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Geschichtliche Mitteilungen über das Loos der Blinden und Taubstummen und die ihnen gewidmete Fürsorge

Erster Teil

Blinde Menschen von der Antike bis ins 19. Jahrhundert

Die Blinden waren bis vor zirka 100 Jahren nur in geringem Masse der Gegenstand liebreicher, wohl überlegter Theilnahme ihrer Mitmenschen. Dass sie unter den Heiden wenig oder keine Berücksichtigung fanden, dass man sie dort ihrem traurigen Schicksal erbarmungslos überliess, ja sie oft aussetzte, — kann uns nicht auffallen, wenn wir überhaupt die Kulturgeschichte heidnischer Völker ins Auge fassen. Unvergleichlich besser waren sie in Israel gestellt. In der Mosaischen Gesetzgebung kommen geradezu eine Reihe schützender Bestimmungen für sie vor — zu vielem Andern hinzu mit ein Beweis dafür, wie hoch das alte Testament über allem Heidenthum steht. "Du sollst vor dem Blinden keinen Anstoss geben", heisst es III. Mos. 19, 14. Aehnlich V. Mos. 27, 18: "Verflucht sei, wer einen Blinden auf dem Wege irren macht. Und alles Volk soll sagen: Amen!" Hiob rechtfertigt sich damit, dass er sagt: "Ich war dem Blinden ein Auge und dem Lahmen ein Fuss; ich war ein Vater der Armen" (29, 15 —16). Vollends mit einer mehr als menschlichen Liebe hat der höchste Menschenfreund, der vom Himmel kam, sich der Blinden, wie überhaupt aller Elenden, aller Mühseligen und Beladenen erbarmt. Gar Manchem, dessen Augen geschlossen waren, ist durch sein Liebes- und Schöpferwort das Licht wieder geschenkt oder sonst Trost und Aufrichtung und vornämlich das Licht des ewigen Lebens gespendet worden. Es könnte auffallen, dass nach den Tagen Jesu Christi die Blinden noch lange warten mussten, bis man sich ihrer angelegentlicher annahm und sich bemühte, ihr Erdenloos leichter und ihr Dasein heiterer zu gestalten. Wer billig urtheilt, wird das nicht auf Rechnung des Evangeliums Christi schreiben, sondern darin nur einen Beweis dafür erblicken, wie langsam oft die Liebesgedanken des Evangeliums in der Menschenwelt zur Ausgestaltung gelangen. Es vergingen nämlich Jahrhunderte, bis man in der Christenheit sich ernstlich daran machte, den Blinden ihr dunkles Loos zu erheitern und sie so viel als möglich der Gesellschaft zurückzugeben. Das Mitleid versagte man ihnen freilich nicht immer. Man reichte ihnen Almosen dar. Wenn sie sich an öffentlichen Plätzen aufstellten, so wurde ihnen mancher Pfenning und Groschen in die Hand gelegt, diess oft so reichlich, dass der Ertrag hinreichte, nicht blos den Blinden, sondern auch seinen sehenden Führer zu ernähren. Vor den Klöstern, diesen einstigen Mittelpunkten der Wohlthätigkeit, stellten sie sich nie vergebens ein. Auch Heilungsversuche wurden an Blinden schon frühe gemacht, sowie etwa Versorgungshäuser für dieselben errichtet. Das berühmteste der letztern war das Hospiz Quinze Vingts in Paris, das heute noch besteht. Es wurde 1260 nach dem Kreuzzuge Ludwigs des Heiligen gestiftet, um 300 Krieger, welche in Aegypten erblindet waren, aufzunehmen.

Die Erblindung kommt, beiläufig gesagt, oft und viel während und nach grossen Kriegen vor und gehört weit mehr, als man gewöhnlich denkt, zu den furchtbaren Plagen des Krieges. Zur Zeit der deutschen Freiheitskriege erblindeten so viel Soldaten, dass in ganz Deutschland Beiträge für sie gesammelt und fünf grosse Asyle, Werkschulen, für sie errichtet wurden. Während der französischen Kriege in Algier verlor ebenfalls eine grosse Zahl Soldaten das Augenlicht. Jüngsthin habe ich in einer Zeitschrift die Mittheilung getroffen, dass im letzten russisch-türkischen Krieg über 2000 russische Soldaten erblindet seien. Wäre die Statistik auf dem Punkte angelangt, Alles in Zahlen angeben zu können, so hätte sie ohne Zweifel zu konstatieren, dass auch aus dem deutsch-französischen Kriege 1870 und 1871 ein Heer von Erblindeten hervorgegangen sei. Doch zur Sache!

