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Zum ersten mal bei Moussa im Niger! April und Mai 2012

Soll ich überhaupt noch zu Moussa in den Niger?ich frage ihn am Telefon -, erkläre ihm, dass ich ziemlich k.o. bin, aber sein spontanes "doch, bitte,komm" überzeugt mich schnell, dass ich gehen muss. Wenn ich es jetzt nicht tue, tue ich es vielleicht nie mehr. - Ein paar Tage später bin ich in Niamey. Ich komme als letzter aus dem Flughafengebäude. Moussa empfängt mich voll Freude: "Ich war plötzlich nicht mehr sicher, ob ich mich im Tag geirrt habe, aber wenn du nicht gekommen wärst, so hätte ich hier einfach gewartet - eine ganze Woche, wenn's hätte sein müssen."

Ich habe Moussa im Januar 2011, kurz nach meiner ersten Begegnung mit Ousmane, kennengelernt. Damals bin ich zwei Wochen mit ihm durch Burkina Faso gereist. Dabei hat er mir viel von sich und seinem harten Leben als Koranschüler und seinem seitherigen Existenzkampf als lese- und schreibunkundiger Handlanger erzählt. Nach einigen Tagen hatte er mich als seinen Vater adoptiert, und als wir uns trennten gab ich ihm das Geld für den Kauf eines Esels und eines Eselskarrens. Damit könnte er Transporte machen und hie und da ein wenig Geld verdienen, sodass er nicht mehr, wie bis dahin, betteln müsste, um seine Frau und seine 5 Monate alte Tochter zu ernähren, wenn er wieder wochenlang keine rechte Arbeit hat.

Moussa und ich

Tatsächlich haben Moussas Hoffnungen sich erfüllt. schon am ersten Abend im Hotel in Niamey erzählt er mir voll Begeisterung von seiner Arbeit mit dem Esel. Dank diesem sei es ihnen im letzten Jahr viel besser gegangen. Er habe seinem 85jährigen Vater sogar einige Male etwas Geld nach Gao schicken können, und für den Kauf eines Grundstücks habe es schliesslich auch noch gereicht. Ich hatte schon am Telefon ein- oder zweimal angedeutet, dass ich gerne dabei wäre, wenn er sich ein Haus baue. Damit war für ihn klar, dass wir bauen würden. Noch am ersten Abend begannen wir mit dem Planen. In Makalundi, einem in der Nähe der Grenze zu Burkina Faso gelegenen, rund 500 EinwohnerInnen zählenden Dorf zeigte er mir das Grashaus, in dem er mit seiner Frau und den mittlerweile zwei kleinen Kindern wohnte. Dann führte er mich zu der Latrine, die er im Hinblick auf seine künftige Wohnstatt gegraben hatte. Ein kreisrundes Loch von einem Meter Durchmesser und sieben Meter Tiefe - senkrechte Wände in schwerem Lehmboden. Ich glaube, dieses Loch gab den Ausschlag. Dieses Loch, seine schwieligen Hände und die Freude, mit der er mich am Flughafen empfangen und mir von seiner Arbeit erzählt hat.

Moussa, Martin, Oefi, Mamadu und Addi

Moussa redete nicht nur von Veränderung; er packte an, und das Haus war sein nächstes Projekt - seines und meines. Während der folgenden beinahe sieben Wochen half ich ein dem Stil des Dorfes entsprechendes Haus aus ungebrannten Lehmsteinen mit dem ortsüblichen Wellblechdach, einer Metalltür und vier kleinen Fensterchen sowie eine rund 120 Meter lange Mauer um das Grundstück zu bauen. Alles von Hand und alles mit dem Lehm, dem Wasser und den rund 30 Tonnen Steinen, die Moussas kleiner Esel Ashim auf seinem zweirädrigen Karren heranschleppte, und die wir bei 35 oder 40 Grad Hitze und prächtiger Sonne Stück um Stück verbaut haben. Es dauerte eine Weile bis die Brüder von Moussas Frau und die anderen Helfer, die sich täglich auf unserer Baustelle einfanden, begriffen hatten, dass ich tatsächlich lieber mitarbeitete, statt, wie es sich für einen alten Mann gehört, im Schatten zu sitzen und mich auszuruhen. Doch nach und nach begriffen sie, und wir wurden zu einem stolzen, immer besser funktionierenden Team. Jeden Tag kamen neue Menschen vorbei, um sich Moussa's ungewöhnlichen Besuch anzusehen. Sie standen auf der Strasse oder im Hof und kommentierten meine Arbeit. Ich weiss nicht, worüber man in Makalundi mehr sprach, ob darüber, dass ich als Weisser sieben Wochen lang in ihrem Dorf gelebt und die Hitze und alles ertragen habe, oder ob darüber, dass ich als blinder Mann beim bauen der Hofmauer geholfen habe, als ob ich nie etwas anderes getan hätte. Ich war auf jeden Fall ein Gesprächsthema! Dabei - das versteht sich von selbst - haben nicht nur die Menschen dort über mich gestaunt und von mir gelernt; auch ich habe viel, sehr viel gelernt und gestaunt.

