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Verwirrte Zeiten. Skizze

Pubertät! Lange Weile, hab ich schon gesagt. Graue Jahre. Viel brav sein und ängstlich und Lateinwörter lernen. Französische und andere Schriftliche Arbeiten hinter mich bringen: Dictés, Thêmes, Geographie, Mathe.

Komme aus dem Spital zurück. Schüchtern zuhause, zerbrechlich. Nach einiger Zeit in die Schule: erstmals seit langem. Erstmals blind. Jetzt blind - der Blinde, der andere -, nicht wie zuvor: Martin mit dem losen Zahn, Martin, der Freund von Maja, Martin in der 1 b bei Br., Martin am Kastaniensammeln. Jetzt der blinde Schüler. Stehe draussen im Gang: Linoleumboden, bläulich-grün; metallene Gitter und Haken für Mantel und Mappen und Kappen. Stehe dort. Was soll ich. Wer ist da für den, der weint? Die anderen hatten den ganzen Tag Schule, Schule, Schule. Ich komme, um mal wieder reinzuschauen.

Steh jetzt im Zimmer - nichts mehr ist sichtbar, nur drüben rechts: Fensteröffnungen und Kreuze darüber. Heller auf dunklem Hintergrund. Heller. Sonst nichts. Stehe. Wo? Vor der Tafel. Warum weiss ich nicht. Peinlich. Ich werde blind, ich werde blind! Thomas L. und andere kommen. "Hallo". Es ist vier. Die Schule ist vorbei. Mappen sind gepackt. Grosses scheu sein. Niemand der spricht, niemand der fragt, mich umarmt, mich anfasst, niemand, der weint, der sich freut. Grosses Bravsein. Wir haben alle Probleme. Welche? Geht dich nichts an. Und Du, wo weinst Du? Geht dich nichts an. Das Ende der sieben glücklichen Jahre der Kindheit. Der Anfang der sieben mageren Jahre der Pubertät.

Alles ist anders. Nur kämpfen auf dem Pausenhof mit Jürg, das ist noch gleich. Viel Körper. Ein- oder zweimal bei ihm zu Hause auch Lust. Hitze in mir. Spüre den Schwanz. Denke nicht nach. Weiss nicht, was es soll. Wir sprechen darüber nicht. Tun's manchmal, doch eher nicht, eher selten und niemals wirklich. Die anderen finden es kindisch, unser Kämpfen auf dem Pausenhof. Distanzieren sich. Wir liegen einsam, immer einsamer auf dem Zement.

12 Meter breit, 15 Meter lang, umgeben von alten Gebäuden, rot umrandete Fenster, weisse Mauern, hölzerne Eingangspforte. Gross. In gutem Zustand. Humanistisches Gymnasium, mittleres Haus. Unterstufe. 1. bis 4.; Tradition. Gnoti seauton. Erkenne dich selbst überm Eingang. Hab's nie gesehen, auch als ich noch sah, sah ich's nicht. Doch viele haben's gesagt: gnoti seauton. Deshalb seien wir hier, in der Schule. Nicht um auf dem Zement zu liegen, keuchend, halb wegen des Kämpfens, halb wegen ... ja weshalb? Erkenne dich selbst aber frag nicht danach. Gerade Danach zum Beispiel frag nicht.

In der Strassenbahn, wenn das Gedränge gross war, da habe ich es gemerkt, der Schwanz wurde hart, ich, ich hab mich an den Mann gedrängt und ich kam. Das macht man nicht, im Tramm nicht und sonst auch nicht! Scham, scham, scham.

In der Schule. Magere Zeiten. 15 oder 16-jährig bin ich. Herr Brot gab mir zuhause Nachhilfestunden; Stützunterricht sagen die oben. Für mich war es Lange Weile. Bemühen nicht sichtbar zu gähnen, mitzudenken:Kommst du draus? Bereit um zu sagen: ja, schon. - Wenn das Interesse erlahmt, so sinkt deine Leistung und es steigt die Gefahr des Scheiterns. Drum spanne die Kräfte, zwinge den Geist, das Fleisch, deine Seele. Des Zwanges endlicher Lohn: die Maturität. Ein Stückchen Papier zwischen Kartondeckel gelegt. Die Maturität, so nennen sie es und ihre Stimme klingt laut und pompös. Der Beleg dafür, dass du was bist. Die Chance, so stellt sich heraus, was zu werden, was feines, gediegenes!

Versunkenes Leben, ein Friedhof. Die Kreuze mit Diplomen; über dem Eingang "Erkenne dich selbst". Zwischen den Gräbern auf und ab gehen Lehrer, auch Frauen darunter, ebenso grau wie die Herren Kollegen. Gläsern die Erde, durchsichtig. Da unten das Leben der Kinder, die Neugier, das Tun, das Kämpfen und Rammeln, das Kitzeln und Lachen, die Ängstlichkeit, die Pläne, die Freiheit der Kinder, ihre hellen Augen und ihre endlosen Fragen. Sie rufen. Sie winken hinauf. Verzweifelt die einen, die anderen wütend. Warum hört ihr uns nicht. Bloss noch flehende Blicke. Kein laut dringt hinauf; die Erde ist fruchtbar und feucht. Undurchdringlich dem, der versucht zu sehen, was sie verbirgt.

