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An Yvonne B., 1. Februar 1997

Hinter den sieben Bergen bei den bärtigen Männern, den schwangeren Ziegen und den legefreudigen Hühnern -, da wo das Flughörnchen und der Hirsch sich gute Nacht sagen -, da, wo die Autosim Schlamm der schlechten Wege stecken bleiben und die Luft erfüllt ist von der lebendigen Ruhe der Natur, vom Gezirpe entfernter Vögel, vom gelegentlichen Schrei eines Hahnes oder dem Bellen eines Hundes, vom Summen einer Biene, welche sich von der ungewöhnlich warmen Sonne des heutigen Tages in die Welt hinaus hat locken lassen!

Liebe Yvonne! Ja. Im Augenblick ist es wirklich idyllisch hier bei meinen bärtigen Männern und ihren Ziegen! Noch nie seit ich hier bin war es so sonnig, so warm und frühlingshaft! Und da ich mich im "Vogelhaus", einem nicht heizbaren Sommerhüttchen mitten zwischen ein paar alten Bäumen, eingerichtet habe, ist die Frage der Wärme nicht unwichtig!

Vor zehn Tagen bin ich im Short Mountain Sanctuary angekommen -, vor zehn Tagen hat der Ort, der mir Stoff zu so viel Träumen war, konkrete Gestalt gewonnen, der Ort und seine Menschen, die schon fast legendären "bärtigen Männer" und ihre Ziegen. ... O ihr Träume! Wie süss schmecktet ihr mir auf der Zunge als ich noch fern war, als dies alles noch hinter hundert Horizonten verborgen lag - geheimnisvoll und voller unausgesprochener Versprechen! Und jetzt? Der Mensch, er baut die Bühne seines Lebens um, er schreit nach neuen Kulissen, stellt Bäume auf, wo ehedem  Häuser waren, und wandelt Meere um in klüftiges Gebirg'! Der Tor, er meint auf diese Weise endlich auch zu wandeln die Landschaft seines Innern! Er hofft auf Sonne, dort wo sonst nur Nebelschwaden trieben, hofft auf Vogelsang und Nachtigallenschrei, dort wo sonst nur dumpfes Dröhnen von Verkehr und von Maschinen war! Er sitzt und wundert sich, dass zehn Tage lang kein Wandel spürbar wurde! Er wird ärgerlich und beginnt zu zweifeln an sich und der Methode. Er will den Wandel jetzt! Hat keine Zeit zu warten! Er will den Innern Frieden, will die Heiterkeit, will das Erwachen neuer Kräfte -, will all dies und noch mehr sofort! In diesem Augenblick! Geduld ist nicht sein Element! Geduld nicht und nicht Zuversicht! Er ist enttäuscht. Was trieb ihn fort aus seinem angestammten Leben? Was will er hier in dieser abgeschiednen Klause -, hier zwischen immer neuen Männern, mit denen so wenig ihn verbindet! Er jammert und er sehnt sich nach den vertrauten Stimmen seiner so geliebten Freunde, denkt an seine Stadt mit ihren Strassen, denkt an seine Wohnung, denkt an seine Pflanzen, den Balkon, während er mit seinem Morgenkaffee  auf dem sonnbeschien'nen Steine vor der alten Küche der Kommune sitzt ... Nein, in der Tat, Geduld und Zuversicht sind seine Stärke nicht!

Liebe Yvonne! Auch an Dich denkt er, der Held unserer Geschichte, der so dringend in die Fremde wollte, und die Fremde nun so schlecht erträgt! Er denkt an Dich und will Dir schreiben -, doch was schreibt man, wenn man in die weite Welt hinaus geflohen ist, und das Herz dafür auf einmal viel zu schwach, der Mut dafür zu klein scheint! Soll man sich jammernd in den Schoss der teuren Freundin werfen? Als ob sie nicht genug bereits zu tragen hätte, als ob nicht reichlich Andere tag täglich schon in ihren Schoss sich würfen! Nein, nein! Man soll ihr doch erzählen, von der Fremde und den Abenteuern, die man - reisend - doch auf jeden Fall bestehen muss! Man soll ihr so berichten, dass ihr eig'ner Mut zu neuer Grösse ihr im Busen schwillt, dass ihr eig'nes Herz mit neuer Freude an die Stäbe seines Gitterkäfigs klopft. Vom fernen Rufen eines Vogels, vom schrillen Hahnenschrei und warmer Sonne sanft umfangen muss er, der Held, sein zaghaft Herz in beide Hände nehmen, muss es ein wenig drücken, streicheln, küssen und in die Sonne halten, auf dass es warm und lebhaft werde und er alsbald im Stande ist, mit Freude ihr zu singen von der Reise!