Es ist unmöglich, die ganzen Erlebnisse und Ereignisse dieser Wochen in Makalundi und Niamey in der hier gebotenen Kürze wiederzugeben. Da ist die trockene karge Gegend, die dürren Wälder oder das, was man im Sahel "Wälder" nennt; da ist die merkwürdige Fremdheit zwischen Männern und Frauen, die wie in zwei beinahe getrennten Sphären Leben; da ist die Allgegenwart von Krankheit und Tod; die kleinen und grossen Gräber überall; das Staunen von Moussas Schwagern darüber, dass sie im Stande sind ohne einen ausgebildeten Maurer eine Mauer, ja ein ganzes Haus zu bauen; da ist Moussa mit seinen Geschichten, seinem Lachen, seiner Geduld und seiner Arbeitswut; da sind unsere Abstecher nach Niamey, um neues Material zu kaufen, und ein wenig auszuruhen von der Bauerei; da ist Ibra, der gesprächige Hotelier in Niamey und da ist der Fluss Niger und die überraschenden Büschel Gras an seinem Ufer; da ist die Pfuscharbeit des Schlossers, der unsere Türen und Fenster machen sollte; da sind die heissen Stunden im Bus zwischen Niamey und Makalundi und die abendlichen Spaziergänge zum kleinen Markt vorne an der Hauptstrasse, wo wir Moussas Handy und mein Netbook aufladen; da sind die Gespräche mit Adi, der kaum französisch kann, aber doch wissen will, wie's draussen in der Welt ausschaut und wo China liegt; da ist die immer wiederkehrende naive Frage, weshalb ich Moussa - "le petit" - nicht mit mir nach Europa nehme; da ist die Stille in einem Dorf, wo es noch keinen Strom, dafür viele Ziegen und Schafe, Kühe und Esel gibt; da ist die Freude über einen ersten Regen und die Spekulationen, ob es nun wohl gleich losgeht mit der Regenzeit; da ist Moussa's ältere Schwester, deren Mann krank zu hause liegt - unterernährt, wie die Ärzte sagen ; da sind die Polizisten vorne an der Strasse - die Mittelschicht des Dorfes, Menschen mit gutem Salär und soliden Häusern mit eigenem Strom; da ist die Hauptstrasse nach Ouagadougou und da sind die Büsche, die uns als Toilette dienen, kein Problem, weil das, was die Menschen hier hinterlassen von der Sonne schnell getrocknet und von den Eseln gefressen wird; da ist auch die Monotonie und die Klage über die mangelnde Solidarität im Dorf; da ist die Enge und Hilflosigkeit, mit denen man in seinem ererbten Leben steckt; da ist der Kampf zwischen den Viehzüchtern und den Ackerbauern; da ist die Bescheidenheit und Ruhe vieler menschen und als Zwilling ihrer Gottergebenheit ihre Apathie; da ist der weite Himmel über uns und die draussen zugebrachten Nächte ...

Ich und der Maurer auf der Mauer des Nachbarn

gesagt: Es ist zuviel, um es hier alles zu berichten. Nur soviel sei gesagt: es war eine gute Zeit, in der ich meinen Helferblues und meinen Missionarskoller schnell vergessen habe, denn hier hatte ich Arbeit und Spass und Freunde. Ich hatte allerdings kaum Kontakt mit dem Dorf. Wir waren zu sehr mit dem Bauen beschäftigt. ich will deshalb Ende November noch einmal in den Niger fahren und ein paar Monate in Makalundi zubringen. Ich will sehen, wie sich das Leben meiner Familie weiter entwickelt; aber ich will vor allem auch sehen, ob ich etwas für das übrige Dorf tun kann ...

 

Epilog: Wer hilft hier eigentlich wem und weshalb?