Obschon man unter Christen von jeher den Blinden Almosen reichte und sie bisweilen Zeitlebens versorgte, an ihre intellektuelle und moralische Hebung, an ihre eigentliche Bildung und Erziehung dachte man lange nicht. Oft blickte man mit einer gewissen Geringschätzung auf sie hin und erklärte sie als Solche, deren Loos nun einmal nicht geändert werden könne, denen ihr Schicksal von Gott unabänderlich auferlegt sei. Ja leider nicht selten waren sie der Gegenstand förmlichen Spottes und liebloser Verachtung. Doch gab es von jeher einzelne Blinde, welche entweder durch persönliche Begabung und Energie oder in Folge glücklicher Lebensverhältnisse sich hoch emporrangen, in Kunst und Wissenschaft, in religiöser Erkenntniss, im moralischen Handeln sich den Sehenden ebenbürtig erwiesen, ja viele derselben übertrafen. Diese standen da als mahnende Zeichen: Man brauche vielen Blinden blos die hülfreiche Hand zu bieten, so könne man sie ans ihrer trostlosen Nacht zum tröstlichen Lichte emporziehen. Es mag hier statthaft sein, wenigstens an einige solcher Blinde, deren Name und Gedächtniss erhalten ist, zu erinnern.

Von Diodotus bis zur Paradies. Blinde Wunderkinder und Superstars der letzten zweitausend Jahre

Zur Zeit Cicero's lebte Diodotus, ein Stoiker, welcher sich in der Logik, Musik und Mathematik auszeichnete. Nach seiner Erblindung trieb und lehrte er nicht weniger eifrig Philosophie und unterrichtete in der Geometrie, indem er die Zuhörer mündlich anwies, wie sie die Linien ziehen sollten. Er starb 57 v. Chr. im Hause Cicero's, welcher sein Vermögen (100,000 Sesterzien) erbte (Cicero Tuscul. V. 39).

Unter den Lehrern der Katechetenschule zu Alexandrien befand sich der blinde Kirchenvater Didymus, geb. 309, gest. 398. Obwohl er schon im vierten Jahre erblindet war, erwarb er sich dennoch grossartige Kenntnisse. Die heilige Schrift lernte er durch Vorlesung genau kennen und legte viele Bücher derselben in Kommentarien aus; auch beförderte er die Askese; Hieronymus war sein Schüler. Er schrieb: De sancto spiritu (Köln 1618), Adversns Manichaeos (Ingolstadt 1604), Ennaratio in Epistolas canonicas u. s. w. Wegen einer Schrift über des Origenes peri archon wurde er nach seinem Tode auf dem zweiten Nicänischen Konzil verdammt.

Im 15. Jahrhundert machte sich Nicasius van der Voerde aus Mecheln berühmt. Im dritten Jahre erblindete er, wurde aber später gleichwohl Doktor und Lehrer des fürstlichen und kirchlichen Rechtes an der hohen Schule zu Köln. Erstarb 1492 daselbst als Prediger.

Um 1600 zog der blinde Jakob Schegkius in Tübingen als Dozent der Philosophie und Medizin viele Studirende herbei.

Als ein merkwürdiges Beispiel ist der Engländer Nicholas Saunderson zu nennen, geb. 1682 zu Thurlston in Yorkshire, gest. 1739. Schon im ersten Jahre erblindete er, brachte es aber dennoch zu grosser Berühmtheit. Als Lehrer der Mathematik zu Cambridge, wo er dem Mathematiker Whiston folgte, setzte er durch ein Werk über Algebra (Cambridge 1740. 2 Bände, deutsch von Grüsoe, Halle 1798 —1805) und Lösung wichtiger mathematischer Probleme seine Fachgenossen in Erstaunen, und was fast unglaublich klingt: er las über Optik und erklärte die Werke Newton's über Licht und Farben (The life of Saunderson. Dublin 1747).