Yvonne, Du Hochgewachs'ne! Femme Fatale -, geschäft'ge Hüterin des Brüos! Du immer kompetente, immer kluge! O Yvonne, besteige den hoch gepolsterten Sitz in meinem Herzen - der Ehrenplatz, der allzeit Dir bereit ist in den Kammern meines Innern -, besteige Deinen Sessel und höre denn, wie's mir bis jetzt ergangen!

Von dem Schiffe will ich singen, welches ich - des Fliegens nicht gelüstend - mir bescherte! Ach wie protzig lag es dort an seines Hafens fester Mauer! Wie eifrig griffen sich die grossen Krane von ihm die bunt gefärbten Blechbehälter, die - angefüllt mit Möbeln,  gift'een Wässern und viel andern Herrlichkeiten, das weite Meer befahren hatten oder es befahren sollten! Wie Heulten die Sirenen, zu warnen was da ungeschützt einherging im schattigen Gedränge jener Kranen und dem Hin und her der lastbeschwerten Wagen! Wie klein ach war da unser Held und Andres, sein Gefährte, der Geliebte lang vergang'ner Zeiten! Wie klein erschienen Beide, als sie ängstlich auf dem grob gefügten Stein den Schritt zum Schiffe lenkten! Und wie innig lebte noch in ihnen Beiden die vergang'ne Nacht, die sie gemeinsam in Milanos weiten Strassen zugebracht! Wie schmeckte ihnen noch auf ihrer jungen Zunge das nächtlich eingenomm'ne Mahl und wie spürten Beide noch des andern Körper auf der eig'nen Haut! Sprich von Kontrasten mir, o Heldin meines Herzens! Sprich mir von Widersprüchen, von Wirklichkeiten, die schroff sich aneinander reiben, die ungeschickt in uns'res Lebens graden Lauf sich stellen. Hier hast Du sie! Die Zärtlichkeit der Liebe und das Dröhnen der Maschinen! Die Innigkeit der vielen Jahre und das wirre Hin und Her von tausend wie von einer Geisterhand geführten Männern.

Doch weiter lass mich singen, denn das Lied, das uns'res Helden Reise Dir kraftvoll soll beschreiben, kann -,darf im Anfang nicht für immer sich verlieren, und "Anfang" ist für wahr die hier gegeb'ne Episode! Anfang und Ende! Ende - ausgedrückt im Winken von des hohen Schiffes Rand! Ausgedrückt im letzten Male, das gemeinsam unser Held und sein Gefährte zu sich nahmen im Getürm des hochgebauten Schiffes, umgeben von des jungen Stuards dienstbefliss'ner Russenhand! Und kaum war fortgewinkt der ach so traute Freund, da tauchte schon der Franzmann auf, der zur Begleitung uns'rem Helden war bestellt! Ein Junge war er, dieser Sohn der Franken, eine Junge über seine Jahre hin gealtet -, allzu früh vertrieben aus seinen geliebten Knabenträumen!

Von Arbeit, Weib und Kind glücklich entflohen gab er sich ganz der Reise hin,  genoss der Sonne ewig gleiches auf- und niedersteigen, genoss der Mannschaft rutiniertes Tun, genoss der Häfen wechselndes Getriebe, genoss des weiten Horizontes ungebroch'nen Kreis, genoss die blaugrünschwarze Fläche des Atlantiks, die sich - nach einem rasch vergang'nen Tag in Marseilles Strassen und einem weiteren im spanischen Valencia - 9 Tage lang um unser Schiff hin dehnte als gäb es ausser Wasser, unserm Schiff und dem Gewölb des Himmels über uns nichts anderes auf dieser Erde! Und der Genuss des Gefährten, eben jenes Richard aus dem Reiche der Franken, ward zum Genusse uns'res zum Genuss nicht leicht bereiten Helden, der allerdings - das sei hier angemerkt -, den Sturm vermisste, den grausam feindlichen, den man ihm allenthalben angekündigt hatte als er noch der grossen Reise still entgegenträumte in den grauen Mauern seiner Heimatstadt: Die Spannungen an Bord, die Hektik der Elite und die kaum verhol'ne Unzufriedenheit der Unterklasse, die im Keim erstickte Meuterei der "Tuvalu", den Südseeinsulanern, den Sklaven auf dem grossen deutschen Schiff -, all dies ersetzte unsrem Helden nicht den Sturm, auf welchen sich sein Herz so sehr gefreut! Und lange klagte er das Schicksal an, dass es ihm Sonne statt tosender Wellen bescherte, bis schliesslich auch er sich dem Frieden beugte, den alle andern so dankbar genossen!

