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Ursprüngliche und pervertierte Leistungslust

Lernen ist nicht gleich lernen. Es gibt vielmehr grosse qualitative Unterschiede in dem, was wir als Lernen bezeichnen. Die Feststellung ist banal, doch sie ist wichtig und wird im Rahmen von Diskussionen zum Thema Schule bisher viel zu wenig ernst genommen.

Lernen ist nicht gleich lernen. Es gibt vielmehr grosse qualitative Unterschiede in dem, was wir als Lernen bezeichnen. Die Feststellung ist banal, doch sie ist wichtig und wird im Rahmen von Diskussionen zum Thema Schule bisher viel zu wenig ernst genommen.

Wir müssen begreifen, dass das konsumierende Lernen, auf dem unsere moderne Massenschule heute beruht, nur sehr wenig mit den idealistischen Vorstellungen zu tun hat, welche die meisten von uns mit dem Begriff Lernen, Bildung oder Schule verbinden. Wir müssen begreifen, dass der langjährige direkte und indirekte Lernzwang, dem wir unsere Kinder aussetzen, deren Verhältnis zu sich selbst und zu der sie umgebenden Welt nachhaltig beeinflusst. Dabei scheinen die Veränderungen dort, wo Bildung scheinbar gelungen ist, oft am gravierendsten, denn aussengesteuertes Lernen führt im Grunde immer zu einer Gewöhnung an eine uns letztlich fremde (und in gewissem Sinn auch gleichgültige) Welt von Scheinwichtigkeiten.

Wenn wir gute SchülerInnen sind, so lernen wir mit dem uns gebotenen "Stoff" geschickt zu jonglieren. Wir lernen, andere mit unserem "Wissen" zu beeindrucken und es karrierewirksam einzusetzen. Dabei geht es nicht mehr wie vor der Zeit unseres grossen Trainings um die Lust am Begreifen und um die existenzielle Bedeutung oder die Wahrheit unseres "Wissens", sondern hauptsächlich um die Effekte, welche wir damit erzielen. Das Spiel kann dennoch aufregend und befriedigend sein, doch handelt es sich bei den hier aktivierten Gefühlen um etwas, was man als sekundäre Motivationen bezeichnen könnte. Wir tun das, was wir tun, nicht mehr in erster Linie, weil uns die Sache Spass macht oder weil wir sie für wichtig oder richtig halten, sondern weil wir auf Anerkennung und Erfolg hoffen. Unsere ursprüngliche Neugier, unser Wunsch zu begreifen und unsere Suche nach dem persönlichen oder gesellschaftlichen Sinn einer Beschäftigung und andere, innere Beweggründe kommen bei dieser Art des Lernens allenfalls gelegentlich und eher zufällig ins Spiel.

Gezwungen, uns in der Schule während Jahren fast ausschliesslich an äusseren Motiven zu orientieren, verkümmert nicht nur das, was wir unser inneres Leben, unseren eigentlichen Kern nennen können. Gleichzeitig damit verkümmert letztlich auch jede verlässliche Verbindung mit der Welt. Plötzlich scheint uns alles "wahr" und "wichtig", was uns von Aussen (von den Lehrkräften, von unseren Vorgesetzten und anderen Autoritäten, von dem Autor eines Buches, von der Werbung oder der Mode) als wahr und wichtig vorgegaukelt wird.

Die instinktive Gewohnheit kleiner Kinder, sich bei der Entdeckung der Welt ganz auf ihren persönlichen "Lehrplan", ihre Neugier und Lebenslust  zu verlassen und dabei keine Kunst unversucht und keine Weisheit ungeprüft anzunehmen ist im Verlauf unserer Entwicklung zum Erwachsenen weitgehend verkümmert. Wir mussten zu viel in zu schneller Folge übernehmen, wurden zu früh und zu sehr in das System von Mitmachen und Nachahmen, von Lob und Tadel, durch welches das "Lernen" in unseren Schulen gesteuert wird,  eingebunden. Was von der ursprünglichen Intensität und Ernsthaftigkeit, mit der wir uns als Vorschulkinder mit der Welt befasst haben, bleibt ist oft nicht mehr als ein difuses Gefühl der Orientierungslosigkeit und die Ahnung, im Grunde nicht dort zu sein, wo man sein möchte, und das, was man zu wissen meint, nicht wirklich zu wissen. Wer als Lernender nicht langsam sein darf, wo er langsam sein muss, wer nicht "nein" sagen darf, wo er "nein" fühlt, entwickelt allenfalls eine gewisse Virtuosität im Umgang mit schablonenhaftem Wissen. Wirkliche Erkenntnisse, wirkliches Verstehen und echtes Denken entwickeln sich in dieser Atmosphäre nicht oder doch nur ansatzweise.

Der Physiker und Philosoph Ernst Mach gehört zu den Schulkritikern, die diesen Sachverhalt bereits früh erkannt und beschrieben hat. So stellte er in den 1880erjahren fest: "Ich kenne nichts Schrecklicheres als die armen Menschen, die zu viel gelernt haben. Statt des gesunden kräftigen Urteils, welches sich vielleicht eingestellt hätte, wenn sie nichts gelernt hätten, schleichen ihre Gedanken ängstlich und hypnotisch einigen Worten, Sätzen und Formeln nach, immer auf denselben Wegen. Was sie besitzen, ist ein Spinnengewebe von Gedanken, zu schwach, um sich darauf zu stützen, aber kompliziert genug, um zu verwirren."[1] Und Nietsche stellte fest: "Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennenlernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntnis schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab".[2]

"Man kann etwas beherrschen", so schrieb Horst Rumpf über die Ergebnisse der modernen, beschleunigten und geglätteten Form der Bildung 1981, "ohne je in ihm präsent geworden zu sein. Man kann etwas lernen, studieren, abgeprüft bekommen — ohne es im Ernst zu kennen, ohne wirklich von ihm berührt worden zu sein. Man kann souverän über Erkenntnisse verfügen, sie anwenden, vielleicht auch weiterführen - und unversehens merken, daß sie einem gleichgültig sind; daß man persönlich keinerlei Haftung für ihre Triftigkeit oder Bedeutung einzugehen bereit oder imstande wäre. Sie sind einem egal. Andere, ferne Instanzen und Autoritäten sind verantwortlich. Ich fühle mich nicht zuständig (in der Frage, ob Goethe gut war; ob die Erde sich dreht; ob es Atome gibt; ob das Beharrungsgesetz stimmt) -, und niemand kann mich persönlich zur Verantwortung ziehen. Wofür gibt es schließlich Experten und Lexika? Man kann 13 oder 18 Jahre als Schüler, als Student in unseren Bildungseinrichtungen hauptberuflich beschult, instruiert, ausgebildet werden, ohne jemals mit eigenen Händen, aus eigener Kraft, aufgrund der Erfahrungen der eigenen Sinne und der daran geknüpften Gedanken etwas Handgreifliches getan, gestaltet, hergestellt, begriffen zu haben."[3]