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Es wird ernst, und es macht Spass: Vom Voluntär zum Rektor der UPP

In Lybien setzt Gadafi das Militär ein, um sein Folk zur Gevolkschaft zu zwingen, und in Japan herrscht Chaos nach einem schweren Erdbeben und einer Flutwelle, die offenbar noch verheerender war als das Erdbeben selbst. Das ist die Welt dort draussen, heute, am 13. März 2011. Und hier an der kleinen Uni mit dem grossen Namen?

Die Beförderung ...

Ich sitze im Büro der UPP. Es ist Sonntag morgen. Die Tür zur Terasse und zum Vorplatz ist geschlossen. In unserem neuen grossen Raum im Anbau, den wir vergangene Woche anlässlich des internationalen Tages der Frau erstmals benutzt haben, ist Kirche: Lautes rufen und schreien und dazwischen plötzlich aufbrausend trommeln und singen. Ich wollte das Singen heute aufnehmen, habe aber ausnahmsweise bis nach neun Uhr geschlafen, sodass ich dem kirchlichen Zeremoniell heute hinterherhinke. Dazu ist alles entfernter und weniger aufregend als während der vergangenen Sonntage, als die Kirche gleich nebenan im Auditorium stattfand und mich die Trommeln schier aus dem Bett gerollt haben.

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Madame Chantal am Kochen


Ich fühle mich etwas zersiedelt. Ein wenig grummelt der Hunger in meinem Bauch. Madame Chantal ist vor zehn Minuten angekommen und beginnt jetzt mit Kochen. Das geschieht hier auf einem kleinen Holzkohlefeuer und kann dauern. "Ich war in der Kirche, Monsieur Martin", sagt sie und verzieht sich in die Küche. Diese wird heute oder morgen verlegt, denn das Zimmer, in dem sie sich seit ein paar Wochen befindet, wird für einen unserer zwei neuen Voluntäre gebraucht. Ja, "die Russen" kommen: Eine Frau und ein Mann, nicht verheiratet und offenbar auch kein Liebespaar, wie Flory auf Sainas neugierige Frage in der letzten UPP-Versammlung erklärt hat. Sie sollen heute in Bujumbura eintreffen, und morgen werden sie hier sein. Sie werden - vermutlich ab Donnerstag - einen Kurs in "general sociology" und einen zweiten zum Thema "Integrity and good gouvernance" geben. Ich bin neugierig, wie das gehen wird: Die Frau - oder war es der Mann - kann offenbar etwas französisch, aber sonst ... Vermutlich werden wir viel übersetzen müssen. Die beiden bringen sicher neue Luft und neue Bewegung in unser Leben, und vielleicht enntsteht mit ihnen hier auch so etwas wie ein kleines Privatleben, eine kleine "europäische Gemütlichkeit". Schön wäre dies auf jeden Fall, auch wenn ich mich inzwischen mit der hiesigen Lebensqualität einigermassen abgefunden habe..

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Kinder spielen und rufen draussen. In der Kirche beginnt ein neues Lied. In meinem Netbook ist noch Strom für 25 Minuten. Unsere zwei von einem Solarpanel gespiesenen Batterien wollen heute offenbar wieder einmal nicht arbeiten! Das Thema ist ein Dauerbrenner. Manchmal funktioniert die Einrichtung, manchmal funktioniert sie nicht. Wir sind seit Wochen im Gespräch mit wechselnden Experten, die wechselnde Meinungen über die möglichen ursachen dieses Problems abgeben. Für mich ist es die grosse Lektion in "Mensch ärgere dich nicht" und in "gut Ding will Weile haben". Ich übe mich in Gelassenheit, denn, nun ja, was nützt es, wenn wir die ganze Welt gewönnen, und nähmen schaden an unseren Seelen. Und dann sind da die Zahnrädchen des Engländers. Ich denke mit schrecken an das kleine indische Reisebüro und den regelrecht auseinanderfallenden Engländer und seine Freundin, die auch vor zwei Monaten plötzlich warnend vor mir standen, als mich an der malisch-burkanabeischen Grenze das grosse Ausrasten zu schütteln begann.

ich schalte mein Ding also aus und wende mich etwas der Welt zu. Mit einer zweiten Tasse Kaffee hinaus auf die Terasse? Ich glaube, das ist der nächste Schritt in meinem Leben ... Später kommt ja vielleicht die Sonne oder wir werfen den Generator an ...

Und die ernste Lage? Weshalb habe ich geschrieben: "Es wird ernst"? Nun, vor drei Tagen haben Robert und Flory mich gebeten, die Leitung der UPP zu übernehmen. Sie befürchten, dass die Dinge hier schnell stagnieren oder gar ganz auseinanderfallen, wenn ich der UPP ab April nur als Berater treu bleibe. Wäre ich der Rektor der UPP, so würde es hier weitergehen. Die beiden haben ein grosses Vertrauen in mich. "Wir haben das Gefühl, du bist im Stande, die UPP aufzubauen sow wie wir es uns erhofft haben. Wir können es allein nicht oder noch nicht. Du kannst es." Flory hat mir den Vorschlag bereits einmal gemacht, vor zwei oder drei Wochen. Damals habe ich abgelehnt und ihm halb im Ernst, halb im Spass gesagt, dass er der Vater des Kindes sei und sich deshalb um dieses kümmern müsse. Inzwischen haben wir einiges hinter uns gebracht, und ich habe gemerkt, wie gut wir drei zusammenarbeiten können.

Wir stehen was die Ziele der UPP angeht auf demselben Boden: Robert, Flory und Patric haben das pädagogische Konzept der UPP, welches ich in den letzten Wochen verfasst habe, nicht nur gut geheissen, sie freuen sich echt darüber und empfinden es als sehr hilfreich und klärend. Und als ich Flory Anfang Woche von meinem grossen Zweifel an jeder Art des Lehrerseins sprach, stimmte er mir ohne wenn und aber zu. Es war ein gutes Gespräch, in dem wir von der maladie scolaire sprachen, an der die Studierenden hier leiden, und die wir in unserer Arbeit unbedingt berücksichtigen müssen. Die "maladie scolaire" ist neben der "maladie congolaise" die zweite grosse herausforderung der UPP und das zweite grosse Hindernis auf ihrem Weg.

Ich habe in den vergangenen Tagen auch mit den Studierenden von dieser Krankheit gesprochen. Bis dahin wollte ich sie nicht wahrhaben und habe mich benommen, als ob sie nicht da sei. Nach der Psychologieprüfung von vor zehn Tagen ist mir jedoch klar, dass sie da ist und dass wir gut beraten sind, uns gezielt mit ihr zu befassen. Wie dies geschehen kann? Nun, zB durch einen dem Studium an der UPP vorgeschalteten Spezialkurs, einen "preparation month" und durch halbjährige Standortbestimmungen mit den Studierenden. Das waren jedenfalls zwei Ideen, welche Flory und ich während unseres Gesprächs über die maladie scolaire entwickelt haben. Inzwischen habe ich sie zu Papier gebracht und in den nächsten Tagen werden wir entscheiden, ob wir sie in das pädagogische Konzept der UPP übernehmen. Sie, und andere Dinge, die zur Überwindung der "maladie scolaire" beitragen können. Wir das ist Flory, Robert, Patric und ich, wobei ich ab morgen der Chef der Truppe sein werde, denn ich habe gestern gesagt, dass ich mich freue, die mir mit soviel Vertrauen angetragene Stelle zu übernehmen.

ich bin also sozusagen übernacht Rektor der Université Panafricaine de la Paix geworden. Robert und Patric sindd für das Geschehen vor Ort zuständig, während ich als eine Art Aussenminister und Ministerpräsident für die Einhaltung unseres Kurses und unsere Vernetzung mit der Welt verantwortlich bin. Noch ist Robert der Chef der Verwaltung, während Patric als akademischer Berater die Studierenden und die Lehrkräfte betreut. Ich sage, noch, weil wir am vergangenen Mittwoch auch davon gesprochen haben, dass Robert die Betreuung der Studierenden übernimmt. Er hätte grosse Lust dazu, und ich denke, er wäre dafür wesentlich geeigneter als für das, was er jetzt tut. Ob der Wechsel zustande kommt hängt von Patric ab. Dieser war am vergangenen Montag erstmals nach Wochen wieder hier. Dabei hat er in der Uni-Versammlung am Nachmittag sich so heftig und unangenehm geäussert, dass ich seither ziemlich voreingenommen gegen ihn bin. Robert und Flory sind ebenfalls skeptisch, doch wollten sie Patric noch eine Chance geben. Ein Knackpunkt war die Frage, wie viel Lohn Patric für seine Arbeit braucht und will. Am Donnerstag hat er nun zugesagt, der UPP für 200 Dollar im Monat weiterhin drei Tage pro Woche zur Verfügung zu stehen. Äusserlich ist er also weiterhin dabei. Ob er auch innerlich wieder zu uns stösst werden wir sehen. Es könnte leicht die erste "Personalie" sein, mit der ich mich als Chef befassen muss - als Chef und nicht mehr als Besucher und aussenstehender Berater.

