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Freiwillige Schule?

1972 erschien eine Studie mit dem Titel "Grenzen des Wachstums", in welcher der "Club of Rome", ein Zusammenschluss verschiedener WissenschaftlerInnen, an Hand von Modellrechnungen zu zeigen versuchte, zu welchem Zeitpunkt die Ressourcen unserer Erde erschöpft wären, wenn es uns nicht gelingt, unsere auf ständigem Wachstum und auf Profitmaximierung beruhende Wirtschaftsweise den physischen Grenzen unserer Erde anzupassen und das unkontrollierte Bevölkerungswachstum zu stoppen. Das Buch wurde sofort zum Best Seller und sein Titel zum bis heute geläufigen Schlagwort. Die vom Club of Rome aufgezeigten Probleme beunruhigten damals selbst gut bürgerliche Kreise, die auf die von der Studentenbewegung der 1960er Jahre ausgehende linke Gesellschaftskritik nur mit Abwehr reagiert hatten. Die Beunruhigung erreichte auch meine Familie, ja sie war sogar hinter den ziemlich dicken Mauern des ehrwürdigen Basler humanistischen Gymnasiums, dessen letzte oder zweitletzte Klasse ich damals besuchte, spürbar. In gewissem Sinn markiert dieses Buch und die von ihm ausgelösten Diskussionen den Beginn meines Erwachsenenlebens.

Damals begriff ich zum ersten Mal, dass unsere Welt in Gefahr ist. Ich begriff, dass die Ressourcen unserer Erde begrenzt und wir deshalb zu einem vernünftigen Umgang mit diesen Ressourcen finden müssen, wenn wir unseren Planeten nicht weiter destabilisieren und unsere eigenen Lebensgrundlagen auf's Spiel setzen wollen. Dabei war ich von Anfang an davon überzeugt, dass technische Massnahmen allein nicht ausreichen würden, um die drohende Katastrophe zu vermeiden. Und vermeiden wollte ich die Katastrophe unbedingt.

In Goethes "Zauberlehrling" wird das Problem unserer Ohnmacht in plastischer Weise deutlich. So wie dieser, scheinen wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr los zu werden. Anders als Goethes Zauberlehrling, der noch einmal mit dem Schrecken davon kommt,  können wir jedoch nicht auf den alten Magier hoffen, der die von uns herbei geruf'nen Geister wieder bannt. Das müssen wir schon selber hinkriegen. Dabei ist das Erschrecken vielleicht kein schlechter Anfang, denn hätte der Zauberlehrling seinen Gefühlen nicht nachgegeben, sondern aus Scham und aus Stolz so getan, als ob er die Sache schon noch in den Griff kriegt, dann wäre der alte Hexenmeister vermutlich zu spät gekommen und sein Haus wäre futsch gewesen. Da ich dies vermeiden wollte und will interessieren mich seither die Zusammenhänge zwischen der modernen, auf Gehorsam und Anpassung beruhenden Massenschule der industrialisierten Welt und den vom Club of Rome aufgeworfenen Problemen.

Dass es solche Zusammenhänge gibt, spürte ich deutlich. Ich merkte jedoch auch bald, wie schwer es uns fällt, diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen und in Sachen Schule klartext zu reden. Nicht dass es verboten wäre, die Schule zu kritisieren. Im Gegenteil. In gewissem Sinn meckern wir fast alle andauernd an der Schule herum. Damit machen wir uns zwar nicht immer beliebt, aber im Prinzip ist dies durchaus erlaubt, ja sogar erwünscht, denn indem wir eine andere, bessere Schule verlangen, tragen wir mit dazu bei, dass die Frage nach der grundsätzlichen Notwendigkeit (und Legitimität) dieser Institution in unserer Gesellschaft bisher so gut wie nicht diskutiert wird. Im Gegenteil: Wer behauptet, dass die Schule in ihrer heutigen Form, d.h. als eine auf Befehl und Gehorsam beruhende, zentral organisierte Belehrungsanstalt, abzulehnen sei, weil sie unsere individuelle und gesellschaftliche Existenz bedrohe, löst damit auch bei scheinbar aufgeklärten, kritischen Geistern in der Regel nur ratloses Kopfschütteln oder gar handfeste Empörung aus.

