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Ecole d"Humanite

Die Ecole d'Humanité ist mehr als eine Schule. Sie ist im Grunde zu allererst eine grosse Wohn- und Lebensgemeinschaft von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Nur rund 50% der ca. 150 SchülerInnen der Ecole kommen aus der Schweiz. Die übrigen stammen aus den verschiedensten Ländern rund um die Erde. Die Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft ist fast ebenso bunt. Englisch ist die zweite Umgangssprache in der Ecole -, für viele Deutschsprachige SChülerInnen ein starker Grund, sich diese Sprache anzueignen.

Die Kultur und Traditionen der anderen kennen und achten zu lernen - nicht auf Grund moralischer Appelle, sondern durch konkrete Erlebnisse im täglichen Zusammenleben -, darum ging es Paul und Edith Geheeb-Cassirer, als sie die von ihnen 1910 gegründete Odenwaldschule nach der Machtübernahme der Nazis verliessen und in Versoix bei Genf die "Ecole d'Humanité" eröffneten. Dass "Ecole d'humanité" nicht "Schule der Menschlichkeit" heissen sollte, war ihnen dabei selbverständlich, denn, so schrieb Paul Geheeb in den 50er Jahren in einem Brief: Davon, dass eine Schule menschlich ist, müssten wir doch eigentlich ausgehen können.

 

"SOZIALES LERNEN" RUND UM DIE UHR

Wer neu in die Ecole kommt, wird einer aus 4 bis 12 Jungen und Mädchen und zwei oder drei Erwachsenen bestehenden "Familie" zugeteilt. Später kann man sich "seine Familie" wählen. Es ist durchaus keine Seltenheit, dass in einer Familie drei oder vier Nationalitäten vertreten sind. Auch im Hinblick auf Alter, soziale Herkunft u.a. sind die Familien in der Regel sehr stark durchmischt. Für viele SchülerInnen ist die Geborgenheit in einer Familie Voraussetzung dafür, in der grösseren Gemeinschaft der Schule Fuss zu fassen. Wenn die Kinder nach dem Frühstück (man isst familienweise im grossen Esssaal) und dem Putzen der Häuser etc. in ihren Unterricht gehen, tun dies auch ihre "Familienhäupter", die alle auch als LehrerInnen oder in andern Funktionen an der Schule tätig sind. Nur-ErzieherInnen gibt es in der Ecole keine. Freizeit und Arbeit, privates und öffentliches Leben lassen sich in der Ecole (im Gegensatz zu den meisten andern Heimen und Internaten) nicht so einfach voneinander trennen.

Ein reiches, anregendes Gemeinschaftsleben sei, so betonten Paul und Edith Geheeb-Cassirer immer wieder, das A plus O für jede wirklich fruchtbare schulische Arbeit. Im Laufe ihrer Geschichte haben sich denn auch zahlreiche Traditionen herausgebildet, die heute aus dem Leben der Ecole nicht mehr wegzudenken sind. Da ist das grosse Reinemachen jeden Freitag Nachmittag vor der Schulversammlung, da ist das gemeinsame Singen jeden Samstag Vormittag und die samstäglichen Tanz- und Volkstanzabende, da sind die wöchentlichen "Familienabende" und die Skitage im Winter, da ist die Sechstagewanderung im Frühjahr und die Viertagewanderung im Herbst, das alljährliche Sommerfest oder die besonderen Projekten gewidmete "Intensivwoche" Anfang November. Ebenfalls eine lange Tradition haben die aus MitarbeiterInnen und SchülerInnen bestehenden "Freitagsgruppen", die sich um die Ordnung in den Schulbibliotheken, die Versorgung der Kranken, den Auf- und Abbau der von vielen Kursen benutzten Theaterbühne, die Schulzeitung und andere die ganze Schule betreffende Dinge kümmern. Bei der Beurteilung eines Schülers bzw. einer Schülerin geht es demgemäss nie nur um die jeweiligen Schulleistungen, sondern es wird auch nach dem Verhalten in der "Familie", nach besonderen Beobachtungen im Rahmen einer Wanderung oder an einem Skitag etc. gefragt.