Die Sache ist also ernst geworden, und der Ernst erfüllt mich mit grosser Freude. Ich habe das Gefühl, dass dies eine Arbeit ist, auf die ich seit Jahren gewartet habe: Nicht Unterrichten, sondern einen Ort schaffen, an dem gelernt, diskutiert, geforscht, gefragt und gesucht wird. Impulse geben, für die grossen Linien verantwortlich sein, die Uni innerlich lebendig halten und sie nach Aussen verkaufen, sie mit anderen ähnlichen Unternehmungen und Projekten in Verbindung bringen, für sie Werben und Geld auftreiben -, doch, ich glaube das kann ich, das liegt mir und darauf habe ich grosse Lust. Natürlich will und muss ich mich auch um den konkreten Alltag hier kümmern, muss öfter hier sein, um zu sehen, in wie weit das Geschehen vor Ort dem, was wir öffentlich versprechen, entsprichtt. Doch die tägliche Arbeit hier liegt nicht in meinen Händen. Das ist gut. Das schafft eine gewisse Distanz aus der heraus ich handeln kann. Eine Grassroot University zu schaffen, eine lebendige Instituttion, die in ihrer Region verankert ist und sich für diese Region einsetzt, einen Lernort, an dem junge Menschen ihre Kraft und ihre wichtigkeit entdecken können, ein Ort, der ihr Ort ist ... Ein Ort, an dem gefeiert und diskutiert, gelacht und gefragt, geforscht und gedacht wird ... Die Idee beflügelt mich. Dabei liegen Idee und wirkklichkeit oft miteinander im Streit, ichh weiss es und will es heute doch nicht wissen. Ich will mich heute ganz einfach freuen und an das denken, was hier entstehen kann, wenn uns die Götter gnädig sind!

Ich will von der Wirklichkeit nichts wissen, doch die Wirklichkeit kennt keine Rücksichtnahme! Schon klopft sie leise an meine Tür ... Sie kommt in der Gestalt von Alain daher, freundlich und zugewandt wie immer. Wir sitzen in meinem Zimmer und reden. Er hat etwas auf dem Herzen, will aber zunächst nicht davon sprechen. Ich ermuntere ihn. Er zögert, dann beginnt er. Was ihm Sorgen macht ist seine Zukunft. So sehr er sich hier engagiert, so sehr denkt er bereits über die UPP hinaus. Er will informatik studieren, und dies richtig. Zudem möchte er andere Menschen kennenlernen, möchte Kontakt mit Weissen in seinem Alter ... Die Kücken verlassen ihr Nest. Es wird leer werden ohne ihn, und doch: Er hat recht. Er muss weg, er soll weg, nicht morgen oder übermorgen, aber vielleicht in einem halben oder einem ganzen Jahr. Er wird weggehen, und wir müssen auf neue Alains und Evas, Wilis und Rebecas hoffen ... Ein ewig Stirb und Werde! - Er ist noch da, und doch spüre ich schon den Abschied. Traurig und zugleich auch spannend, ihm bei dem Schritt in die Welt hinaus helfen zu können. Ich habe ihm aus ganzem Herzen zugestimmt und gesagt, dass er auch aus meiner sicht unbedingt weggehen müsse, weil er hier zu wenig gefordert sei und zu wenig gefördert würde, dass ich aber ganz fest hoffe, dass er nicht endgültig weggeht, sondern innerlich mit seinem land und auch mit der UPP verbunden bleibt... "Joo", sagt er auf seine typische Weise, "jooo, I won't leave the Congo, even when I go. It's my country and here, these are my people!"

Ich schweife innerlich ab und denke ich an das geringe intellektuelle Niveau unserer StudentInnen. Ich mag von den Themen, die hier in der Luft hängen und diskutiert werden wollen, noch so erfüllt sein: die meisten Menschen, die hier studieren, sind einfache Gemüter. Sie mögen grosse Träume träumen, aber grosse Gedanken denken sie nicht. Natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen, Alain ist eine davon, doch in der Mehrheit bleiben wir bestenfalls auf Mittelschulniveau. Dabei betrübt mich nicht die fehlende Bildung, sondern die fehlende intellektuelle Präsenz und Streitlust. Wäre sie hier, so käme der Rest von selbst, und käme er nicht, so wäre nichts verloren! Ich habe kein Interesse an "mit Büchern bepackten Eseln", aber ichh wünsche mir kritische, wache Geister, die sich nicht so schnell ein X für ein U vormachen lassen, Menschen, die Lust am Nach- und Querdenken haben, Menschen die Lust haben, das Selbstverständliche zu hinterfragen, Menschen, die genau hinsehen und sich nicht mit halben Dingen zufrieden geben, Menschen, die sagen, "stop ich verstehe nicht", Menschen, die widersprechen und sagen, es könnte doch auch so sein oder so! Ob sich unsere Studierenden so entwickeln werden? Bei Alain finde ich genau diese Neugier, dieses Fragen- und Wissen wollen, diese Lust am diskutieren und am Querdenken. Aber er wird weggehen ... Ich schüttle mich. Ich wollte heute doch nur in meinen Luftschlössern herumspazieren und all die herrlichen Aussichten geniessen, die sich von ihren zahlreichen Fenstern und Balkonen aus bieten. Und schon trauere ich wegen etwas, was noch weit weg ist, falls es überhaupt je eintrifft! Im medizinischen Bereich nennt man einen solchen Menschen einen Hypochonder. Also bin ich ein Hypochonder der Seele ...

Back to the roots oder: Wer ist hier eigentlich für Afrika zuständig?

Vor ein paar Stunden bin ich durch unser Haus gegangen und hab mir die Zimmer angeschaut, in denen unsere zwei Russen wohnen sollen. Das eine ist die bisherige Küche. Ein grosser, angenehmer Raum. Das andere Zimmer ist klein. In ihm steht ein grosses Bett. Für mehr ist nicht Platz. Ich stehe da und merke wieder einmal, wie gering hier das Gefühl für Qualität, Schönheit oder Gemütlichkeit ist. Man stellt einfach das übliche, breite Bett hinein und damit hat sich's. Ich beginne gleich zu messen und baue im Geist ein Hochbett. Damit gibt es Platz für einen Tisch beim Fenster, einen gemütlichen Stuhl unter dem Bett und ein geräumiges Regal hinter der Türe. Der Raum ist gegen 3 Meter hoch. wir haben also Platz und kosten wird die Sache auch nicht die Welt. Man kann das Hochbett zudem leicht in ein Kaijütenbett umwandeln, wenn wir mehr Besucher haben. Wenn wir uns jetzt noch einen Teppich oder eine Matte leisten und einen Wandbehang, dann wird dieses Zimmerchen echt gemütlich!

Ich habe Lust an solchen Überlegungen. Mir macht es Freude, die Räume hier mit wenig aufwand schön einzurichten, doch den meisten hier scheint es nichts auszumachen, dass sich die alte Metalltür zum Auditorium nicht recht öffnen und schliessen lässt, oder dass man die Tür zum büro von aussen oft nicht aufbringt, weil ein Haken so tief angebracht wurde, dass er sich regelmässig unter der Tür verklemmt. Es scheint ihnen egal, wenn die Bänke im Auditorium kreuz und quer durcheinanderstehen, und wir in allen Räumen blanke Betonböden haben. Es ist als ob man Europa immitiert ohne je einen Bezug zu dem entwickelt zu haben, was man da hinstellt und tut. Zumindest hier in der UPP habe ich keine afrikanischen Möbel gesehen; auch kein afrikanisches Geschirr; keine afrikanische Kunst und kein bauliches Element, das mich an Afrika erinnern würde.