Und endlich, nach 14 Tagen und gleich vielen Nächten erreichte das eiserne Schiff, das maschinengeschob'ne, Bitterlands nördliche Küste! An legte das containerbelad'ne Gefährt und teute sich sicher zur Mauer des neu gewonnenen Hafens, und uns'res Helden Kabine - für sich hatte er ein geräumiges Zimmer mit Dusche und allem Komfort - seine Kabine nun blickte direkt in die Häuser Manhattans, des nördlichen Bitterlands Sodom, ein Babylon weltweiter Völker, ein Gedränge von Farben und Sprachen, Sitten und Trieben und Wünschen -, Ziel aller Träume den Einen, Schrecken der Schrecken den Andern! Und als die Sonne, die rosenfingrige, erneut ihre Pferde himmelwärts lenkte, entstapfte, zusammen mit seinem Begleiter,  rucksackbeladen der Held uns'rer Story seiner meergebundenen Wohnstatt, um in der Fremde sein Glück zu versuchen!

Er griff sich, den Gefährten im Schlepptau,  ein Taxi, durchsauste die brodelnde Stadt Richtung Bahnhof  und raste alsbald, vom eisernen Pferde gezogen, nordwärts - dem ländlichen Heim trauter Freunde entgegen, um sich, während der freundliche Franke  hoch in den Lüften der Heimat zu strebte, für die weitere Reise zu rüsten und ein letztes Mal Hand anzulegen an Geheeb, den ehrwürd'gen Alten, dem er schon auf Atlantiks sanft gewölbtem Rücken mehrere Tage gewidmet. Schliesslich ist diese Arbeit geschafft! Zur Post trägt beglückt unser Held seinen Helden und übergibt ihn dort seufzend den Damen, welchen die Postmeisterei jenes Ortes anvertraut ward vor undenklichen Zeiten.

Doch meine Freundin! Was ist das?! Noch kräht der Hahn in der Ferne, und gelegentlich zirpen noch Vögel, doch ach! Die Sonne, eben noch wärmen hoch droben, sie ist mir entwichen ob all dieser Worte! Sie schleicht sich westwärts hinweg aus dem Bannkreis unseres Daseins, überlässt uns den feuchtkalten Winden der Nacht, die lange vor ihrer Zeit schon nach ihren Opfern säuseln! O Yvonne, so wie die Sonne, so zerrinnt uns die Zeit - so zerrinnt uns das Leben! -und  es ist Abend ehe der Tag recht begonnen! Die Schreibkunst verpflichtet zur Sorgfalt; die Sonne -, sie ruft uns zur Eile! Wie soll unser Held je die Orte erreichen, die zu erreichen er willens, wenn der Worte fasriges Zickzack ihn andauernd hindern? Wir müssen ihn mutig und unerachtet aller stilistischen Zwänge hinausschleudern in sein zerstreutes Leben, müssen die erkaltenden Finger hinsausen lassen über die Tastatur unsres Notebooks ohne die Worte zu sichten und ängstlich nach dem Eindruck zu fragen, den sie auf andere machen! Hinein in sein Leben muss er, der Held, obgleich er sich streubt -, er, der die Worte den Taten bevorzugt!

