www.martinnaef.ch / 1.2: Briefe > An Franck W., im Dezember 1990
.

An Franck W., im Dezember 1990

Lieber Franck - o man!

Wiedermal ein Tag des Seufzen's, ein zäher, trauriger, leerer Tag wie schon lange nicht mehr! Gestern Abend war Pina hier und hat ein wenig von Kalifornien und ihren Begegnungen und Erlebnisen erzählt. 6 Tage in San Diego einfach Sein, mit drei Männern, das habe ihr unglaublich gut getan. Nichts tun müssen, nicht ständig Action und Rummel, Zeit zum Träumen, zum einfach Dasein haben, das sei sehr schön gewesen. Und in die Wüste habe sie sich verliebt und ein Bisschen offenbar auch ins Massieren.

Ich bin - ich erzähle dir einfach ein wenig; ich will nichts spezielles von dir!, keine Auskunft, nichts - ich selbst bin vor 6 Tagen vom Hasliberg und der Ecole nach Basel zurückgekehrt. Ich war im Oktober und November die meiste Zeit dort oben und habe vor allem gegen Schluss auch viel Zeit gehabt, mit der Familie, mit Klaus und einer neuen Mitarbeiterin, aber auch mit den Kindern zu sein.

Schon als ich am vergangenen Samstag Vormittag wegfuhr, spürte ich wie mir der Abschied diesmal schwer wurde. Innerlich war ich immer noch auf dem Berg, und ich scheine bis jetzt noch nicht recht von da runter gekommen zu sein. Ich habe die ganzen Tage seither nur wenig gemacht, ein bisschen aufgeräumt, ein paar Briefe geschrieben, ein paar Telefonate erledigt, doch da war nichts, was mich wirklich gepackt und ausgefüllt hat. - Ja. ich vermisse diesmal wirklich meine "Familie"; ich hab's gespürt als ich weg­ging. Ich vermisse die Familie und (für mich eher ungewöhnlich) auch die ziemlich strenge Tagesstruktur der Ecole, die mich sehr verlässlich auch durch mittelmässige und langweilige Tage schiebt und zieht. Wenn ich hier keine Lust habe und nichts tun muss, so passiert gqar nichts. Keiner holt mich zum Essen ab, wenn ich erst eine Stunde später aufstehe gibt's noch genauso viel oder so wenig Frühstück, wie wenn ich eine Stunde früher aufstehe. - Und menschlich scheint es sehr leer hier. Kein Ives, der von morgen früh bis zum ins Bett gehen immer mit mir sein, mit mir Schlitten fahren, mit mir Schach spielen, mit mir schwatzen will; keine Johanna, die das und jenes wissen will, die lacht und einem dann wieder anmotzt, die mit ihrer Gitarre ankommt, um das, was wir nach dem Frühstück kurz versucht haben, nochmals zu probieren, die dabei plötzlich ganz weich und still erscheint, so anders als sonst. Kein Klaus, der durch die dünne Wand fragt, ob er seinen Wasserkocher anmachen kann oder ob ich gerade dran bin. Wir waren einmal beide zusammen am Wasser kochen, und die Sicherung das prompt nicht verkraftet hat in unserem alten Turmhaus. Keine Regi, die sich freut,

wenn ich auftauche, kein Kaspar mit seinen Sprüchen, seiner Gutmütigkeit, seiner Freude an der Revolution und am Fluchen. Es scheint als ob ich diesmal - wohl auch deshalb weil ich mehr freie, nicht von Arbeit belegte Zeit als üblich hatte - besonders stark mit der ganzen Gesellschaft im Turmhaus zusammengewachsen bin. Der Abschied wurde mir auch deshalb besonders schwer, weil ich nun doch ziemlich deutlich sehe, dass ich in den nächsten Monaten nicht mehr so oft und lange in der Ecole sein werde, sein kann, wie noch in diesem Herbst. Der Abschied hat also etwas endgültigeres als die früheren Abschiede.

Merkwürdig, was für eine Sehnsucht in mir geweckt wird durch das Zusammensein mit den Kindern bzw. den Jugendlichen dort oben. Ich kenne diese Sehnsucht ja schon von der Zeit, wo ich regelrechter Mitarbeiter in der Ecole war. Ich denke mir, dass es mit der Zeit zu tun hat, in der ich selbst ein solcher "Jugendlicher" war, der Zeit, als ich 13, 14, 16 Jahre alt war.