Das äussere entspricht dem inneren der Uni: Man versucht Europa zu immitieren. Dabei ist die Immitation schlecht, doch das wissen hier nur wenige. Man ist stolz, dass man ein richtiges Auditorium mit richtigen Bänken hat und sich nicht mehr draussen unter einem Baum versammeln muss. Man ist stolz, dass man PHDs aus dem Westen als DozentInnen hat, auch wenn diese keine Ahnung von der hiesigen Kultur haben. Man ist stolz, westliches Wissen zu akkumulieren, auch wenn man damit so wenig anzufangen weiss wie mit den westlichen Stühlen und Tellern ...

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Holztafel im neuen Auditorium

Wo sind die Töpfe und Tongefässe von früher? wo die Matten, auf denen man sich ausstrecken kann, wo die Wandbehänge und die Wasserkrüge ... Und wo ist der Stolz auf die eigene Geschichte? Wo sind die Lehrbücher, die uns von der hiesigen Psychologie oder Medizin erzählen? Wo ist die Kritik gegenüber dem Westen und seinen krankhaften Vorstellungen von Entwicklung? Wo ist die Freude an den eigenen Tänzen und den eigenen kräftigen Stimmen? Wo der Stolz auf das Land und seinen Reichtum? Wo ein Gefühl für den Reichtum in all der sogenannten Unterentwicklung!

Ich glaube, ich bin hier auch für's Afrikanische und für den Verrat an sich selbst zuständig, denn den Menschen hier scheint ihre Kultur- und Geschichtslosigkeit kein Problem. Man hat ihnen das eigene so gründlich ausgetrieben, dass sie kaum mehr davon wissen ... Interessant auch dies, interessant und vielleicht sehr wichtig auch im Hinblick auf das Wecken der Kräfte und des intellektuellen Kampfgeistes der menschen, die hier zusammenkommen. Dabei scheint die Gegend hier doppelt belastet.

Zuerst hat man ihnen Afrika geklaut, hat sie als Neger verspottet und dann waren sie auf der Flucht. Es ist vielleicht die besondere Geschichte der menschen hier, dass sie so gar keinen Sinn mehr haben für Schönheit, Solidität oder gemütlichkeit. Es ist immerhin keine zehn Jahre her, dass hier einer der schrecklichsten Kriege der letzten Jahrzehnte gewütet hat! Es gibt keine zerbombten Kirchen und keine einschusslöcher in Hausmauern, die einem jeden Tag daran erinnern, doch der Krieg war da, ist noch da, hautnah - von hier aus nur 20 Meter auf der anderen Strassenseite in Form der Blauhelme - willkommen und gehasst, weil man sie braucht und doch nicht will. Ja, der Krieg ist noch immer da - 60 Kilometer nördlich von hier - in Radioberichten, und in den Köpfen und Herzen meiner StudentInnen.

Vorgestern haben Remi, Maria und Massemo in der Psychologie ihre Untersuchung zu den traumatischen Wirkungen des Krieges in der Gegend von uvira präsentiert. Es war keine Glanzleistung, doch die Diskussion, die sich nach ihrem Referat entwickelte, war spannend. Für Dede ist ganz klar: Der Krieg ist nicht vorbei! Er sieht die Spuren noch überall ... Als ich fragte, wie viel Prozent der lokalen Bevölkerung tatsächhlich Zeugen der von den dreien (und vielen anderen) geschilderten Grausamkeiten geworden seien, meinte Remi nach einigem Nachdenken: 75%. Daraufhin bat Alain, doch kurz einen Test zu machen. Diejenigen, die während der Kriegsjahre eine der Grausamkeiten erlebt hätten, von denen man heute so oft spreche, sollten die hand heben. Ein schlaues Bürschchen,dieser Alain. Er meinte nämlich, er halte die zahl von 75% für viel zu hoch gegriffen, und tatsächlich meldete sich auf seine Frage hin nur Dede. Er war in einer Moschee, als dort ein grosses Gemetzel stattfand. Die übrigen 12 oder 15 Anwesenden haben selbst nichts gesehen - keine Vergewaltigung, keine Schiessereien ... Flüchtlinge waren sie jedoch alle oder immerhin beinahe alle.

Koordination à la Africaine ...

Es ist Montag Vormittag. Wir haben unser Koordinationstreffen. Ich bin seit zehn nach neun hier. Sonst ist niemand da, weder Alain, noch Robert, noch Patric, noch Flory. Die Treffen seien wichtig, ganz wichtig! Geradezu essentiell, damit wir allmählich effizienter zu arbeiten beginnen. Uns über das, was hier geschieht informieren, entscheiden, wer was in den nächsten Tagen tut, uns absprechen ... Doch, solche Treffen brauchen wir, zwei mal pro Woche. Wir waren uns einig.

Es ist angenehm ruhig und kühl. Ein bewölkter Taag. IN der Nacht hat's einmal kräftig geregnet. Überhaupt ist das Klima hier angenehm unafrikanisch. Es ist selten wirklich heiss. Oft bläst ein kleines Lüftchen. Es regnet und gewittert immer wieder mal. Was das Klima angeht, ist Uvira also ein huldvoller Ort, aber sonst?

Das Flory nicht hier sein würde, wusste ich. Er ist noch in Bujumbura. Er hat gestern gemailt: Die Russen sind heil angekommen, doch ihr Gepäck ging unterwegs verloren. Sie kommen deshalb frühestens heute Abend, vielleicht erst morgen. Von den andern habe ich nichts gehört. Das ist also das sehr wichtige Koordinationstreffen, welches wir vor zwei oder drei Wochen eingeführt haben ... Schiller lässt grüssen! Dafür sitzt Eisha die Treue bereits seit über einer Stunde an ihrem Tisch. Was sie tut, weiss ich allerdings nicht. Auch Ibra ist hier. Er ist der Daktylo, d.h. er tipt Texte für Eisha, falls es was zu tippen gibt.

Nun wäre heute ja Montag und Montag ist Stromtag, aber Papa Lukosi, unser Nachbar, sagt, er könne uns erst am Nachmittag anhängen, es seien Beamte der Stromgesellschaft im Quartier. Da ist's also nichts mit Schreiben oder Drucken. Wir wären besser dran mit einem Büro alten Stils. So warten wir dauernd auf Strom, auf Patric, auf Robert oder auf den Schreiner, die Köchin oder Vicky mit dem Schlüssel!

Doch Eisha, die treue, zähe, ist hier. Sie setzt sich vertraulich neben mich. Sie hat über die Sache mit dem Telefonbuch nachgedacht. Das Heft, welches sie da habe, dieses Heft sei doch etwas billig. Es könne leicht zerreissen, denn so ein Telefonverzeichnis würde doch von vielen Menschen benützt, und da wisse man nie. Sie habe deshalb gedacht, man müsste vielleicht etwas solideres nehmen. Sie hält ein Buch in der Hand, a4, 200 oder 300 blütenweisse Seiten. Ob dies nicht viel besser sei? Ja. Das Telephonverzeichnis. wir haben vor zehn Tagen davon gesprochen. Robert und Eisha wollten die Sache sofort in Angriff nehmen! Ich sage, das ich ihren Gedanken sehr gut finde, dass es unbedingt etwas stabileres brauche, dass dieses Buch aber vielleicht etwas gross sei, denn in einigen Jahren würde vielleicht ein neues System eingeführt, vielleicht etwas mit Computer. Computer! Ja, das bringt sie auf eine Idee: Sie könnte doch eine Tabelle kreieren mit Name und Vorname, Beruf und Adresse und Telefonnummer und dann könnte sie diese 20 oder 30 mal kopieren und ein Heft daraus machen mit einer Plastikfolieals Deckblatt ... Ja. Ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Ich atme langsam und tief durch. Sammelt sich da etwa schon wieder diese leichte Ungeduld in mir? Mein Zynismus warnt mich. Nimm's locker. Denk an den Engländer und die Zahnrädchen. Das Bild dieser kleinen Zahnrädchen, wie sie da aus dem Engländer rausfallen, gefällt mir. Der mensch als mensch-Robotter. Bei schönem Wetter ganz Mensch, ganz Lächeln und Gemütlichkeit, und dann plötzlich Geratter und Geknatter und alles geht in die Brüche.