Lasst uns drum hurtig ihn den trauten Freunden entreissen, bei denen er eine Woche lang für die Reise sich stärkte, und lasst uns ihn schicken zurück in die Stadt mit Namen Manhattan, von deren ungleichem Wühlen und Spülen wir vorhin schon sprachen. Wir treffen ihn dort, beherbergt von zwei ihm bis dahin nimmer bekannten Menschen. Er geht durch die windgepeitschten Strassen der Stadt, ein Held fürwahr jetzt, und erledigt gewisse Dinge: Er organisiert sich Lektüre auf Tonband und ergattert die "Servas"-Listen, an die er zuhause nicht mehr gedacht hat. "Servas", eine Gruppe von Menschen, die Reisenden gerne ein Obdach gewähren, um diesen von ihrem Land und ihren Sitten zu sprechen! Gastfreundschaft, so das Ziel von "Servas", Gastfreundschaft, die sich im Fall unsres Helden trefflich bewährte während seiner sechs Tage im menschendurchströmten Manhattan!

Zu dem äusseren Kampfe gesellt sich alsbald ein Innerer, denn ihm begegnet inmitten des grausen Gewirres der Stadt ein Mensch -, ein Einzelner, der sich ihm hinstellt,  der arm, ohne Geld, ohne Obdach um Hilfe ihn bittet: Wie regt sich da plötzlich sein mitfühlend Herz, aber wie regt sich sogleich auch sein Geiz und das lang einstudierte Misstrauen gegenüber dem Fremden! Wie rechnet da plötzlich der Humanist, der Apostel der Menschlichkeit und denkt hin und her, ob der Arme die Armut wohl spiele, um ihn zu betrügen? Wie ängstlich zählt er das Geld im eigenen Beutel; wie kleinlich berechnet er das Mass seiner Güte, und wie faulig schmeckt ihm die Grossmut, zu der er sich schliesslich entschliesst. Wie sehr fühlt er sich in seinem Reisevergnügen gestört durch diese unästhetische Sache! Und jetzt noch - Wochen danach - weiss er nicht, wie sich verhalten, denn man tauschte Adressen und versprach, sich zu schreiben! Und doch: Es ist in all dem auch Echtheit- ein Gefühl von wirklicher Hilfe, von wechselseitigem Beistand - einmal der Eine dem Andern, ein andermal jener dem Einen.

Eben besuchte der Hund mich, der Eine der beiden, den die bärtigen Männer hier halten zum Schutz ihrer selbst und zum Schutze der Ziegen und Hühner! Und in der Ferne hör ich leisen Schlag eines Hammers! Du siehst mich sitzen auf meinem Balkon - einen solchen hat mein einfach Gehäuse durchaus! - mit hin gespreizten Beinen. Dazwischen auf einem Backstein mein Notebook, das treue, geschwätzige, das bis anhin mir nicht gestohlen, sowie auch sonst ich noch durchaus und ganz bin! Durchaus und ganz -, naja, wie gesagt: Es ist die Geduld nicht die Stärke unseres Helden, und er sehnt sich gar oft nach zuhause -, nach den wärmenden Worten vertrauter Gefährten und -innen! Er jammert still in sich hinein, dass er lieber zu zweit oder nicht blind wär, denn - so denkt er sich in seinem Elend -, dann wäre alles viel heiterer, viel spannender, viel attraktiver. So sitzt er inmitten der erträumten Idylle - die Menschen sind nett, wirklich nett, die Ziegen sind auch da und Strom gibt's sogar für das Notebook und die Kassetten! - Er sitzt und - Gott, sein Interesse! Es will und will nicht erwachen. Nicht melkt er die hurtige Ziege, noch lockt er den lüsternen Buhlen ins brünstige Bett, noch backt er das herrlich duftende Brot! Stattdessen obliegt er der Trübsal und fragt sich, wes Zweckes sein Leben -, unglücklich nimmt er wahr die Leere hinter seiner heldisch gewölbten Brust, die Leere, das Fehlen von Kraft und Freude! Er ergiesst seinen Kummerab und zu lustlos auf einsame Blätter und martert sein Hirn mit der Frage nach dem, was er auf dieser Reise wohl solle, wohl "müsse", denn - ja, tatsächlich  auch von "müssen" im karmischen Sinne hallt sein sinnbedürftiges Inneres wider. Er erinnert sich schamhaft der lauten Reden, die er kürzlich noch führte über diese und jene Projekte - Bücher, die er schreiben zu müssen vermeinte  Und ach noch immer vermeint! Er martert sein Hirn diesbezüglich und gräbt sein Inneres wund, damit endlich der zündende Funke springe, damit die verschüttete Quelle zu sprudeln beginne, damit endlich die Wehen einsetzen -, doch vergebens ist all dies sich drehen und wälzen! Die Nebel lichten sich nicht, und er hört nicht - noch nicht! - das Singen der Vögel in seinem Innern! Noch ist der Himmel voll Wolken und es entquillt nicht das Wasser dem Steine! Und er denkt an den Westen, an Aufbruch und Reise, denkt daran, vielleicht schon bald! Vielleicht sind die Männer und Ziegen ihm letztlich nicht fruchtbar -, vielleicht ist es hier auch - trotz allem - ganz einfach zu kalt -, denn kalt, o Yvonne, war's wirklich in diesen Tagen und Doppelt empfindet der heimatlose die irdische Kälte! Doch ach wem erzähle ich Dies! Ward nicht  Dir selbst, o Yvonne, die Kälte zum Thema, als Du vor Jahrfrist in Berlin uns noch weiltest, und trieb nicht die Suche nach der wärmenden Kohle schwarzem Schimmer Dich tief und tiefer hinab in die düsteren Keller!? Wie sollte die Hoffnung auf Sonne mich, den Frierenden, deshalb nicht locken zu wechseln den jetzigen Ort und zu ziehen in wärmre Gefilde?