Ich höre euch lachen und sagen: Die Katze kann das Mausen nicht lassen. Ja, es stimmt, mein Helfergeist ist noch nicht erloschen, und ich will auch nicht, dass er erlischt - trotz aller Kritik an der westlichen Entwicklungshelfermanie. Ich glaube fest daran, dass es eine Art zu helfen gibt, die stimmt. Es isst vielleicht diejenige, die ich im April und Mai in Makalundi erlebt habe: ein Helfen nicht aus Altruismus, in dem sich oft ziemlich schräge und egoistische Motive verstecken, sondern aus Freude am Zusammensein; ein Helfen ohne westlichen Überlegenheitsdünkel und mehr oder weniger gut getarnten Führungsanspruch; ein Helfen, welches sich in einer konkreten Situation ergibt und sich Etappe für Etappe verändert und entwickelt; ein Helfen, von dem alle profitieren, sodass es eigentlich ein grosses Helfen und Geholfen werden ist, keine Einbahnstrasse mehr, sondern ein lebendiger Austausch auf der Basis von Neugier und Sympathie, ein Geben und Nehmen und ein gemeinsames Lernen ...

Die Worte klingen abgenützt. Man hat auch im Bereich der Entwicklungshilfe begonnen, den alten Wein in neue Schläuche zu giessen. So spricht man jetzt von Entwicklungszusammenarbeit und betont das partnerschaftliche Element und die Wichtigkeit von Projekten, die den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen entsprechen. Doch es ist wie im Bildungswesen: Wir vergessen bei solchen Reden die Tatsache, dass Entwicklungshilfe längst zu einem integrierten Bestandteil der grossen Zivilisationsmaschine geworden ist, welche sich vor allem damit befasst, uns zu braven Arbeitsmenschen und nimmersatten KonsumentInnen zu machen. Die Wirtschaft muss wachsen, Sie wissen es. Wer dieses Evangelium nicht mitbetet gerät leicht in Schwierigkeiten, das gilt auch für die Menschen in den Ländern der 3. Welt, denn bereits die blosse Tatsache, dass wir diese Länder und ihre Menschen pauschal und in der Regel ohne sie überhaupt zu kennen als "weniger entwickelt" bezeichnen zeigt, woohin die Reise geht: Hinauf auf unsere Kulturhöhe ...

Fleiss ist angesagt und Strebsamkeit, nicht Gottergebenheit und faules in der Sonne liegen! Die allzu fleissigen zerstören zwar die Welt, das sehen wir,doch da sind schon andere, die davon leben, den Schaden zu beheben, wobei sie nebenher meist neues Unheil schaffen, wovon dann wieder andere profitieren. Wer diese Spirale stoppen will und die Mentalität, durch welche unsere Zivilisationsmaschine angetrieben wird, als gefährlich anprangert überlebt allenfalls als Bestsellerautor oder Kolumnist, doch was soll er in unseren Schulen oder in einem Entwicklungsprojekt in Afrika?

Wir sind zwar gegen den Materialismus unserer Zeit, und gegen die menschen, die immer mehr und noch mehr wollen: mehr Autos und mehr Ferien, ein schickeres Haus und einen besseren Beruf, einen grösseren Kühlschrank und ein teureres handy. Wir finden diese Entwicklung entsetzlich deprimierend und reden gerne von den nicht-materiellen Werten, von Musse und vom freundschaftlichem Zusammensein, von Hilfsbereitschaft und vom Staunen können, doch in unseren Schulen gewöhnen wir den Kindern und Jugendlichen genau diese Dinge ab. Wer zufrieden vor sich hin träumt wird ermahnt, weil er nicht aufpasst, und wer dem Nachbarn bei einem Test ein wenig hilft wird gerügt, weil er betrügt, und wer nach der Pause nicht ins Schulzimmer zurückkommt, weil es draussen mit den Freunden gerade so gemütlich ist, der wird verwarnt und wenn er's wieder tut, dann fliegt er! Wer seine Freunde dagegen stehen lässt, sobald die Klingel ertönt, und wer dem in Not gerat'nen Nachbarn seine Hilfe verweigert, indem er mit seiner Hand ängstlich verdeckt was er schreibt, wer bereit ist, auch dann noch weiter zu lernen und zu büffeln, wenn er eigentlich längst satt, ja übersatt ist, und wer nur mit den besten Noten zufrieden ist, obwohl "genügend" doch genügen würde, der gilt als guter Schüler. Er wird zum Vorbild, dem man nachzueifern hat. So wird man abgeschliffen und in die vorgegeb'ne Form gepresst, oder wenn man allzu resistent ist, aussortiert und abgeschoben! Und dieses ABC der Werte, welches unsere Schulen zu einem so gräulichen Schlachtfeld machen - nicht offiziell, aber de facto -, dieses ABC der Werte, das uns im Laufe dieser Prozedur so selbstverständlich geworden ist, wie unser Atem und der Himmel über uns, dieses "höher", "schneller", "mehr", welches unsere Fabriken und Büros antreibt, gilt auch in der Welt der Entwicklungszusammenarbeit. Wir kommen als kleine und grosse Missionare und Missionarinnen der Effizienzsteigerung und der Profitmaximierung; wir predigen oft implizit und ohne es zu wissen, Unzufriedenheit mit dem Status quo; wir predigen Konsum und Aufstieg als Weg zum Glück und zur Erfüllung. In vielen Ländern Afrikas ist das noch kein Problem, denn der Mangel ist dort so gross, das ein wenig mehr Komfort gerecht scheint. Doch wo ist die Grenze, wo wir nicht mehr helfen, weil man uns fragt und weil uns Hilfe sinnvoll scheint, sondern weil wir zum Helfen ausgesandt wurden; weil wir dazu gezwungen sind (oder es doch meinen), wenn wir den Job behalten wollen; weil uns die Rolle des überlegenen Helfers schmeichelt; weil es im Programm so vorgesehen ist? Wo ist die Grenze, wo Hilfe zu Manipulation und zu Verführung wird? Oder anders gefragt: Wie ernst nehmen wir die Bedürfnisse der Menschen mit denen wir arbeiten tatsächlich? Wie steht es mit dem Ideal des Dialogs in einem machtfreien Raum, einem Raum, wo menschen auf menschen stossen, nicht auf mehr oder weniger beredte Missionare, die ihre ZuhörerInnen mit der Aussicht auf ein paar billige Möbel oder ein Auto für sich gewinnen, so wie man sie früher mit ein paar Glasperlen oder einer Flasche Schnaps für sich gewonnen hat.