Ich habe Robert, der gestern Abend kurz hier war, meine Idee eines Hochbettes für das kleine Zimmer erklärt. Er war ganz angetan von der Idee. Ja. Er wolle den Schreiner fragen. Vielleicht könne man das Bett verkleinern und ... Gleich morgen früh. Inzwischen ist Robert eingetroffen. Der Schreiner ist noch nicht da. Es ist zehn nach zehn. Vielleicht sollte ich meinen ehrenhaften Posten als Rektor der panafrikanischen Friedensuniversität wieder abgeben, denn wenn ich der einzige bin, der sich für dieses Projekt einsetzt, dann macht es doch nicht so viel Spass wie ich dachte.

Mittlerweile ist Adrian eingetroffen. Er ist der ältere Bruder von Flory und leitet die Ferme d'éspoire in Kiliba. 335 Kinder in der Primar- und 250 in der Sekundarschule. Ja, Schwierigkeiten gäbe es, vor allem finanzielle. Viele Kinder könnten ihr Schulgeld nicht oder nur mit mühe bezahlen. 40% ihrer SchülerInnen haben keine Eltern. Doch, motiviert seien die Kinder, aber einfach arm. Oft fehle es an essen. Mangelernährung, ja, das sei ein grosses Problem. O, wenn sie ihren SchülerInnen einmal pro Tag eine Mahlzeit anbieten könnten, das würde sehr viel bringen, auch für die schulischen Leistungen ... Ich frage mich, weshalb wir nicht damit beginnen, statt hier an einem Wolkenkuckucksheim herumzubasteln, das viel zu hoch über der Erde schwebt!

Langsam kommt Leben in die Bude. Robert ist weggefahren, um den schreiner zu holen. Die Küche braucht noch eine Türe, und da ist dann noch die Idee mit dem Hochbett. Offenbar hat er vor seinem Aufbruch noch den Befehl gegeben, den Generator anzuwerfen, denn der läuft jetzt auch. ich empfinde sein Dröhnen schon beinahe als wohltuend, denn es verheisst Strom, Stabilität, Verbindung mit der Welt und ihrem Konfort! Ich werde wohl auch bald einmal meine Emails herunterladen, falls es seit gestern Abend welche gegeben hat.

Ich erlebe, wie Apathie um sich greift. Man will etwas tun, stösst auf Hindrnisse, kann nicht tun, was man tun will, will es immer noch, hängt noch immer fest wegen irgend eines kleinen Problemchens. Das ist der Alltag hier. Egal, was man sich vornimmt. Da ist es nur natürlich, dass man allmählich träge wird und einem die Zielstrebigkeit abhanden kommt. Es ist ein zähes Steckenbleiben, ein sich Aufreiben in zahlosen kleinen Dingen, ein penetrantes nicht vom Fleck kommen ... Man kann sich echt daran gewöhnen, bis man nur noch dasitzt und wartet ... Eine Weile noch bäumt man sich zwischendurch auf, rastet aus und versucht, das Schicksal doch nnoch in eine andere Bahn zu lenken, doch nach und nach wird man ruhiger, gelassener, gleichgültiger. Man spricht noch von seinen Träumen, doch hat man aufgehört, etwas für sie zu tun ...

Ich weiss, ich bin kleinlich. Ich bin nicht gemacht für das Leben hier. Ich denke an Gilbert. Ich habe ihn vergangenen Dienstag oder Mittwoch gefragt, ob er meine Kleider waschen könne. Ich wollte es selbst tun, doch nein: Da hier noch Baustelle ist, weiss man nie, wo man die Dinge zum Trocknen hinlegen oder hängen kann ... Gut. Dann eben Gilbert. Er sagt ja, übermorgen werde er mir die Kleider geben. Übermorgen war vorgestern. Auch du gilbert ermutigst mich unglaublich mit deinem eifer!

Es ist zehn nach elf. Robert ist noch nicht zurückgekommen. Auch von Patric und Alain ist nichtts zu hören und zu sehen. Ich koordiniere meine Gedanken und Gefühle derweil alleine. Nein, nicht alleine, denn der Generator wurde vielleicht nicht auf Roberts Bitte hin angeworfen, sondern weil eine Truppe elektrischer Fachleute irgendwelche Kabel prüft .. Heri und Pasteur und Ibra und noch jemand ... Trotz des Geratters gibt's hier im Büro keinen Strom und das Modem ist tot. Jetzt, wo der Generator läuft, ertrage ich den Stillstand nicht mehr! Ihr macht Strom und wir kriegen keinen! "Aber ja, es ist doch Strom da", "nein, es ist kein Strom da", "doch", "nein", "ah, tatsächlich, weshalb denn nicht?" - Ja, weshalb nicht? Weiss ich es! Ich verlasse das Büro. Eisha ruft mir etwas beruhigendes nach. In meinem Zimmer denk ich heftig an Europa. Ich möchte etwas tun, aber an allen Armen und Beinen hängen Gewichte. Man kommt keinen Schritt voran ... In meiner Verzweiflung grüble ich im Rucksack nach meiner Tinwistel und versuch mich flötend etwas zu beruhigen. Zehn Minuten später bin ich wieder im Büro. Emails gibt's keine wichtigen. Auch sonst geschieht nichts. Ich lese, was ich geschrieben habe, und warte ... Wollten wir nicht etwas tun? Ja, aber was? Das Hochbett? Die Russen? Ja, vielleicht. Geld auftreiben für die UPP? Die UPP-Webseite anschauen? Mit den Buchverleihprogrammen, die ich kürzlich bei einer kleinen Googelei entdeckt habe, Kontakt aufnehmen? Flory anrufen und ihn bitten, in Bujumbura einen CD-Player für Frau Lundimo und ihre blinden SchülerInnen zu kaufen? Ja, das will ich eigentlich alles, aber die Verbindung mit Burundi wird wieder unterbrochen sein und die Buchprogramme ... das Fundraising ... Die Webseite ...

Heri, der UPP-Webmaster, ist wie ein einsamer Komet. Er taucht plötzlich auf, ist gesprächig, tut etwas; dann ist er wieder weg, meldet sich nicht, reagiert nicht, und wenn ich etwas von ihm wissen möchte, muss ich ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Alain ist da wesentlich wachr, doch heute ist auch er nicht da. Vielleicht träumt er von der ETH in Lausanne? Vielleicht ist er innerlich schon abgereist? Und die uhr, die er aufhängen wollte? Er hat vor drei oder vier Wochen im School Assembly davon gesprochen ... Vor drei oder vier Wochen ... Seither ist nichts geschehen ... Jedenfalls nichts, was mir das Gefühl gibt, dass sich die Dinge hier bewegen ...

Als ich gestern Abend eine Stunde Strom wollte, musste ich dafür wieder einmal 3,500 kongolesische Francs hinblättern, damit der Pasteuer jemanden schicken konnte, um Diesel zu kaufen ... So war das vor zwei Wochen und so ist das noch immer. Ob icch mein ehrenwertes Amt wieder abgebe? Heute oder vielleicht erst morgen? Ich bin ein Rektor ohne Uni ... nur mit einem Generator und ein paar Kindergärtler, die eben lärmend ihre Pause feiern.

Es ist zwanzig vor zwölf. Bald gibt's Mittagessen. Und dann ... Die letzte reguläre Psychologiestunde ... ich werde etwas melancholisch bei dem Gedanken, dass mich danach nichts mehr festes mit den StudentInnen hier verbindet, dass ich danach nur noch einsam auf meiner Kommandobrücke auf und ab gehe und darauf warte, dass etwas geschieht.

Die zarten Pflanzen ...