Durch technische Kunstfertigkeit zeichnete sich Johann Käferli aus, geb. 1768 zu Waiblingen in Württemberg. Wenige Tage nach der Geburt kam er um ein Auge, im vierten Jahre zerstörte ihm der Pfeil einer Armbrust auch das andere. Dennoch verfertigte er schon als Jüngling eine Tuchwalke, eine Mostpresse, einen Schnellhaspel, Mobein, Pumpwerke, Staubmühlen, Uhren. Im 22. Jahre errichtete er eine Werkstätte für Verfertigung musikalischer Instrumente, beschäftigte bald mehrere Gesellen und erwarb sich einen bedeutenden Ruf und ein beträchtliches Vermögen (Klein, Lehrbuch zum Blinden-Unterricht, pag. 419).

In der Tonkunst haben manche Blinde Aussergewöhnliches geleistet, so Dulon und Therese Paradies. Louis Dulon, einer französischen Exilanten-Familie-angehörig, den 14. August 1769 in Oranienburg geboren, im achten Jahre an einer Ophthalmie erblindet, entwickelte ein grosses Talent für Musik. Der Vater lehrte ihn die Flöte spielen, der Stadtorganist Angerstein gab ihm Unterricht auf der Orgel. Von seiner Schwester begleitet besuchte er im 13. Jahre die wichtigsten Städte Europa's, gab Konzerte auf der Flöte und wurde überall bewundert. 1796 bis 1798 brachte er als kaiserlicher' Musiker in Petersburg zu. Mit einer Pension kehrte er von dort zurück und liess sich in Stendal nieder. Dort schrieb er mit Hülfe eines Alphabets en relief et mobile, welches Wolke, Direktor einer Primarschule in Dresden, für ihn erfunden hatte, seine Selbstbiographie: "Dulon's des blinden Flötenspielers Leben und Meinungen, von ihm selbst bearbeitet", in zwei Bänden von O. M. Wieland herausgegeben. Zürich 1807 — 1808. 1823 siedelte er nach Würzburg über und starb den 7. Juli 1826. Von seinen Kompositionen für Flöte und Violon haben viele bedeutenden Anklang gefunden. (Klein, Lehrbuch, pag. 424).

Vollends ein blindes Wunderkind war Maria Theresia von Paradies von Wien. Den 15. Mai 1759 wurde sie geboren und erblindete im Alter von fünf Jahren. Dennoch fand in ihr die Musik eine hervorragende Jüngerin und auch in Sprachen und allerhand wissenschaftlichen Fächern war sie zum Erstaunen bewandert. Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch waren ihr geläufig, im Rechnen, in Geographie und Geschichte leistete sie Vortreffliches, sie tanzte auch zierlich und spielte vortrefflich Schach. Kotzeluch und Righini waren ihre Lehrer für Piano und Gesang, Kapellmeister Friebert in der Harmonielehre. Im elften Jahre spielte sie vor Maria Theresia mit einer seltenen Vollendung Sonaten und Fugen von Bach und erhielt in Folge davon eine Pension von 250 fl. 1784 fing sie an zu reisen, besuchte Linz, Salzburg, München, Speier, Mannheim, die Schweiz. Dann wagte sie sich nach Paris, wo sie 1785 in geistlichen Konzerten durch Orgelspiel und Gesang wunderbaren Erfolg erzielte. Aehnlich ging es ihr in London. Auf der Rückkehr trat sie auf in Holland, Brüssel, Berlin, Dresden u. s. w. Die hervorragendsten Künstler wirkten in ihren Konzerten mit, so Abel, Fischer, Salomon. Gegen Ende 1786 kehrte sie nach Wien zurück, wo ihr Haus der Sammelpunkt ausgewählter Leute wurde, und wo sie dem Unterrichte und der Komposition musikalischer Werke lebte. Von den letztem sind zu erwähnen: 1791 "Ariadne auf Naxos", Oper in zwei Akten; "Ariadne und Bachus", Duodrama in einem Akt. 1792 "Der Lehrer-Kandidat", kleine Oper in einem Akt. 1797 "Renaud und Armide", grosse Oper. 1794 Kantate auf den Tod Ludwigs XVI., ebenso auf den Tod des Kaisers Leopold; Sonaten für das Klavier; italienische Lieder mit Begleitung des Piano; "Leonore", Ballade von Bürger. Daneben machte sie sich durch Herstellung von Landkarten, Erfindung von Schriftsystemen u. s. w. um die Förderung des Blinden-Unterrichtes sehr verdient. Sie starb den 1. Februar 1824. (Klein, Lehrbuch, pag. 424. Petis, biographies des musiciens. Paris 1864. Frankl, Biographie).

