen uns aneinander. Dieses Leben - vor allem die Nachbarschaft der Jugendlichen, das miteinander und aneinander vorbei leben, dieses sich Begegnung und wieder Trennen etc. - gefällt mir sehr (und dies wäre wohl auch so, wenn ich mich nicht zwischendurch immer wieder nach Basel "zurückziehen" würde); mit dem institutionellen Rahmen habe ich insgesamt mehr Mühe - vor allem anfangs war ich durch die Sturheit der hier praktizierten "alternativen" Erziehung (die Ecole d'Humanité gehört ja immerhin zu den von mir so sehr ins Herz geschlossenen alternativen Schulen!) ziemlich schockiert! - Ich habe im Herbst entsprechend viele Seufz- Stön- und Klönbriefe in alle Welt verschickt, um hier oben nicht ganz durchzudrehen und wenigstens ab und zu noch mit einem "normalen" Menschen zu sprechen. Inzwischen blicke ich nüchterner auf das Ganze, habe mich beruhigt und (was mein Engagement in der jetzigen Schule angeht) wieder ein Stück weit zurückgezogen auf den Status eines interessierten Gastes oder Freundes ...

Es würde mich nicht wundern, wenn ich dir in diesem vergangenen Herbst auch geschrieben hätte - ja ich bin geradezu unsicher, ob ich's nicht wirklich getan habe; wie so oft kann ich mich nicht genau erinnern, ob ich nur intensiv daran gedacht und die Sache mit mir herumgetragen oder ob ich sie wirklich ausgeführt habe ... So wird's mir auch nach diesem Brief gehen, wenn wir nicht etwas noch realeres dranhängen! - Ja: Abmachen! ... Das ist auch deshalb gut, weil eben Margot wieder aufgetaucht ist und die "Realität" drauf und dran ist, mich wieder zu ergreifen und wegzuspülen! Hoffentlich nicht auf nimmer wiedersehen! ... Ich würde dich sehr gerne wieder einmal treffen: bei dir in Zürich, allein oder mit Ruedi, bei mir in Basel oder irgendwo zwischendrin - Ende März in Samedan (ich bin dann mindestens einen Tag dort ...) oder ... Lass uns doch mal - entweder du oder ich - zum Telefon greifen und aus dem guten Vorsatz eine Tat machen!

Ganz liebe, jetzt eilige Grüsse auch an Ruedi, dein Martin