Gestern Abend sass ich eine Weile mit Vicky, dem Nachtwächter, und Joel im Büro. Wir haben geplaudert. Ich habe Joel gefragt, was er den ganzen Tag getan habe: Von neun bis zwölf sei er in der Kirche gewesen, danach habe er sich etwas ausgeruht - se reposer, ein wichtiges Wort in dieser Weltgegend -. Anschliessend hat er gelesen und notizen gemacht, bis etwa um fünf. Dann hat er Fussball gespielt. Na, und jetzt sei er hier. Er wollte sehen, ob's was neues gibt. - ich frage ihn, was er gelesen habe. "Naja, Psychologie eben." "O,du willst am Dienstag noch einmal getestet werden." "Ja, und da bin ich jetzt am Lernen." Ich bin richtig gerührt, da setzt sich doch tatsächlich einer hin und arbeitet! Ja, er habe Notizen gemacht, um sicher zu sein, dass er wirklich verstehe, was er da lese ...

Eine viertel Stunde später ist Joel gegangen. Ich sitze mit Vicky auf dem Sofa. Vicky seufzt. Es gehe ihm nicht gut. Ich frage, "traurig?", er sagt "ja". Wenn er weg könnte, irgendwohin, dann würde er gehen! Hier gäbe es für ihn kein Leben, keine Zukunft ... Dann schaut er mich an: "Martin, Sie haben doch gestern hier die Blinden versammelt, ja und da habe ich überlegt, in dem Dorf, in dem ich gross geworden bin und in den Dörfern dort gibt es ebenfalls viele Blinde. Ich könnte sie zusammenrufen und dann könnte man auch dort einen Verein gründen. Ich würde es machen. Ich könnte mit dem Dorfvorsteher sprechen und dann würden wir es in den Kirchen ankündigen, dass da ein Weisser ist, der die Blinden zusammenruft."

Tatsächlich hatten wir am Samstag Nachmittag wieder eine Versammlung der noch immer in Gründung begriffenen Association des Aveugles de uvira. Diesmal war ich von Anfang an dabei und habe wie erhofft gesprochen. Ich habe allerdings das Gefühl, dass die Initiative nicht recht vom Fleck kommt, doch mag das bloss meine Ungeduld sein. Ich will in dieser Woche einmal bei Frau Lundimo vorbeischauen, um besser zu verstehen, wie sie ihr Schiffchen zu steuern gedenkt. Und jetzt Vicky, der oft so verloren wirkt. "Doch, das würde ich tun, und auch später könnte ich der Verbindungsmann sein zu den Blinden, denn es ist gut, wenn sie sich treffen." - Vicky und ich beschliessen, dass er am Mittwoch oder Donnerstag mit mir zu Frau Lundimo kommt, und wir mit ihr über diesen Plan sprechen, denn ich fände es gut, wenn sie zu den Menschen in den Dörfern sprechen könnte. Wenn regionale Treffen wegen der Transportkosten bis auf weiteres auch nicht möglich sein werden, so kann man doch telefonisch mit einander in Verbindung bleiben. Ich sage Vicky, wie wichtig seine Idee sei, denn den blinden Menschen gehe es oft noch viel schlechter als ihm. Er sagt "ja" und ist zufrieden, und ich bin es auch.

So entwickelt sich das Leben hier: Es sind kleine, zarte Anfänge, schnell entmutigt, schnell verdörrt. Und meine Funktion in alle dem? Es gibt Pflanzen, die allein aufrecht zu stehen und zu wachsen vermögen. Andere brauchen eine Wand oder einen Baum, um daran hochzuklettern.

Die autoritäre Wende ...

In der letzten Nacht habe ich kaum geschlafen. Ich dachte immer wieder an den Montag Nachmittag, die letzte reguläre Psychologiestunde. Ich geselle mich am zehn nach zwwei zu den drei oder vier Studierenden, die verstreut in ihren Schülerbänken sitzen und warten. Zehn Minuten später sind wir 6, um halb drei sind wir zu acht. Das Warten scheint den anderen nichts auszumachen. Sie plaudern gemütlich über dies und das. Nur ich scheine daran zu denken, dass hier unsere Kurszeit vertröpfelt. Von der "moralischen Polizei" ist nichts zu merken. Niemand der raus auf die Strasse geht, um zu sehen, ob sich dort vielleicht noch ein oder zwei unserer StudentInnen herumtreiben. Niemand, der sein Handy hervorkramt, um irgendwen anzurufen. Um fünf nach halb sind wir 9, und um zwanzig vor drei sind wir zehn! Nach den von mir zehn Tage zuvor aufgestellten Spielregeln kann der Unterricht jetzt beginnen. Ich versuche äusserlich gelassen und freundlich zu bleiben, und die zwei Referate, die bis um 16:00 auf dem Programm stehen, ziehen mich bald in ihren Bann. Aber jetzt, in der Nacht. Jetzt denke ich an die Gelassenheit der Studierenden. Sie lassen ihre zeit zerrinnen und unternehmen nichts. Es ist wie wenn jemand neben ihnen blutet und sie schauen einfach zu, wie das Blut aus dem Körper rinnt ... Sie schauen zu und tun nichts. Dass ich sie beschwöre, sich für ihre Uni einzusetzen und ihre Arbeit, das Studium, endlich ernster zu nehmen und pünktlich hier zu sein, scheint ihnen völlig gleichgültig. Mein Versuch, sie in Bewegung zu setzen, indem ich mich weigere mit dem Kurs zu beginnen, ehe nicht zehn Leute da sind, war ein totaler Fehlschlag. Sie sind nett, doch bleiben sie stur bei ihrem Kurs, auch wenn sie selbst zugeben, dass es sich dabei um eine schlechte Gewohnheit handelt. Ich liege im Bett und in mir steigt der Ärger auf. Wieder bin ich im Geist im Auditorium; es ist viertel nach zwei, alle warten gelassen ... Eigentlich sind diese Studis doch sau frech! Wir reden auff sie ein, erklären und argumentieren. Sie sagen, "ja, ja", und rühren keinen Finger ... Für so eine Gesellschaft rakere ich mich hier ab? Sie sitzen da und lassen mich rumrennen, lassen mich und Flory und Robert unsern Karren in Schwung halten ... Nein. So nicht!

Der Kampf dauert die ganze Nacht. Ich schlafe erst gegen vier oder fünf Uhr ein. Immerhin. Ich bin ruhiger. Ich weiss jetzt, was ich will.

Am Dienstag Nachmittag haben wir UPP-Versammlung. Wir haben sie ausnahmsweise um einen Tag verschoben, weil es vorher noch einiges zu klären gab. Flory teilt der Versammlung zu Beginn mit, dass er und Robert mich gebeten haben, die leitung der UPP zu übernehmen, und dass ich ja gesagt habe. Grosser Jubel; viel Geklatsche und Gebrüll. Dann rede ich. Ich sage, dass ich sehr gerührt sei von dem Vertrauen, was vor allem Flory und Robert in mich hätten, und dass ich mich sehr auf die Arbeit hier freue, dass sich jedoch alle bewusst sein sollten, dass ich ein strenger Rektor sein werde. "Ich will nicht mehr über das Zuspätkommen diskutieren. Es kommt nicht mehr vor und damit basta. Ihr könnt pünktlich sein, und wenn ihr wirklich international konkurrenzfähig werden wollt, dann müsst ihr es auch. ..." Es ist wieder eine lange Schulversammlung, doch nach zwei Stunden können wir tatsächlich feiern. Ich bin jetzt richtig der Chef, und die Studierenden freuen sich, auch auf meine Strenge. Robert und Flory, denen ich am Morgen von meinem autoritären Schub erzählt habe, stehen ebenfalls ganz hinter mir. Genau diese Strenge brauche die UPP!