In meiner Erinnerung kommt mir diese Zeit immer wieder als eine ganz einsame und traurige Zeit vor, geprägt vom Gefühl, im Grunde nicht dazu zu gehören. Ich hatte Kontakte mit andern Jungen innerhalb und ausserhalb meiner Klasse, klar  (mit Mädchen so gut wie nicht, das wohl auch, weil wir damals in unserem humanen Gymnasium nur Jungens waren), doch in keiner Richtung das Gefühl wirklicher Freundschaft. Wenn ich jetzt in der Ecole aufkreuze nach 6 oder 10 Tagen Abwesenheit, da war sofort Ives da, hat sich gefreut, dass ich endlich wieder im Haus bin, wollte mir gleich alles erzählen, wollte am Abendessen neben mir sitzen, und auch die andern haben sich gefreut, mehr oder weniger deutlich.

Aber damals war eine riesen Distanz zu allen Menschen um mich her. Von meinen "Freunden" habe ich mich vor den Ferien allenfalls mit einem militärisch- griffigen Händedruck verabschiedet und, nach 3 oder 6 Ferienwochen, wenn's hoch kam mit einem Box oder einem Schlag auf die Schultern begrüsst, und dazu hiess es vielleicht: "na dann, schöne Ferien gehabt" oder "so, auch wieder da, Alter?" Keine Zärtlichkeit, kein sich gegenseitig Halten, in die Arme nehmen, sich Drücken, auch kein sich Freuen, Freude wirklich zeigen.

Heute kommt es mir so vor, als ob ich in der Ecole nachzuholen versuche, was ich damals vermisst habe. Ich muss nur ein wenig dort sein, nicht allzu beschäftigt mit Arbeit, sondern eben dort und zur Verfügung und schon beginnt um mich herum das Gefühl zu entstehen, dazuzugehören.

Aber dann auch die Schüchternheit: Freundschaft, Liebe. Bin ich in den 15- jährigen, hochnervösen, ziemlich einsamen Ives verliebt? Ja und nein. In ihn wohl nicht, aber er drückt all die Knöpfe in mir, bei denen "Liebe" in mir angesprochen wird. Also doch verliebt, unglücklich verliebt, nicht realisierbar, nicht einmal aussprechbar? ja, auch. - Und dann "Familie": Brüder und Schwestern haben, Geschwister. Zu diesen Geschwistern gehören. Das ist ein Gefühl, das ich so auch nie hatte und auch heute nicht habe. Also auch in dieser Hinsicht wird bei mir, wenn ich in der Ecole bin, ein Defizit aufgefüllt, eine alte Wunde  mit Balsam geheilt.

Wenn ich da oben unter all den Jugendlichen bin und mich darüber freue, diesmal auch dazuzugehören, so merke ich natürlich immer wieder, dass ich irgendwo auch nicht dazugehöre, dass ich inzwischen doch ein ganzes Stück älter und anders bin. Ein Gefühl von Fremdheit und Distanz, milde, nicht schmerzhaft, aber doch spürbar, ist da und die praktische Frage, womit verbringen wir konkret die Stunden, die wir offenbar miteinander verbringen wollen. Kann ich sie überhaupt einbringen? Um was ginge es dann? Mehr Nähe? Zärtlichkeit? Verbindlichkeit? Gemeinsam im tiefen Loch der Liebe versinken, sich in den Himmel der Gefühle fallen lassen. Nein: das geht nicht! Geht nicht aus äusseren Gründen - Reaktion der Umwelt -, geht aber wohl auch nicht (oder nicht lange) aus inneren Gründen. Aber wo ist da die Grenze? Wo ist die Grenze - diese Frage hat mich in den letzten Wochen oft beschäftigt und dies nicht nur meinetwegen, sondern als wichtige Frage an uns Erwachsene überhaupt - wo ist die Grenze, an der "Partnerschaft" mit Kindern nicht mehr geht? Wo ziehe ich mich aus Beziehungen mit Kindern oder Jugendlichen zurück, weil diese "dafür zu jung sind", wie ich sage, dabei fehlt es mir einfach an Mut offener und ehrlicher mit diesen "Kindern" umzugehen? Was heisst, Jugendliche ernst nehmen? Zurückhaltung aus Angst kenne ich gut: statt mich zu zeigen, zu exponieren, sage ich: naja, sie sind dafür zu jung, es wäre "zu viel" für ihn oder sie.

