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Im Auge des Zyklons

Was ich schreibe, schreibe ich immer noch aus der Perspektive eines wohlbehüteten Bürgersohnes, eines Mittelschichtkindes aus einer der privilegiertesten Gegenden der Welt. Ich schreibe als jemand, der gewissermassen im Auge des Zyklons oder im Bauch des grossen Tiers aufgewachsen ist und bis heute dort lebt und arbeitet.

Es ist die Weltgegend, in der alles in Ordnung ist. Es ist die geographische und soziale Gegend unserer Erde, in der Ruhe und Frieden herrschen, in der es keinen Hunger, keine endemischen Mangelkrankheiten, keine politischen Unruhen, keine Armut, kein Massenelend, keinen Analphabetismus, keine Kinderarbeitoder andere Dinge gibt, die in den übrigen Weltgegenden zum Alltag der Menschen gehören. Im Auge des Zyklons herrscht Ruhe. Hier geht es den Menschen gut. Verwüstung, Krisen und Not sind anderswo, so zumindest will es die offizielle Lehre, welche uns andauernd und ohne dass wir danach fragen darüber aufklärt, dass wir in einer Demokratie leben, und dass es nirgends auf der Erde so viele Kühlschränke oder Automobile pro Kopf der Bevölkerung, mithin nirgends so viel Reichtum gäbe.

Ich schreibe über diese Kultur und über die Art und Weise, wie sie sich Tag für Tag reproduziert und bestätigt. Aber mehr und mehrhr zweifle ich! Es ist die Kultur der Privilegierten. Es ist das Paradies auf Erden, es ist die Lebensweise, die der ganzen Erde als Ziel und ultimatives Glück vorgegaukelt wird. Es ist keine nationale Kultur mehr; es ist eine übernationale Kultur der Geldmenschen und ihrer Hilfstruppen.

Ihrem Geiste nach ist diese Kultur mit samt ihren propagandistischen Mythen seit Columbus' irrtümlicher Entdeckung Amerikas der grosse Exportartiekl der "westlichen Welt". An seiner Herstellung und Verbreitung arbeiten wir mittlerweile in den bürgerlichen Kreisen von Shang Hai und Mumbai, von Chicago, Mexico City, Sao Paolo, Zürich, London, Paris, Moskau, Peking, Lima und Sidney. Wir exportieren diese Kultur und all ihre Spielzeuge, ihre kleinen und grossen Statussymbole, ihre Rituale und Gewohnheiten, ihre Begriffe von Reichtum, Produktivität und Freiheit in alle Winkel dieser Erde.

Mittels der dauernden Bearbeitung durch ihre mächtigen Propagandainstrumente, insbesondere durch ihr für alle obbligatorisches Bildungssystem und durch die von den Geldmenschen beherrschten Unterhaltungs- und Informationsmedien unterwerfen wir die Welt unserem Willen und importieren unsere Art des Elends und des Glücks bis in die letzten, bisher unberührt gebliebenen Winkel der Erde. Wir gebärden uns als Heilsbringer, sind unter dem Strich jedoch damals wie heute im besten Fall naive Trampel und Störefriede und im schlimmsten, aber durchaus nicht seltenen Fall, durchtriebene Parasiten und skrupellose Ausbeuter, denen es letztlich nur um die Ausdehnung und den Erhalt der eigenen Macht geht. Indem wir die Massen als Sklaven und Sklavinnen behandeln, leben und überleben wir. Wir gaukeln den Massen vor, dass sie auch könnten, wenn sie nur wollten, aber wir möchten es am wenigsten. Wenn sie aufbegehren, dann schiessen wir. Einen Grund zu schiessen wird sich immer finden. Wir nennen es vornehm Terrorismus, aber hinter dem Wort "Terrorismus" versteckt sich puhre Angst.

Als ideologische Verpackung dieser Feldzüge diente früher das Christentum; heute spricht man lieber von Menschenrechten, Demokratisierung und Aufklärung. Die naive Energie für diese Feldzüge stammt, wie gesagt, aus den bürgerlichen Zentren der Welt. Dort wird das führende Personal für die globale Eroberungs- und Domestizierungsarbeit ausgebildet. Von dort kommt die Inteeligenzia, welche dem einfachen Volk die neuen Spielregeln erklärt und ihm den Angriff auf sein bisheriges Leben als Glücksfall und als Fortschritt schmackhaft macht. Von dort kommen die PlanerInnen, welche die kleinräumigen, seit Jahrhunderten bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturen der einheimischen Bevölkerung auf Vordermann bringen, welche die wirtschaftliche Produktivität dieser Völker steigern, indem sie ihre Lebensgrundlagen zerstören, welche ihre Bildung und ihren Lebensstandard hebt, indem sie ihr Selbstbewusstsein vernebelt und sie mit Zuckerbrot und Peitsche dazu bringt, den Besitz eines Autos oder eines Fernsehers als höchstes Lebensglück anzuerkennen und diesem Ziel zu liebe ihre gesamte bisherige Lebensweise, ihre Zufriedenheit und Gelassenheit, ihre Musse und ihre Weisheit, ihre Spielfreude und Kreativität zu opfern, und zu verdrängen, was man letztlich nicht verdrängen kann: die Mühsal und den tot.

Man Begründet den Feldzug mit Krankheiten, die ausgerottet werden, mit patriarchalen Strukturen, die überwunden und mit Abhängigkeiten, die aufgehoben werden. der frühere Grundbesitzer mutiert zum modernen Arbeitgeber und an die Stelle der alten Familie tritt die moderne Isolation. An die Stelle der alten Lieder und Tänze tritt die mediale Unterhaltung durch Profis. An die Stelle der alten Subsistenzwirtschaft tritt die moderne Raff- und Schaffgesellschaft. An die Stelle der alten Pfade treten geteerte Strassen. Statt zu Fuss ins nächste Dorf oder in die grosse weite Welt hinaus zu gehen, fährt man jetzt per Zug in die übernächste Stadt oder fliegt im modernen Jet dreimal um die Erde. Man lebt vielleicht länger, aber man lebt einsamer.

Ob wir die Zufriedenheit, die Grossherzigkeit oder das Glück der Menschen im Laufe derletzten fünf Jahrhunderte durch unsere Feldzüge tatsächlich vermehrt haben, ist zumindest zweifelhaft. Dass wir damit unseren Globus tüchtig durcheinander gebracht haben ist dagegen offensichtlich: Der Rückgang der Artenvielfalt, die Destabilisierung des Klimas, der rapide Zerfall alter sozialer Strukturen und der Verlust an eigenständigen, vom Betrieb der grossen Fortschrittsmaschine unabhängigen Lebensstilen und Traditionen aber ist klar. Weiter so, und ihr krepiert, aber ihr krepiert auf anständige weise.

© Martin Näf, 2010, 2018