Die Vorsätze sind also gefasst, die Reden wurden gehalten. Das Boot ist zu Wasser gelassen. Leider reichen Vorsätze und Reden jedoch nicht, wenn der Wasserstand zu niedrig ist und das Boot immer wieder auf Grund läuft und stecken bleibt wie unsere UPP! Ich bin jeden Tag neu überrascht, wie ineffizient Menschen sein können. Wenn die UPP eines Tages wirklich erwachsen ist, wird man mit Kopfschütteln auf die zeiten zurückblicken, wo es im ganzen Haus keinen Hammer und keinen Nagel gab, obwohl man mitten in einer Bauphase steckte. Man wird nicht mehr begreifen, dass die UPP ein halbes Jahr nach Eröffnung noch keine eigene Telefonnummer und kein ordentliches, realistisches Budget, keinen Voltmesser und keine Schere hatte. Man wird es nicht glauben, wenn die Studieerenden des ersten Jahrgangs erzählen, dass man damals ohne Strom und Internet angefangen habe, dass die Bibliothek aus 250 zerfledderten meist langweiligen Büchern bestanden habe und dass man oft kein Geld hatte, um den Generator für eine halbe Stunde oder eine Stunde laufen zu lassen. Man wird aber auch mit Staunen zuhören, wenn diese Studierenden von den ersten Schulversammlungen und den dort erlebten hitzigen Debatten erzählen, wenn sie davon schwärmen, wie man damals übereinander hergefallen sei, ehrlich, leidenschaftlich, demokratisch ungeübt und doch voll Eifer. Nie mehr sei es, so werden die menschen der Gründerzeit sagen, so gewesen wie damals, so heftig, so intensiv und nah und so spannend! - Jetzt, wo das ganze noch Gegenwart ist, ist es schwieriger, zu loben und zu preisen, denn es sind der Wanzen zu viele! Doch wenn wir unsere Kinderkrankheiten überleben, so werden wir vielleicht tatsächlich einmal genau so an die Anfänge der UP zurückdenken.

Ein paar schöne Texte und die Vision einer grossen Fundraisingkampagne

Eines der Projekte, die mich in meinem neuen Amt beschäftigen, ist die Erstellung einiger schriftlicher Unterlagen, die wir als Fundraising-Instrument gebrauchen können. Wir brauchen ein budget für das Jahr 2010-2011 und ein Budget für das Jahr 2011-2012, sowie einen kurzen Projektbeschrieb und einen Fünfjahresplan. Ich erkläre, dass wir diese Unterlagen brauchen, um über den kreis einzelner Freunde hinaus für die UPP Geld finden zu können. Robert und Flory stimmen zu. Eine Woche später verbringen wir zwei lange Abende mit der Redaktion des inzwischen erstellten Budgetentwurfes 2010-2011. Jetzt bräuchten wir noch das Budget 2011-2012, doch wir sind müde. Flory hat viel Extraarbeit in den Budgetentwurf gesteckt. Wir sind damit wirklich einen Schritt weiter gekommen. Ich mag nicht noch mehr drängen, obwohl ich eigentlich drängen muss, wenn ich meinen Ideen in Sachen Fundraising und PR gerecht werden willl. Meine Ideen! ich merke, wie viel Spass mir diese Management Aufgaben machen. Es steckt doch auch ein gehöriges quantum an praktischem Verstand in mir, vielleicht ein Erbe von mütterlicher Seite, denn hatte nicht meine Grossmutter vor rund 80 Jahren in Peking als junge Witwe mit drei kleinen Kindern das bankrotte Geschäft ihres Mannes übernommen und innerhalb einiger Jahre erneut in Schwung gebracht und zu einer blühenden Silberschmiede ausgebaut?

Der März geht zu Ende. Unser Geld auch. Immerhin: Dank der von meinem Vater in der Schweiz gesammelten Spendengelder haben wir inzwischen vier oder sechs richtige Toiletten und ein zweites Auditorium. Allerdings haben die Toiletten noch kein Dach und das neue Auditorium hat noch keine Fenster. Das mit den Fenstern nervt, denn wenn Zainas Vater nebenan mit der Flex arbeitet, ist die Verständigung in dem schönen Raum fast nicht mehr möglich. Wir halten einige spannende, aber auch strapaziöse School Assemblies unter diesen erschwerten Bedingungen ab. Ich frage Flory, ob wir nicht bald Fenster einbauen können. Er winkt ab. Wir haben kein Geld. Das Geld fehlt auch sonst an allen Ecken und Enden.

Plötzlich habe ich den Gedanken, drei Fundraising-Tage durchzuführen, an denen alle Mitglider der Uni sich auf irgend eine Weise beteiligen sollten: Zwei Gruppen könnten im Cyber unter Alexandras und Florys Führung nach möglichen Sponsoren suchen und Kontakt mit ihnen aufnehmen;; andere wären in Uvira und dem benachbarten Bujumbura unterwegs, würden von der UPP erzählen und für uns werben; wieder andere wären an der Uni und würden Texte für unsere Webseiteverfassen - autobiographische Texte oder Texte über bestimmte Aspekte des Lebens in Uvira, einfach Dinge, die die Menschen in der Welt interessieren könnten. Ich hätte derweil Zeit, an der im entstehen begriffenen Dokumentation weiterzuarbeiten. Es würde der Idee der Uni, wo immer möglich an konkreten Themen zu arbeiten, entsprechen. Unsere reale Not würde plötzlich zu einer spannenden Herausforderung, bei der sich viel sachlihes lernen lässt, und deren Bewältigung uns als Gemeinschaft stärken würde ...

Ich bin begeistert und spreche mit Flory und Robert über den Plan. Sie reagieren interessiert, finden die Idee gut, doch sie beginnen nicht aktiv mitzudenken. Alexej und Alexandra, unsere beiden russischen Volunteer Teachers, die seit dem 20. März bei uns sind, reagieren ebenfalls lauwarm. Sie scheinen das Potential, welches ich in diesem Projekt spüre, nicht zu sehen.

Um meiner Idee konkretere Konturen zu geben stelle ich eine Liste der Dinge zusammen, die wir tun könnten. Ich würde die Liste gerne ausdrucken, um sie als Ausgangspunkt für weitere Planungen zu benützen, doch ich merke, wie mich der Gedanke mutlos macht: unser "Büro" würde sich Mühe geben, doch es würde einen Tag dauern, vielleicht auch zwei, bis die Liste auf Papier gebracht ist. Ich möchte jetzt handeln. Wir haben nicht mehr viel Zeit. In 14 Tagen reise ich ab. Ich versuche es noch einmal, spreche mit Flory und Alexandra, aber die Reaktionen sind so vage, dass ich resigniere. Ich bräuchte jemanden, der die Idee versteht und meinen Enthusiasmus teilt, der aber auch fähig ist, die Sache konkret zu organisieren. Jemand, der mit einem Stück Kreide in der Hand vor den Studierenden steht und, nach einer allgemeinen Einführung ins Thema "Méthodes de Fundraising", die Einteilung der 20 oder 30 Menschen, die an dem projekt mitwirken sollen, vornimmt; jemand, der das ganze im Blick hat und einigermassen weiss, wer gerade was tut und eingreifen und helfen kann, wo es nötig ist. Die Idee ist spannend! Ein reales Projekt, aus Not geboren und sehr praxisnah. Doch ohne einen sehenden Helfer traue ich mir die sache nicht zu. Nach drei, vier Tagen begrabe ich den Plan. Die Realität ist stärker als mein Enthusiasmus.

Immerhin: Alexandra hat auf meine Bitte hin einen Projektbeschrieb verfasst. Ein kleiner Anfang meines Versuches, alle Mitglieder der Uni in die praktische Lösung unserer materiellen Probleme mit einzubeziehen. Leider kommt mir ihr Text ziemlich unbrauchbar vor. Dabei hat sie angeblich Erfahrung mit internationnalen "Donors", und sie hat immerhin versucht, etwas für uns zu tun. Da müsste ich doch dankbar annehmen, was sie geschrieben hat. Ich versuche es zunächst mit kleinen Retouschen, denn wer sagt mir, dass meine Projektbeschreibung besser ist, und wie kann ich jemals erwarten, dass jeman sich für die UPP einsetzt, wenn ich am Ende doch alles selber bestimme? Doch zu delegieren kann auch nicht bedeuten, die eigenen Vorstellungen der Dinge kritiklos über Bord zu werfen! Am Ende habe ich einen beinahe völlig neuen Text geschrieben: Anderthalb knappe, wie ich finde sehr informative und brauchbare Seiten. - Jetzt, im Rückblick, erscheint mir der Text zwar als völlige Hochstappelei, doch der Text ist ja ein Prospekt, und soll ein Prospekt nicht das beschreiben, was wir sein wollen, nicht das, was wir sind?