Dass wir viel Geld für sie ausgeben, indem wir ihnen Schulen, Kinderkrippen und anderes bauen, bedeutet ja noch nicht unbedingt, dass wir sie besonders ernst nehmen. Wo lassen wir uns wirklich auf Begegnungen, Beziehungen ein, Begegnungen und Bezie­hungen, in denen es auch um Liebe, um Gefühle, Nähe, Distanz, Zärtlichkeit, Sexualität geht, aber nicht nur darum; es ginge auch um eine gemeinsame, ständig neu entstehende Definition von "Wahrheit", um das gemeinsame Gestalten unseres persönlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es ginge sowohl bei den Gefühlen, bei der wissenschaftlichen Erkenntnis, bei der "Wahrheit" und beim Zusammenleben um das gemeinsame suchen und festlegen von Regeln und Normen, um das Pflegen alter und neuer Beziehungen.

Ich habe dir, wenn ich mich recht erinnere, bereits einmal davon erzählt, dass Geheeb immer wieder in seiner unscheinbaren Weise bemerkt hat, dass die Kinder der am meisten unterdrückte Teil unserer Gesellschaft seien, und dass es ihm um eine umfassende "Abrüstung" der Erwachsenen gegenüber den Kindern gehe. In einigen Ländern geht man nun den umgekehrten Weg und versucht, die Kinder mit denselben Waffen wie die Erwachsenen auszustatten, indem man ihnen dieselben Rechte, die den Erwachsenen verfassungsgemäss zustehen, gewähren will.

Du denkst vielleicht: jetzt wird er allgemein, abstrakt. Wo bleibt, fragst du mit  dem Eifer des humanistischen Psychologen, die "persönliche Betroffenheit", die "emotionale Beteiligung"! Wo bleibt "der Mensch Martin"!? Eine gute Frage. Das weiss ich im Moment auch nicht. Wo ist er geblieben? Wo ist er? Wo find ich ihn wieder, den guten, treuen mit seinem Mut, seiner Neugier, seiner Nachdenklichkeit. Im Augenblick scheint der eben noch anwesende Mensch Martin sich in Gedanken aufgelöst zu haben. Der Körper ist zwar noch da und der Körper sei ja, so steht's auf dem T- Shirt, das Pina ihm aus Esalem mitgebracht hat, sein Haus und das Tor zu seiner Seele. Der Körper hat eben Telefonierbewegungen ausgeführt, scheinbar ohne grossen Erfolg, denn er hat den Hörer wieder aufgelegt ohne gesprochen zu haben und sich danach ein Basler Läkerli in den Mund gesteckt. - Aber eben: wo ist die Seele! Und was tut er für sie?

Ich sehe gerade und erschrecke, wie lang dieser Brief inzwischen geworden ist! O Franck - , es gäbe ja noch viel zu erzählen und zu klönen, zu träumen und zu wünschen! Dass ich meine Querflöte sehr vermisse, z.B.; du erinnerst dich, wir waren im Mai zusammen in dem Geschäft, wo ich sie gemietet habe und Anfang November habe ich sie zurückgebracht. Dazwischen liegt eine ganze zarte Romanze, die ich nach anfänglich eher kühlen und fruchtlosen Annäherungsversuchen mit diesem Instrument hatte! O! Vielleicht schenke ich mir auf Weihnachten oder auf den 11. Januar oder den 35. Mai eine Flöte! Ja

auch davon, dass ich meinen französischen Pass noch immer nicht gekriegt habe, könnte ich erzählen und von einigen schönen und einigen frustigen Erlebnissen auf meiner - , naja, sagen wir mal ?Jagd? nach Glück, Sex und "Liebe"! Und dann die Platznot in meinem Zimmer! Immer mehr Zeug's hier und eine Infrastruktur, die der Entwicklung schon seit Jahren immer um 6 bis 9 Monate hinterherläuft. Dann von Urs, dem WG-Partner,den ich zwar in letzter Zeit hin und wieder gesehen, aber nicht wirklich gespürt habe (was wohl auch er über mich sagen würde). Von Pina, die gestern (o Erfolg von Esalem) hier bitterlich geweint und geflucht und geseufzt hat wegen Urs und sagte, dass sie geradezu auf dem Weg sei, ein Mensch zu werden, ein Mensch, der nicht nur lachen, sondern auch weinen könne! Und von der Kälte - ja davon kann man heute besonders intensiv berichten, denn es war ziemlich kalt den ganzen Tag ... Aber lassen wir das mal alles! Für heute will ich dich nur noch in die Arme nehmen und ein wenig festhalten.

Martin