Sonntag, 2. Februar 1997: Und die Sonne entschwand und die Nacht stieg hernieder, und es lag auf dem ruhlosen Bette der Held, des Schlafes nicht mächtig und nicht des Wachens! So trieb er mit neuer Lektüre die Zeit vor sich her, ertränkte die eignen Gedanken in fremden Gefühlen, tauchte tief ein in die hektische Welt William Faulkners, in Alkoholismus, Fliegerromantik, in die Lust und Verzweiflung gestrandeter Männer! Und lang nach der Vögel Erwachen erst sank er in unruhigen Schlaf. Ein Schatten nur seiner selbst ist er jetzt, wo die Sonne erneut ihren Gang von Mittag gen Abend bestreitet, und ach, als ob des Unglücks Fülle nicht hinreicht: sein Ohr, es verliess ihn beim gestrigen Putzen und kam bis zur Stunde nicht wieder, so zähe klebt ihm der Wachs im knöchernen Hörgang! Von nächtlichen Geistern geplagt hält unser Held - fast gänzlich beraubt seiner Sinne - sich nun fest an seinem Kaffee, hoffend dass ihm diese Droge zu neuem Leben verhelfe.

So sind sie, die Dinge, die jener erlebt, der sich aufmacht zu neuen Ufern, heiter Raum um Raum durchschreitend, wie uns der Dichter mahnt! Ein Ringen ist es bis anhin viel mehr als ein heitres Geniessen, ein Ringen und Stolpern und Tasten. Doch noch lebt er, der Held, noch lebt er und ist voller Hoffnung! Des Lebens Ruf, noch hört er ihn in seinem Herzen; noch sitzt er - seiner müden Glieder Herr - aufrecht im Sattel seines Willens und trabt mit ungebrochenem Mut in die Zukunft! Es ist nur -, ja er ist allein der Held, allein mit seinem ganzen Wollen, Sehnen, Denken, Trachten -, und dies beansprucht seine Kräfte!  Doch wie gesagt: Er lebet noch und ist gesund! Und jetzt wird er erneut zur Küche schreiten, um mit warmem Wasser seinem Ohre abzutrotzen den festgeklebten Wachs, auf dass in neuem Glanz ihm seine Welt erstrahle!!!

Donnerstagabend, 6. Februar 1997: Ach wie flieht sie dahin, die Zeit, oder besser: wie fliehen wir selbst, wir Sterblichen, dahin auf der Fläche der Erde rastlos von Ort zu Ort nach dem Saum des allzeit flüchtigen Glückes haschend! Schon wieder sind Tage vergangen - Tage angefüllt mit sanften Gesprächen, mit allmählich wachsendem Zutrauen, mit tätigem Wirken im Hause und Nichtstun. Tage, an denen die Sonne uns lachte, und Tage, an welchen des Himmels Wasser alle auf einmal auf uns nieder zu brechen schienen als sollten wir unter Ozeans dichtem Kleide alle begraben werden.