Auch einen allgemeinen Entwicklungsplan für die nächsten 5 Jahre stelle ich auf. Kein ausgeklügeltes Werk, aber immerhin eine allgemeine Richtungsangabe. Gut genug für den Moment. Das Budget für das nächste Jahr fehlt allerdings noch immer und auch unsere Webseite ist noch nicht das Schaufenster geworden, welches wir für erfolgreiches Fundraising brauchen.

Ich arbeite viel für mich in meinem Zimmer, während Alexandra und Alexej im neuen Auditorium über "good governance" und "General Sociology" sprechen und Eisha im Büro ihren undurchsichtigen Geschäften nachgeht ... Der Kontakt zu meinen beiden Vicerektoren Flory und Robert ist intensiv. Wir sprechen viel miteinander; zweimal pro Woche haben wir eine offizielle Koordinationssitzung. Am Abend bin ich oft mit ein paar Studierenden zusammen, und wenn diese gegangen sind, plaudere ich auf der kleinen Terasse vor dem Büro mit unseren beiden nachtwächtern vicky und Céléstin. Manchmal stossen Alexej und Alexandra zu uns. Es ist ein friedliches leben trotz all der Dinge, die nicht so sind, wie sie sollten oder wie ich sie will.

A place of hope, a place of growth ... Kabelsalat, ein Rap und unser russisches Professorenpaar

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Alain und Heri platzieren die Computer um


Im alten Auditorium, welches nachts auch als Garage für Florys Motorrad dient, soll unser Computerlab entstehen. Es besteht bis jetzt aus einem Gewirr von Kabeln und ein paar alten Compis. Alain und Heri sind die Verantwortlichen. Gilles unterstützt sie aus der Schweiz bei der Installation von Ubuntu. Eine entsprechende dvd mit viel zusätzlicher Lernsoftware ist unterwegs, kommt allerdings nie an. Auch sonst ghet's mit dem Computerlab nicht voran. Heri und Alain kommunizieren schlecht miteinander. Beide werkeln vor sich hin, und auch die Rücksprache mit mir klappt nicht gut. Ich ärgere mich über Heri, der völlig autistisch scheint. Während ich ihm etwas erkläre, macht er an seinem Compi rum. Es ist wie im Englischkurs: Wenn ich ihn ganz direkt anspreche, seine Hände in meine nehme und sage: "Heri, look at me", dann geht's, dann ist er plötzlich da, sonst kurvt er auf seiner eigenen Bahn durch sein eigenes Universum. Er gilt als unser eigentlicher EDV-Spezialist, denn er arbeitet nebenher in einem Internetkaffee. Ich habe den Eindruck, dass er von dem was er tut nicht viel versteht, doch davon will er nichts wissen. Gilles schict eine zweite dvd, die ebenfalls nicht ankommt. Ich spreche mit Alain, möchte, dass er die Arbeit im Lab koordiniert. Er ist guten Willens, versteht meine Ungeduld, doch kommt er gegen Heri und die allgemeine Letargie ebenso wenig an wie ich.

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Computer der Stiftung

Im Englischunterricht arbeiten wir in diesen Wochen an einer Präsentation der UPP für die entstehende Webseite. Es soll eine Art Rap werden. "Panafrican Peace University - a place of hope, a place of growth, a place of solidarity" ist der wiederkehrende Refrain unseres musikalischen Werbespots. Dazwischen sprechen Einzelne die von ihnen gewählten Zeilen: "1996 till 1998, the first Congo war, and we were right in the middle of it", "we got no postal system - we got no current, not even in the city! We got no books in our schools and the teacher get no salery ... This is us, the people of Uvira!"

Wir proben Rhytmen, suchen andere Sätze, proben wieder.Das ganze soll wie gesagt ein Werbespot für die Uni werden, den wir auf unserer Webseite veröffentlichen wollen. Unsere Studierenden, die direkt und in einfacher Sprache zu jungen Menschen um die ganze Wellt von ihren Hoffnungen und Ambitionen sprechen! Ich bin sicher, dass dies wirken wird. Mary und Sarah und einige andere sind es auch.

Alain hat uns während einer solchen Probe 20 Minuten lang gefilmt. Die filmerei hat grossen Spass gemacht. Wir wollen ein zweites Mal Filmen, mit besserem Licht und verbesserter Regie. Das zweite Mal - ein paar Tage vor meiner Abreise - kommt nicht mehr Zustande. Alain ist weg, hat irgend etwas anderes zu tun, und von den sieben oder neun Studierenden, die unbedingt mitmachen wollten, sind nur drei da. Wir sitzen vor dem alten Auditorium in der Sonne und warten auf Alain und die anderen TeilnehmerInnen der Truppe. Nach einer halben Stunde stehe ich auf und gehe. Mary fragt, was denn jetzt aus dem projekt werde. ich sage, ich weiss es nicht. Ich bin enttäuscht. Der Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit macht mir zu schaffen.

Die Sache ist ja nicht neu: aber seit ich als Rektor der UPP sozusagen offiziell damit beauftragt bin, unsere Träume in die Tat umzusetzen, bin ich dem Auf und Ab der Gefühle, dem Wechsel von Hoffnung und enttäuschung noch mehr ausgeliefert als zuvor. Jetzt, neun Monate später, ist mir klar: der Horizont der Erwartungen war zu hoch gespannt. Flory hatte eine grosse Idee in die Welt gesetzt, und ich hatte den Köder geschluckt: Wir wollten und sollten internationale Standards erreichen, wollten und sollten ein faszinierendes pädagogisches Konzept verwirklichen! Traum der Träume. Man würde nach uvira pilgern, um vor Ort zu sehen, was eine praxisorientierte Ausbildung bedeutet, wie sie auf universitärem Niveau umgesetzt werden kann! wir würden Kontakte mit progressiven Colleges in den USA, in Indien und Europa entwickeln, würden Konferenzen organisieren, um über all die kulturellen und politischen themen zu sprechen, die hier in uvira sozusagen in der Luft lagen und nur darauf warteten, ein Forum zu erhalten, wo sie von vagen Gefühlen zu lebendigen worten und konkreten Taten werden könnten. Und ich - zuhause in der Schweiz ein einsamer Rufer in der Wüste unserer leblosen Bildungslandschaft - würde in der Mitte dieses aufregenden Experimentes stehen!

Es gibt menschen, die sich auch dann noch freuen, wenn nur noch ein Schluck Bier im glas ist. Sie sagen nicht, schau, es ist fast leer! Sie sagen: Schau, da ist ja noch ein Schluck. Im Rückblick scheint es leichter zu erkennen, wie viel lebendige und gute Momente es in jenen letzten Wochen in uvira trotz allem gegeben hat! Doch damals, ich hab's schon gesagt, damals spürte ich vor allem, was alles nicht geklappt hat -, die Bisse der Wanzen eben, die daran waren, mich aufzufressen.

Der Unterricht von Alexandra gehört zu den Dingen, die gut laufen. Alexandra ist jung und lebendig, und sie stürzt sich mit viel Enthusiasmus in ihre Aufgabe. Die StudentInnen geniessen ihre Kurse. Anfänglich unterrichtet sie auf englisch. Robert übersetzt. Doch schon nach ein paar Tagen versucht sie es auf französisch, und sie macht es gut. Ich höre viel Lachen und am Ende der Stunde stehen alle um Alexandra rum und diskutieren heftig über dies und das. Das tun sie auch nach Alexejs Stunden, doch sein unterricht ist der Inbegriff eines universitären Betriebes, von dem ich immer wieder hoffe, er sei mittlerweile endgültig ausgestorben. Er geht vor seinem Publikum auf und ab und referiert. Abstraktes Zeug ohne irgendwelchen Bezug auf die Realität der anwesenden. Robert übersetzt. Das Übersetzen ist anstrengend, denn Alexejs englisch ist nicht sehr gut, dazu stottert er, was anfänglich sehr gewöhnungsbedürftig ist. Robert, der von Dürkheim und Weber und all den soziologischen Theorien, über die Alexej spricht, keine grosse Ahnung hat, übersetzt ziemlich schlecht. Er scheint über lange Strecken nicht zu wissen, wovon Alexej eigentlich spricht. Ich sitze als Gast in der Vorlesung. Ich überlege, ob ich eingreifen soll. Eigentlich müsste ich die Übung abbrechen, denn was wir hier tun ist Uni vom schlimmsten: ein wortsalat ohne Sinn und Nutzen. Studierende, die dem ganzen zu folgen versuchen und das Umfeld - Robert und ich und Alexej -, die so tun, als ob alles in Ordnung sei ... Einmal, als Robert eine von Alexej mühsam entwickelte Schlussfolgerung in seiner Übersetzernot in ihr völliges Gegenteil verdreht, ist es mit meiner Zurückhaltung vorbei. ich rufe "non, Robert, non" und löse ihn für die nächsten 30 Minuten als Übersetzer ab. Es war ein abrupter und ganz undiplomatischer Eingriff, doch what can I do! Mir macht das Übersetzen Spass, vor allem als Alexej vom Milgram-Experiment spricht. Ich versuche Alexejs trockene Ausführungen in erlebbaren Stoff zu verwandeln. Ich verstärke die Farben, ergänze unter der hand, weil ich weiss, wovon Alexej spricht. Alexandra ist von meiner Übersetzung begeistert. Mich fasziniert der Stoff ... Doch Faszination und Übersetzungsnot hin oder her: sowohl Robert als auch ich sollten eigentlich anderes tun als hier zu sitzen und Alexej zu helfen.