Entwicklungszusammenarbeit als Ort der Begegnung und des gemeinsamen Nachdenkens darüber, was wir auf dieser Erde wollen -, das sind grosse Worte, doch sie gehen in der Richtung, in der ich gehen möchte. Sie bedeuten, unseren Führungsanspruch aufzugeben, nicht nur äusserlich, im Sinne eines politischen und wirtschaftlichen Machtabbaus, sondern auch innerlich. aufgabe des Gefühls, den anderen in Sachen Bildung und Kultur überlegen zu sein und die Möglichkeit ernst nehmen, dass wir mindestens ebenso sehr auf Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit angewiesen sind wie diejenigen, an die wir in diesem Zusammenhang immer denken. Unsere Zivilisation hat tatsächlich einiges zu bieten; doch ich glaube, wir haben noch immer nicht begriffen, wie destruktiv diese Zivilisation in den letzten 500 Jahren geworden ist, und wie dringend wir - die Helfer - selber der Hilfe bedürfen, um zu einer weniger zerstörerischen Lebensweise zurückzufinden.

Wie gesagt, ich will Ende November wieder für ein paar Monate nach Makalundi. Dabei wird sich zeigen, was im Alltag aus diesen etwas pompös und allgemein klingenden Worten wird und welche "Projekte" sich während meines Dortseins für mich und andere daraus entwickeln. Denn ich bin nicht gegen jede Entwicklung! Im Gegenteil. Aber ich möchte individuelle Entwicklung, nicht Entwicklung nach vorgegebenem Plan. Entwicklung von innen heraus, aus Überzeugung, aus Einsicht, aus Freude, nicht aus Angst und Anpassungsdruck oder weil wir den millionenteuren Verführungen von Bolly- oder Hollywood nicht länger widerstehen können. Es klingt, ich weiss es banal, doch es ist alles andere als banal. Es geht um ein grosses Umdenken, eine Art des Umgangs miteinander, die eine alle Lebensbereiche umfassende Transformation zur folge hätte, eine Transformation, zu der heute die wenigsten wirklich bereit sind, weil wir nicht wissen, was sie für uns bedeuten würde, und weil wir als instinktgebundene Wesen konservativ sind, aber auch, weil wir in unserem beruflichen Leben oder im Laufe unserer Schulzeit und Ausbildung den freien Umgang miteinander kaum je erlebt haben, sodass wir keine Vorstellung davon haben, wie die entsprechenden Prozesse angeregt und in Gang gehalten werden, und welche Kräfte sie in uns freizusetzen vermögen. Denn es sind kleine Schritte, um die es hier geht, kleine Veränderungen im alltäglichen Miteinander - eine sanfte Revolution, kein grosser und plötzlicher Umsturz. Dabei ist allerdings auch Handwerk angesagt: die Kunst des Dabeiseins, des Anteilnehmens und Zuhörens, dazu ein wacher Verstand und Problemlösungsfantasie und ähnliche "Soft skills".

Mal sehen, wie sich all diese Worte im kommenden Winter bewähren und was für Früchte auf ihrem Boden wachsen werden!

©Martin Näf 2012