Pubertät. Das sind die roten Schenkel von Maja's plötzlich aufgetauchter Freundin. Weshalb sind ihre Schenkel rot, und weshalb braucht M. eine Freundin? Ich bin doch da. War doch die ganzen sieben Jahre der Kindheit bei ihr, mit ihr. Was braucht sie diese and're mit ihren Schenkeln? Die roten Schenkel sind einen anderen Weg gegangen -, Auch M., so lang meine Freundin! Mit "willst du mein Freund sein" fing's an, im toten Winkel hinter der Tür bei Frau B., unserer Kindergärtnerin.

Wege. Lange vor der Zeit der Bravheit und Grauheit. Wege mit M., vom Kindsgi nach Hause. Bis zu ihr fast immer zusammen. Dort noch geredet, gespielt, was weiss ich, bis sie rein muss zum essen, und ich gehe weiter. In der Erinnerung regnet es nie und ist nie kalt. Immer ist Sonne. Auch nach dem Mittag, wenn ich vor ihrem Haus warte. Manchmal klingle ich, oft aber warte ich nur bis sie kommt. Dann in den Kindsgi. Zur Schule ging's andersrum: Jetzt holt sie mich ab. Wir gehen zusammen zur Schule, zusammen durch den Park, zusammen über die Strasse, an der Garage vorbei, über den Platz und rein in die alte Schule mit den beiden Pausenplätzen und der dazwischenstehenden Turnhalle. Am Mittag zusammen zurück. Fast immer zusammen, unterm St. Albantor noch ein wenig geredet, gespielt, was weiss ich. Sie geht weiter, die Strasse hinunter, ich bin zuhause. Und nach dem Mittag dasselbe nochmals. Oder spielen bei ihr. Sehr oft bei ihr. Radfahren im Hof von O.. Im Keller und im Estrich oder unter der Treppe. Oder im Sommer bei Grossmimms gebadet und Erdbeeren gegessen.

Die roten Schenkel sind fort und M. ist fort. Nicht mehr zu sehen. Andi ist da, aber wo? Auch Jürg, aber nur immer Jürg. Nur immer Jürg. Immer Jürg, den ich im Grunde nicht will. Doch was soll's die anderen wollen ihn nicht und mich nicht. Drum eben Jürg. Und die Jacken! Die Jacken und Mäntel im Gang. Die schwüle Stille, wenn ich dort, wegen Schwatzens wieder einmal vor die Türe gestellt, in stummer Lust befummelte, was an den Garderoben hing, während drin das "amamus, amatis, amant" ertönt, oder jemand die "Hauptexportartikel Gineas" - Kakao, Nickel und Kaffe - hersagt. Meine Finger gleitten gierig über alles, was da hing. Vor allem Leder, eine Seltenheit an unserem konservativen Gymnasium, suchte ich und fühlte in den Innentaschen nach Zigaretten. Nicht weil ich rauchen wollte, sondern weil, wer rauchte, cool war und dazu gehörte, und weil die Berührung der Jacke eines solch coolen Gays mich mit dessen Potenz und Popularität auflud und antörnte!

Amamus - wir lieben! - und wie fühlt sich Kaffee an und Nickel. Wie fühlt sich Ginea an. Heiss oder kalt. Urwaldhaft? Feucht? Und Nickel ... Amamus. Konzentriere die Kräfte, vergiss die Welt. Interessiere auch du dich! Warum musstest du schon wieder raus vor die Türe? Pass doch auf. Pass auf. "Amamus, amatis, amant!" das bringt's. Nein, nicht so, wie du denkst, du Schwein. Das bringt Diplome und Ehren und Würde. Sag "amo", und wir werden dich loben; sag "amas", wir loben dich wieder. Wir helfen dir auf dem Weg zum Diplom. Das Leben ist hart! Wir wissen's! Versuch es noch einmal: Amamus, amatis, amant. Wenn du brav mitmachst, gehörst du dazu. Die Stimmung wird gut sein. Gute Noten wirken lösend wie Wein und stärken die niedergekommene Seele.

Ich darf wieder rein in die Klasse. Ich werde es schon noch begreifen. Man ist optimistisch. Gerade blind geworden. Er ist in der Pubertät, 13 14 Jahre. Das Zeugnis ist gut. Er hat halt Probleme. Minderwertigkeitskomplexe vermutlich. Muss sich deshalb aufspielen. Am besten ignorieren oder auch mal rausstellen vor die Tür, wenn's zu arg wird. Er wird's schon noch lernen. Was soll man da sagen. Amamus, amatis, amant! Jetzt bin ich ruhig. Schlafe ohne das ich schlafe. Ich bin jetzt ein guter Schüler. Ich füge mich wie alle, die aufsteigen wollen, auch müssen. Die andern sind irgendwann weg. Aus der Klasse und aus dem Leben verschwunden.

In der Nacht wehen die Diplome einsam auf den Gräbern der Toten und ihr seufzen und heimliches lachen und stönen und weinen und fragen und reden dringt hinauf in den nächtlichen Himmel, wo es verweht, sich verliert. Ich hab's geschafft, weil ich alles vergessen habe was für mich einmal das pralle Leben war.

Copy 1999 und 2017, Martin Näf