Wir haben uns im Laufe der letzten 200 Jahre so an die moderne, auf Zwang und Gehorsam beruhende, zentral organisierte Massenschule  gewöhnt, dass die meisten von uns sich gar nicht mehr vorstellen können, wie eine Gesellschaft ohne Schule, d.h. ohne zentral organisierte Zwangsbelehrung, aussehen und funktionieren könnte. Schon eine Formulierung wie "zentral organisierte Zwangsbelehrung" wirkt im Zusammenhang mit dem Thema Schule auf viele von uns eher befremdlich, um nicht zu sagen verletzend und frivol, denn wir alle waren ja in einer solchen Schule und haben dort neben einigen mühsamen Dingen doch auch „viel Schönes" erlebt! Immerhin war die Schule ein Teil unserer Kindheit und Jugend! Und wo wären wir denn ohne Schule? Was hätten wir gelernt? Was könnten wir heute? Nein. Im Zusammenhang mit der Schule von Zwangsbelehrung und dergleichen zu sprechen erscheint den meisten von uns rein gefühlsmässig als ungerecht. Wir wollen davon nichts wissen, selbst wenn die Anklage sachlich einleuchtend wäre!

Die Abwehrreaktion ist dort naturgemäss besonders heftig, wo es um zentrale Elemente unserer seelischen Struktur geht, und um solche geht es beim Thema Schule in der einen oder anderen Weise bei fast allen von uns, egal, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die moderne Schule ist eine Institution, die ein hohes Mass an Anpassung, Selbstaufgabe und Unterwerfung verlangt, wenn man in ihr überleben will. Dabei überzeugt sie uns im Laufe der Zeit vor allem davon, dass sie wichtig und grundsätzlich gut ist, und dass es ein Zeichen von Reife und Vernunft sei, sich ihrem Willen zu beugen und mitzumachen.

Die Behandlung ist so nachhaltig und erfolgreich, dass es heute tatsächlich kaum einen anderen Glauben gibt, der so tief in unseren Köpfen und Herzen und unserer Kultur verankert ist, wie derjenige an die Notwendigkeit und den positiven Wert unseres Bildungssystems und der durch dieses vermittelten "Bildung". Die Schule ist eine der grossen Mythen, die unsere Gesellschaft zusammenhält. Zugleich ist sie auch eines der grossen Tabuthemen der Moderne. Man darf sie zwar partiell kritisieren, darf, ja muss sich sogar für ihre andauernde Verbesserung einsetzen. Wer sich aber grundsätzlich gegen die Schule wendet und ihren Einfluss reduzieren will, der wird entweder als verwirrter Geist beiseite geschoben oder als verantwortungsloser Unruhestifter gebrandmarkt und bekämpft. Er befindet sich damit in einer ganz ähnlichen Situation wie diejenigen, die damit begonnen haben, die Funktion der Kirche in Frage zu stellen, als diese noch eine allmächtige Institution war.

Als Träumer oder Spinner belächelt, als Ketzer gebrandmarkt und verurteilt hatten die KirchenkritikerInnen früherer Jahrhunderte es nicht nur mit Zehntausenden von Menschen zu tun, die als Priester und Domherren, als Küster und in zahllosen anderen Funktionen von der Kirche abhängig waren und sich ihr Leben lang für diese eingesetzt hatten; sie hatten es auch mit einer Menge von Leien zu tun, die im privaten Kreis zwar oft an der Echtheit und am Nutzen der von der Kirche gepredigten Frömmigkeit zweifelten, die es jedoch während Jahrhunderten nicht wagten, sich öffentlich von dieser Institution zu distanzieren, weil sie die Konsequenzen für sich und ihre Familie fürchteten, und weil sie in einem Winkel ihres Herzens noch immer nicht sicher waren, ob man tatsächlich auch ohne den Segen der Kirche ein guter Christ sein kann.

Eine breite, über die derzeitigen Reformdebatten hinausgehende, fundamentale Diskussion des Themas Schule ist also schwierig und wird auf sehr viel Abwehr stossen. Dabei wäre eine offene Diskussion gerade in diesem Bereich ungeheuer wichtig, Denn im Gegensatz zur heute üblichen Auffassung halte ich unser modernes Bildungswesen weder für notwendig noch für nützlich. Im Laufe der letzten 200 Jahre ist es vielmehr zu einer Megamaschine geworden, die nicht nur die individuelle Entwicklung unserer Kinder beeinträchtigt, sondern auch massgeblich zu unserer offensichtlichen Unfähigkeit beiträgt, aus der ökologischen und ökonomischen Krise, in der wir stecken, herauszukommen.