Valentin Hauy in Paris und die Anfänge systematischer Blindenbildung

Solche und viele ähnliche Beispiele waren eine beständige Predigt aus der Welt der Blinden heraus: Erbarmet euch unser, der Schöpfer hat auch Vielen unter uns köstliche Gaben verliehen, helfet uns dieselben pflegen und verwerthen. Und die Zeit sollte endlich erscheinen, wo dieser Ruf gehört und verstanden wurde. Es trat nämlich ein Franzose als Vater der eigentlichen Blinden-Bildung und Erziehung auf: Valentin Hauy, der Sohn eines armen Webers, geboren 1756 zu St-Just im Departement der Oise. Ursprünglich widmete er sich der Kalligraphie und fand mittelst derselben in Paris eine bescheidene Existenz. An einem Sonntag — so wird uns erzählt — machte er seinen gewohnten Spaziergang vor den Mauern von Paris. Vor einem Schenkhause traf er ein grosses Gedränge des Volkes und als er näher trat, bot sich ihm ein empörendes Schauspiel dar. Der Wirth hatte 10 bis 12 Blinde zusammengetrommelt, welche nun vor seinem Hause in merkwürdigem Putze aufgestellt waren und eine haarsträubende Musik hören liessen. Jeder derselben stand vor einem Pult, hatte ein grosses Notenheft verkehrt vor sich, trug eine grosse Brille auf der Nase u. dgl. Der Spott und Hohn, der so mit den Armen getrieben wurde, sollte das Publikum kitzeln, herbeilocken und unterhalten. Das empörte den zartfühlenden Valentin Hauy. Mit Ingrimm und Erbarmen im Herzen ging er seines Weges. Von dem Augenblicke an war der Entschluss in dem Edeln lebendig: Fürderhin soll meine Kraft und Liebe den Blinden und der Fürsorge für sie gewidmet sein. Damit das gute Samenkorn dieses Entschlusses nicht etwa wieder im Keime ersterbe, liess eine gütige Vorsehung zu dessen Entfaltung einen förderlichen Umstand hinzutreten. Zu gleicher Zeit (1785) traf nämlich zu Paris die berühmte Blinde Therese von Paradies aus Wien ein, die oben bereits angeführt worden ist. In geistlichen Konzerten elektrisirte sie durch Örgelspiel und Gesang die Pariser Bevölkerung. Zwischen ihr und Valentin Hauy war bald Bekanntschaft geschlossen. Die geist-und gemüthreiche Blinde machte ihn nicht blos mit allerlei Vorrichtungen bekannt, welche sie zu ihrer privaten Ausbildung selber erfunden hatte, z. B. einer Schreibmaschine und gestickten erhabenen Landkarten, sondern verstand es auch, den edeln Freund zu entflammen, dass er die Hand nie mehr vom Pfluge zurückzog, sondern bis an sein Ende sein Dichten und Trachten den Blinden gewidmet sein liess. Viele Hindernisse traten ihm freilich in den Weg, aber es wohnte und wirkte in ihm jener Glaube, der Berge versetzt, und eine Liebe zu den elenden Brüdern, die Alles hofft, Alles duldet und niemals ermüdet. Hauy begann damit, dass er einen blind gebornen