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An Daniel C., 21. März 2003, 15:55Uhr

Hoi Du, spätnächtlich Schreibender! Good morning and wellcome on this planet! Der Sozial-Fall ist voll im Gang. Ich falle und falle und nichts geschieht. Kein Schwein ruft mich an, alle, die mir versprochn haben, mir demnächst dies und das zu sagen und mich damit wieder auf die Piste zu jagen, sie alle schweigen. Da habe ich die Gelegenheit benützt und wieder Mal einen Anlauf genommen, mein Wohn- Gäste- und Musikzimmer neu einzurichten. Das gelbe vom Ei ist's ja nicht, was da raus gekommen ist, aber es war immerhin ein Versuch. Heute Abend kommen Roswita und Hans, zwei Freunde aus Deutschland, die ein paar Tage bei mir sein werden. Vielleicht haben die ja eine Idee und können dann gleich beim Möbelrücken helfen. Hei Du, hesch guet gschlofe? Hast Du diese Nacht etwas schöneres geträumt als gestern?

Du hast vor einiger Zeit einmal geschrieben, dass Du meist sehr schöne Träume hast? Und, wie war's diese Nacht? Ich selber erinnere mich nur selten an meine Träume. Eine Weile habe ich versucht, sie aufzuschreiben, um endlich einmal zu den Fundamenten meiner Seele vorzustossen. In der Zeit hatte ich den Eindruck, mehr und lebendiger zu träumen. Doch seit das Interesse am Unterbau meiner Seele wieder auf das übliche Mas zurückgeschrumpft ist, sind auch im Traumland wieder die alten Zustände eingezogen. Die letzten Tage und Wochen habe ich so gut wie keine Traumerinnerungen. Ich habe überdurchschnittlich gut geschlafen, war nur oft ein oder zwei Stunden zu früh wach, hätte gerne noch weiter geschlafen und konnte nicht. In meinem Alter kriegt Mann das. Heisst sich senile Bettflucht. Wenn ich träume, dann ist's in der Regel öder Alltagsschrott. Nichts aufregendes, weder so noch so. Ich vermute, dass dies mit der Art und Weise zu tun hat, wie ich in den letzten Jahren gelebt habe - ziemlich rational, ziemlich stark von dieser monströsen Geheeb-Arbeit absorbiert und an meinem "Innenleben", an Ängsten, Sehnsüchten, Träumen, Wünschen nicht sehr interessiert. Das könnte sich jetzt wieder ändern, sollte sich vielleicht auch, denn letztlich leben wir ja davon, dass wir leben und nicht oder doch nicht nur davon, dass wir unsere Pflicht tun und nett sind.

Über meine Theater- und Kabarett-Versuche zu schreiben war richtig aufregend. Da spür ich schon so was wie lebendiges Leben jenseits braver  Pflichterfüllung. Ich hatte zwar bis jetzt immer das Gefühl, dass ich durchaus lebe und mich nicht nur dort tummle, wo ich hinbefohlen werde. Aber vielleicht spielt "Pflichterfüllung" im Sinne des sich Beugens und Bravseins in meinem Leben doch eine grössere Rolle als ich glaube. Ich habe während der vergangenen zwei drei Tage hie und da daran gedacht, wie wichtig "Arbeit" in meinem Leben eigentlich war, Gut sein, in dem was ich tue. Wie wenn ich über diese Schiene - also über "Sachleistung" - versucht habe, meine Unsicherheit im Bereich Liebe und Sexualität zu kompensieren.

Du hast einmal davon geschrieben, dass Du mit 13 oder 14 zu blühen begonnen hast. Das Wort fiel mir gleich auf. Es klingt irgendwie provozierend, ich möchte es gerne etwas relativieren, ihm etwas von dem planlos wuchernden nehmen. Blühen mit 13 oder 14 - das klingt für mich wie Spott, denn wenn ich irgendwann NICHT geblüht habe, dann mit 13 oder 14. Hast Du in dieser Zeit wirklich geblüht, d.h. hast Du gespürt, wie du aufblühst, wie Deine Sexualität erwacht etc. und hast Du das genossen?

Ich selber habe glaube ich 1. nur sehr wenig davon wahrgenommen und das wenige, was ich wahrgenommen habe, hat mich so entsetzt, dass ich es gleich wieder verdrängt habe. Nein echt. Das war, rückblickend gesehen, eine sehr schwierige, sehr tote Zeit. Gelebt, d.h. mit anderen kommuniziert, habe ich nur über Schule und allenfalls noch über Klavierstunden, d.h. nur über Sachleistung. Andere Themen waren Tabu, nicht nur gegenüber meinen Eltern oder meinen Brüdern, sondern auch gegenüber meinen Mitschülern (Mitschülerinnen gab's in dieser Schule keine) und den Lehrern.