 

DIE SCHULVERSAMMLUNG

Drehscheibe und Mittelpunkt des gesamten Schullebens ist die wöchentliche Schulversammlung oder "Schulgemeinde", in der Informationen weitergegeben und Themen und Probleme von allgemeinem Interesse diskutiert werden. Auch Fragen der Schulorganisation können in der Schulgemeinde besprochen werden. Ein gleiches Stimmrecht für alle, wie es z.B. in A.S. Neill's Schule "Summerhill" praktiziert wurde, gibt es dabei allerdings nicht, da man dieses in der Ecole als unpädagogisch empfindet. Das ermöglicht es dem Leitungsteam der Schule unter anderem auf bestimmten Regeln oder Traditionen zu bestehen, auch wenn eine Mehrheit der SchülerInnen und MitarbeiterInnen auf Veränderung drängt. Das morgentliche kalte Duschen, das generelle Rauchverbot oder das Verbot von privaten MP3-Playern, Handies oder Laptops sind einige der Regeln, die beispielsweise nie per Mehrheitsbeschluss verändert oder abgeschafft werden können. Sie sind zu sehr Ausdruck der Wertvorstellungen und Lebenshaltung, die der Ecole zu Grunde liegen. Weltoffenheit und Toleranz wurden in diesem Zusammenhang schon genannt. Eigenaktivität statt Konsum, miteinander statt gegeneinander und die Entfaltung des ganzen Menschen sind einige weitere Grundsätze der Ecole, die auch im Bereich des Unterrichts zu ganz bestimmten Konsequenzen geführt haben.

 

DIE BESONDERE UNTERRICHTSORGANISATION DER ECOLE

Selbständiges Entscheiden und Arbeiten gehörten zu den wesentlichsten Zielen, die Paul Geheeb im Auge hatte, als er in den ersten Jahren der Odenwaldschule zusammen mit einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern daran ging, das System der Jahrgangsklassen in ein System frei wählbarer Kurse umzuwandeln. Schon anlässlich der Eröffnung seiner Schule im Frühjahr 1910 hatte er seinen SchülerInnen erklärt: "Worauf es ankommt, das ist, die Unterrichtsanstalten, in denen passiv zuhörende Kinder dozierenden Lehrern gegenüber sitzen ... in Arbeitsgemeinschaften zu verwandeln, in denen ihr mit euren Lehrern zusammenarbeitet wie etwa die Arbeiter mit den Vorarbeitern auf dem Bau".

Das damals eingeführte "Kurssystem" bewährt sich bis heute. Die SchülerInnen sitzen nicht mehr einfach, wie sonst allzu häufig üblich, ihre im Stundenplan aufgeführten Lektionen ab, sondern sie stellen sich auf Grund ihrer Interessen und Schulziele aus einem breiten Angebot von Kursen jeweils ihren ganz individuellen Stundenplan zusammen. Dabei können nur jeweils drei Fächer gewählt werden. Diese werden jeden Tag unterrichtet, wobei die Dauer der Unterrichtsstunden 60 oder gar 70 Minuten beträgt. Auf diese Weise wird ein ruhigeres und konzentrierteres Arbeiten möglich. Nach einer "Kursperiode" von 6 Wochen wird neu gewählt, wobei besonders Kurse in Hauptfächern oft über 2 oder mehr Kursperioden laufen. Vor dem Wechsel der Kursperiode wird jeweils versucht, die Angebote der LehrerInnen und die Bedürfnisse und Wünsche der SchülerInnen möglichst optimal zu koordinieren. Wo dies notwendig ist, helfen die TutorInnen und die FachlehrerInnen bei der Kurswahl. Die jüngsten SchülerInnen - bis ca. 11 Jahre -werden im Rahmen einer festen Unterstufengruppe unterrichtet.

Als "echter Jünger Pestalozzis", wie er sich selbst gerne nannte, beschränkte Geheeb die eher intellektuellen Schulfächer auf die Vormittage. Die Nachmittage sollten frei sein für individuelles Arbeiten, für handwerkliche, musische und sportliche Aktivitäten und für allgemeine Schuldinge. Auch diese Trennung in Morgen- und Nachmittagskurse ist in der Ecole nach wie vor üblich. Dass es in dieser Schule keine Noten und kein Sitzenbleiben gibt, braucht nach all dem Gesagten wohl nicht mehr besonders betont zu werden.

Auf Grund der grossen Flexibilität des Kurssystems können sich die Schülerinnen und Schüler in der Ecole auf ganz unterschiedliche Schulziele vorbereiten. Die Breite des Angebots wird durch den Ende der 1950er Jahre für die Englisch sprechenden Schülerinnen und Schüler eingerichteten, ähnlich aufgebauten amerikanischen Schulzweig zusätzlich erweitert.

 

NICHT NUR EINE IDYLLE

Die Ecole ist ein kleines Internat in einem noch relativ intakten Dorf ... Eine Idylle ohne Bezug zu unserer Wirklichkeit? So wird die Schule von Besucherinnen und Besuchern oft empfunden. Immerhin: Schulversammlungen, Schulfeste, ein ausgebautes Kurssystem für ältere SchülerInnen u.ä. sind Dinge, die im Grunde an jeder Schule möglich wären, und die vielen Schulen sehr gut täten! Nein, die Ecole ist nicht einfach eine exotische Idylle - sie könnte ein Anlass dafür sein, über unsere eigenen Schulen nachzudenken.

 

   Copy 1993 / 2021