Knaben, Lesueur aus Lyon, zu sich nahm. Nachdem er ihn kurze Zeit unterrichtet hatte, stellte er ihn der philanthropischen Gesellschaft vor, welche eben in Paris gestiftet worden war. Diese wurde für das neue Werk gewonnen und von ihr unterstützt errichtete Hauy 1785 oder 1786 in Paris ein Institut für Blinde. Es wurden zunächst 12 Zöglinge aufgenommen und nicht nur zu nützlichen Handarbeiten angeleitet, sondern auch im Lesen, Schreiben, Rechnen, Musik u. s. w. unterrichtet. Viel Beifall und Ermuthigung fand Hauy, als er nach einem Jahr mit seinen Schülern vor den Hof zu Versailles trat und die Leistungen derselben darlegte. Die neue Schöpfung erhielt sich durch alle Stürme der Revolution hindurch, die alsbald folgten. Ja, mitten in denselben widerfuhr ihr 1791 die Ehre, dass sie als Staatsanstalt erklärt, mit der bereits bestehenden Taubstummen-Anstalt vereinigt und für beide das ehemalige Cölestinerkloster eingeräumt wurde. Schon 1795 wurde sie wieder getrennt, und da die ökonomische Verwaltung zu wünschen übrig liess, 1801 als selbständige Unterrichts-Anstalt leider aufgelöst; die Zöglinge wies man dem Blinden-Hospiz Quinze Vingts zu.. Es brach Hauy fast das Herz, sich in seiner Wirksamkeit so gehemmt zu sehen. Er gründete nun eine Pension für Blinde unter dem Titel: Musee des aveugles, für welche er vom Staate immerhin einen Jahrgehalt von 2000 Fr. bezog. Auch in seiner privaten Anstalt hatte er mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen ; überdies steigerte eine unglückliche Heirath seine ökonomischen Verlegenheiten. Darum folgte er 1806 mit seinem Schüler Fournier gerne der Einladung des russischen Kaisers Alexander nach St. Petersburg, um dort unter dem Schutz der Kaiserin Mutter eine Blinden-Anstalt zu errichten und zu leiten. Doch kehrte er ziemlich bald wieder nach Paris zurück. lebte dort bei seinem Bruder Rene Just, der Geistlicher und berühmter Mineralog war, und starb im März 1822. Seine wichtigste Schrift ist: "Essai sur l'education des aveugles". Paris 1786. Hauy war ein Mann mit einem edeln, menschenfreundlichen Herzen, während er in praktischen Fragen, besonders solchen von ökonomischer Natur, sich vor Missgriffen nicht immer frei zu bewahren verstand. Er erinnert unwillkürlich an Pestalozzi. Seine Pariser Anstalt wurde 1816 wieder in's Leben gerufen, indem die Zöglinge vom Hospiz Quinze Vingts getrennt und separat gepflegt und unterrichtet wurden ; sie blühte in dieser neuen Form je mehr und mehr empor und ist heute noch unter dem Namen "Institution nationale des jeunes aveugles" vielleicht das bedeutendste Institut seiner Art. Die ihr dienenden umfangreichen Gebäulichkeiten befinden sich im südlichen Theile von Paris, am Boulevard des Invalides No. 56.