Ich erinnere mich an ein paar ganz zaghafte, vorsichtige Gespräche über Sexualität. Ich habe dabei meine Ohren immer weit aufgemacht und sehr genau  hingehört, aber Gott bewahre nie etwas von mir gesagt oder gezeigt. Kein Mü eines persönlichen Bedürfnisses, kein Zeichen eines Wunsches oder einer Sehnsucht. Dabei ging's damals überhaupt nicht um ein Coming Out im Sinne eines grossen Bekenntnisses zum Schwulsein. Das hatte ich noch lange nicht begriffen. Es ging um viel konkretere Dinge. Ein freundschaftliches Wort, eine Hand auf der Schulter, die Fortsetzung des Gespräches über Sex.

Die Zeiten waren für mich wohl doppelt schwierig dadurch, dass ich mit 12 1/2 blind geworden bin. Vorher konnte ich mich in bekanntem Gebiet noch ziemlich "normal" bewegen, konnte die üblichen Spiele mitspielen, auch wenn ich z.B. den Ball beim Fussballspielen nie sah. Ich habe ja gesehen, wo die anderen alle hinrannten und da bin ich dann eben auch dorthin gerannt und irgendwann sah ich dann auch den Ball. Das ging also. Ich war, sozial gesehen, kein Aussenseiter. Dass ich im Unterricht eine Schreibmaschine und eine Blindenschriftmaschine benützt habe, das war keine besondere Sache. Das war einfach so. Als ich dann aber nach zwei Monaten Spitalaufenthalt wieder in dieselbe Klasse zurückkam, da war alles anders: Ich stand im Leeren, sah während der ersten Monate allenfalls noch die Umrisse eines Fensters oder einer Türe, wenn es dahinter sehr hell war, sonst nichts. Um mich herum standen die Klassenkameraden - alle mehr oder weniger verlegen. Ich sah sie nicht. Ich war zwei Monate weg gewesen. Sie wollten mich begrüssen, aber abgesehen vom Sehen, was sagt man denn da. Die meisten von uns kamen in der Zeit sowieso gerade in die Pubertät, wo alles irgendwie anders und etwas peinlicher war als früher ... Ich versuchte, locker zu sein und cool zu tun. Ich war ja wieder da. Und jä nu, s Läbe goht witer! Aber in mir war nur Verlorenheit und Scham. Doch darüber redete man nicht.

Überhaupt redete man in diesem Gimmi über nichts als über die nächsten Examen, die erhaltenen Noten und ähnlichen Stuss. Später sprachen wir dann auch über Karajans neueste Einspielung der 7. von Beethoven und solche hochgeistigen Dinge. Aber über Gefühle, Bedürfnisse, Träume, Ängste ... vergiss es. Mir ging's ja gut. Ich war ein guter Schüler, brav, konsturktiv, aufgeweckt und ein richtiges Wunder, wenn man denkt ... er sieht nichts! Das hat mir geschmeichelt ... das war wenigstens etwas. Zuhause war's ähnlich. Mein Vater hat zwar hie und da versucht, mich (und auch meinen etwas älteren Bruder) auf unsere Gefühle hin zu befragen, doch er tat das wohl eher, weil er als Psychologe damals gerade entdeckt hatte, wie wichtig das auch für ihn und seine Entwicklung war. Sonst war die Atmosphäre bei uns zu Hause nicht sehr gefühlvoll - auch nicht kalt oder streng - aber - ja, vielleicht doch irgendwie kalt, sachlich. Sachliches interessierte. Da wurde ich auch gefordert und gefördert und erhielt viel Ermutigung und Anregung. Aber schon mit dem Musikmachen war ich in der Familie eigentlich allein. Eben. So etwas wie "blühen" auf einen Menschen bezogen, wäre in diesem Milieu eine Obszönität gewesen. Blühen! Das könnte ja mit Körper zu tun haben. Da könnte ja was in Fluss kommen. Gefühle würden aufsteigen und am Ende würden gar die Leiber zum Leben erwachen! Nein nein. Geblüht wird nicht. Pfui! Schon gar nicht, wenn da auch Sex mit ins Spiel kommt.

Nach dem Gimmi ging ich ein Jahr nach Eugene, Oregon (USA) an die dortige Uni. Dort habe ich glaube ich zum ersten Mal zu sagen getraut, dass ich vielleicht "homosexuell" (o pfui!)  sei. Das war in einer Selbsterfahrungsgruppe. Die anderen sagten, o, yes, okay. Und das war's. Danach ging's noch einmal fast zehn Jahre, bis das einmal einigermassen draussen war. Aber noch heute ist das mit dem Blühen eine suspekte Sache. Noch blühe ich schüchtern und auf Widerruf, immer bereit mich in den vernünftigen, interessierten Martin der Gimmizeit zurückzuverwandeln, damit ich's mir mit den Oberen nicht verderbe und dann auf einmal gar nichts mehr habe und ganz allein dastehe ohne Freunde, ohne einen "Body", wie man einen guten Kumpel in Amerika nennt. Olala, Dänu. Jetzt wird's dann vielleicht wirklich Zeit, dass wir mal über die Erfindung des Telefons nachdenken. Auch Eisenbahnen soll es ja geben und die Strecke nach Bern ... ich weiss nicht, aber mir sheint, sie sei bereits vor einigen Jahren eröffnet worden. Kann das sein?  Ganz liebi Grüess, Martin