Noch zwei Nächte wird der Held hier verbringen in dieser bergig schroffen Landschaft - angefreundet inzwischen mit einigen seiner Bewohner! -, dann wird er erneut gen Süden sich wenden, wird New Orleans besuchen und danach Houston, die grässliche Stadt in Texas. Dort gilt es, Frieden zu schliessen  mit einem Menschen, der einst sein Freund war; der betreffende ist seither Pädagogikprofessor geworden, und es hofft unser Held umso stärker auf glücklich erneuerte Freundschaft, weil das bunte Spiel der Gedanken und das fleissige Tauschen von Wissen ihn dereinst so innig mit diesem Menschen verbunden! Von dort wird er dann, unser Held, nach San Diego entfliehen, wo - am Strande des weithin sich dehnenden Meeres - Kathrin ein Haus hat -, Kathrin, Francks dereinstige Frau, die auch er gut gekannt hat, als die Beiden in Basel noch lebten - längst vor Deiner Zeit, o Yvonne, in eben dem Hause jedoch, in welchem Du jetzo wohnest. Und weiter fliegt er im Geist schon, hinauf nach Ohai und weiter und immer weiter, bis er erneut - ach wie schnell ist die Brust ihm wieder mit Sehnsucht gefüllet - zuhause bei seinen Lieben gelandet! So macht er sich auf, das Neue zu finden, das Aussergewöhnliche - und er findet in sich und um sich nur das Alte und das Gewöhnliche und kehrt mit vertiefter Liebe zu diesem in die Heimat zurück!

Schon steht er wartend am Ausgang - doch eh ich dem Flüchtigen folge auf seinem Weg, eh ich ihm wieder zu diensten, ehe ich ihm auf sein Nachtlager folge, um ihm morgen zu packen den Rucksack und anzurufen der Freunde gastliche Häuser, um sein Kommen zu melden, eh ich erneut mich kümm're um ihn, lass mich, o Freundin, geliebte, Dich herzlich und kraftvoll umarmen! Möge Dein Leben Dir Glück sein, und was düster sich vor Dich breitet - möge Dein Fuss es verscheuchen wie die Sonne die Schatten der Nacht oder die kraftvolle Katze die läppische Maus! Möge Dir nichts Deine Laune verderben, nichts, das Du nicht mit einem schnippen der Finger, der zarten, hinweg zu putzen vermagst! Glück soll Dir sein und Sonne und Wärme und Liebe und rundum Gesundheit all täglich und jede Nacht -, bis der Held zurück ist in Basel, und wir uns bei traulichem Weine versammeln, um lachend und seufzend an dieses und jenes zu denken, von diesem und jenem zu sprechen! O wäre des Helden Reise doch nur schon vorüber! Doch Du kennst ihn ja: störrisch, romantisch und zäh wie er ist, wird er mich gar noch nach Chile verschleppen oder über Russlands unendliche Flächen mich hetzen auf seiner kindlichen Suche nach "Glück" oder "Wahrheit" oder "Erkenntnis" oder "Liebe"! Schon ruft er zum zweiten Mal, dass ich ihm helfe, statt heimisch mit Dir hier zu plaudern! Er will, dass ich ganz für ihn da bin! Er brauche, so hat er mir kürzlich gesagt, meinen "Glauben" an diese Reise, und wenn ich so trödle, wie jetzt, dann werde er traurig. Wenn ich nur wüsste, was er eigentlich will? Ich würde ja gerne helfen, doch so -? Dieses Hetzen durch fremde Länder, dieses ziehen von Ort zu Ort - dieses ewige unbehaust sein. Ich verstehe es nicht! Er will's mir erklären, so ruft er, doch müsse ich kommen, müsse jetzt kommen! Gott wie beneide ich Dich um Deine vier Wände! Doch, liebe Yvonne, ich muss. Es ist ernst. Er will weiter - weiter! - wohin nur. "Ich komm schon"! Also, Du Gute, Du Liebe: bleib mir erhalten und pass auf Dich auf! Ich drück Dich noch einmal - "ich komme!". Leb wohl! Ich muss gehen -, er braucht mich! "Ichkomme!". Also, bis demnächst oder bis später! Leb wohl! Tschüss. Good Bye - und - grüss mir die Andern!