Kaum war in Paris eine erste Öffentliche Blindenanstalt gestiftet, so fand das Beispiel rasch in andern Ländern Nachahmung. Es gehört hierin England die Palme, welches auch jetzt noch für die Blinden Vortreffliches leistet. Schon 1791 wurde der Grundstein zu einer Blindenanstalt in Liverpool gelegt, 1793 in Edinburg und Bristol, 1799 in London und Dublin u. s. w.

Deutschland sah 1806 die erste Blindenanstalt in Berlin erstehen. Als nämlich Hauy dort durchreiste, um dem Rufe nach Petersburg zu folgen, gab er die Anregung dazu. Der König von Preussen ging darauf ein, mit seiner Unterstützung wurde eine Anstalt ins Leben gerufen und zum Direktor derselben Joh. August Zeune ernannt, der sich nicht blos um die Blindensache grosse Verdienste erwarb, sondern auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Vortreffliches leistete. Er wurde den 12. Mai 1778 in Wittenberg geboren, dozirte 1802 Erdkunde an der dortigen Universität, erhielt einen Ruf nach Berlin 1803 als Lehrer am grauen Kloster, 1806 als Direktor der Blindenanstalt und 1810 als Professor der Geographie an der Universität. 1820 und 1821 bereiste er Holland, Frankreich, England, die Schweiz, um die Blindenanstalten zu studiren. Er starb den 14. November 1853. Es zeugt für seine Vielseitigkeit, dass er 1814 die Berliner Gesellschaft für deutsche Sprache und 1828 diejenige für Erdkunde stiftete. Von seinen Schriften sind die wichtigsten: "Gea, Versuch einer wissenschaftlichen Erdbeschreibung", Berlin 1803 ; "Belisar, über den Unterricht der Blinden, Berlin 1808; ."Üeber Blinde und Blindenanstalten", Berlin 1807. Ungefähr gleichzeitig wurde in Wien eine Blindenanstalt gegründet. Von 1804 an beschäftigte sich dort Armendirektor Wilhelm Klein damit, zwei blinde Knaben zu unterrichten. Aus diesen seinen Bemühungen ging 1808 eine vom Kaiser unterstützte Anstalt für Blinde hervor, welche 1816 völlig zu einer staatlichen Anstalt erhoben wurde. Klein schrieb unter Anderm ein Lehrbuch zum Unterricht der Blinden, Wien 1819, und eine Geschichte des Blinden-Unterrichtes und der Blindenanstalten, Wien 1837. Die drei Männer: Hauy in Paris, Zeune in Berlin und Klein in Wien, sind als die zu verzeichnen, welche zuerst gründlich für methodische, schulmässige Bildung und Erziehung blinder Kinder gewirkt haben. Ihre Namen werden in der Welt der dankbaren Blinden allezeit fortleben. Ihre Schriften sind in vielen Beziehungen bis auf den heutigen Tag massgebend.

Indessen brach sich nicht blos an den genannten Orten die liebende Fürsorge für die Blinden Bahn. Die ausgestreute edle Saat ging reichlich und immer reichlicher auf. Seit den Neunziger Jahren wurden fast in allen Ländern Europas und in Amerika Blindenanstalten gegründet. Die Zeit reicht nicht aus, eine detaillirte Statistik derselben zu geben, so interessant und tröstlich diese auch wäre. Deutschland zählt gegenwärtig über 40 Blindenanstalten, die mehrere Tausend Zöglinge umfassen. In Zürich wurde 1809 eine solche gegründet, die erste in der Schweiz, wovon später. Seit einigen Jahren hat auch Kairo in Aegypten ein muhamedanisches Blindeninstitut, ohne Zweifel das erste auf ausserchristlichem Boden. Den Vorsteher desselben, Herrn Onsy, lernte ich in Paris kennen.

So viel Blindenanstalten aber auch bis heute ins Leben gerufen worden sind, es heisst immer noch: Die Ernte ist gross, aber der Arbeiter sind wenige. Die Zahl derselben in christlichen Landen reicht noch lange nicht aus, um alle bildungsfähigen Blinden aufnehmen zu können. Statistische Erhebungen haben ergeben, dass auf zirka 1300 Seelen ein Blinder kommt. Demzufolge wird nach ungefährer Berechnung der Kanton Zürich200 bis 250 Blinde zählen, die Schweiz etwas über 2000, das deutsche Reich 31 bis 32,000, Europa gegen 240,000, die ganze Erde 1,100.000. Nimmt man an, dass 200'000 sich im jugendlichen Alter befinden und bildungsfähig seien, so hat das deutsche Reich über 6000 bildungsfähige Blinde. Rechnet man, dass ein Blindeninstitut durchschnittlich 40 Zöglinge aufnehmen könne, so ergibt sich für Deutschland das Bedürfniss von 6000 : 40 = 150 Anstalten. Es ist aber bereits angeführt worden, dass Deutschland erst etwa 40 Anstalten besitze. Wie viel bleibt also nur in diesem Lande noch zu thun, von andern Ländern gar nicht zu reden. Wahrlich, die christliche Liebe hat hier noch ein weites brachliegendes, aber fruchtbares Feld zu bebauen!

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Näf, Arnold, Das Loos der Blinden und Taubstummen. Zwei Vorträge gehalten in Zürich 1879. Separatabdruck aus der "Schweizerischen Zeitschrift für Gemeinnützigkeit", Jahrgang 1880, Zürich, Auszug aus dem 1. Vortrag, S. 8-36