Am Abend entschuldige ich mich bei Robert für meine heftige Reaktion auf seine Übersetzungspanne. Ich weiss, wie schwer es ist, zwei Stunden non-stop und ohne Skript zu übersetzen. Robert gibt sich unglaubliche Mühe. Und doch: soll ich einfach zuschauen? Zuschauen, wenn Robert die Vorlesung von Alexej völlig verstümmelt? ... Und soll ich Alexej einfach weitermachen lassen? Wir postulieren doch eine andere Art des Lernens. Es ist allerdings nicht meine, sondern Roberts Aufgabe, mit Alexej zu sprechen. Robert ist der Hüter der akademischen Dinge, und damit auch der Betreuer von Alexej. Ich frage ihn, was er von dessen Vorlesungen hält. Er findet sie sehr interessant. Von sich aus würde Robert vermutlich nie wagen, monsieur Alexej irgendwie zu kritisieren. Erst als ich sage, dass Herr Alexejs Soziologie doch etwas sehr abstrakt und praxisfern sei, und dass Herr Alexej entgegen unserer Philosophie sich überhaupt nicht auf die Fragen der Studierenden einlasse, wird er etwas kritischer, ob aus Überzeugung oder eher aus Angst vor meiner Autorität ist schwer zu sagen. Schliesslich vereinbaren wir, dass Robert Herrn Alexej ermuntern würde, doch hie und da inne zu halten und die Studierenden zu fragen, ob alles klar sei oder ob sie eine Frage hätten. Zwei oder drei Tage danach sagt Robert, dass er mit Herrn Alexej gesprochen habe und dass dieser sehr froh über den Hinweis gewesen sei. Wir betreiben hier also auch Hochschuldidaktik en Miniatur!

"Mais, Monsieur ...". Erste Anzeichen eines demokratischen Frühlings auch in Uvira?"

Mein undiplomatisches Eingreifen bei Roberts übersetzerischen Entgleisungen hat noch eine andere, letztlich positive Wirkung. In einer unserer Schulversammlungen beklagt sich Marcel, einer unserer Studierenden nämlich über den rüden Ton des Rektors gegenüber mancher seiner Mitarbeiter. Ich bin etwas erstaunt und bitte ihn, konkreter zu werden. Er erwähnt die Szene mit Robert und sagt, er sei entsetzt gewesen, dass ich Robert vor allen andern in dieser heftigen Weise korrigiert habe. So etwas fände er nicht korrekt. Die Unterstellung, dass ich etwas falsch gemacht habe, kränkt mich für einen Moment, doch bald überwiegt die Freude an dieser direkten Kritik. Ich sage Marcel, dass ich ihm Recht gebe. ich hätte Robert nicht so anrempeln sollen. Ich erkläre, dass ich wohl deshalb so reagiert habe, weil ich mich vorher eine Stunde lang andauernd zurückgehalten habe. Ich erkläre auch, dass ich mich diesbezüglich in einem Dilemma gefühlt habe und noch fühle, denn da sei Robert, der einen wirklich sehr schwierigen Job nach besten Kräften erledige, da sei mein Respekt vor ihm und mein Wille, ihn nicht zu kritisieren, und da sei zugleich mein Gefühl, für die qualität der Vorlesungen an der PPU verantwortlich zu sein. Allerdings sei dieses Dilemma kein Grund so heftig zu reagieren. Da habe er recht und ich wolle mich deshalb gleich hier vor allen für mein Benehmen entschuldigen.

An eine andere Episode erinnere ich mich ebenfalls mit Freude. Es war gegen Ende eines langen Samstag Nachmittags, an dem Alexej in sehr allgemeiner Weise über verschiedene Konzepte der Demokratie gesprochen hatte, als Remi, Willy, Dede und Alain sich plötzlich gegen das zuviel an grauer Theorie zur Wehr zu setzen begannen undAlexej in eine Diskussion über die kongolesische Demokratie und ihr Versagen zu ziehen versuchten. Sie wollten, dass Alexej von der Ebene der allgemeinen Theorie in die Niederungen des praktischen Lebens herabsteigt und Stellung bezieht. Doch Alexej wehrte sich gegen die Herausforderung: Es gehe in der Soziologie, so erklärte er, um prinzipielle Strukturen und um Prozesse auf der makroebene. Ihre Fragen fielen dagegen in das Gebiet der Politologie. Das sei nicht seine Domäne.

Es war spannend und rührend zu sehen, wie heftig die vier kämpften. Alexej sei doch nicht nur ein Wissenschaftler, sondern auch ein mensch, jemand mit Erfahrungen und mit eigenen Gedanken! Als solcher müsse er doch auch etwas zu der Situation im Kongo sagen können, etwas konkretes, hilfreiches! . "Wissen Sie, Herr Alexej, für uns sind Worte wie Demokratie oder Oligarchie oder Plutokratie ja nicht einfach allgemeine Konzepte, für uns sind diese Worte schmerzliche und fühlbare Realität - des réalitées palpables!, wie Remi, unser "Advokat" emphatisch sagte -, und für sie sei es wichtig, zu verstehen, woran die Demokratie im Kongo leide, und wie sie ihrem Land auf die Beine helfen könnten. - Es war wie beim Pferderennen. Remi, Alain, Dede und Willy gegen Alexej. Ob sie es schaffen würden? Sie kämpften, doch Alexej liess sich wedr von Remis Rhetorik, noch von Alains Freundlichkeit oder Dedes konkreten Fragen von seiner Linie abbringen. Er sei hier, um allgemeine Soziologie zu unterrichten, und man möge ihm deshalb doch bitte gestatten, seinen Vortrag in Ruhe zu Ende zu halten.

Ich sass wie auf Nadeln! Hier kämpften ein paar menschen darum, zu verstehen und die grosse Theorie mit ihrem Leben in Verbindung zu bringen. Das war echtes Ringen um Erkenntnis! Genau so stellte ich mir die "akademische" Arbeit vor: Ein harter Kampf, nah an der Realität, mit klaren Worten und bezogen auf Konkrete Beispiele. Nicht das übliche Jonglieren mit abstrakten Begriffen und Namen, mit denen niemand etwas anfangen konnte.

Ich war mehrmals versucht, zu gunsten der Fragenden in die Schlacht einzugreifen, denn die vier hatten gegenüber Alexej keine Chance, und ich konnte sie doch nicht einfach allein untergehen lassen. Er wehrte den Ansturm der Fragenden in klassischer Manier ab, indem er sich auf die Position einer "Wissenschaft" zurückzog, an die heute eigentlich niemand mehr glauben kann, eine Wissenschaft, deren Anspruch auf Objektivität und Systematik wir in unserem pädagogischen Konzept ausdrücklich als illusionär bezeichnet hatten... "Wir" - nein! Natürlich nicht, denn das Konzept hatte ich geschrieben. Robert, Flory und einige andere hatten es gut geheissen. Doch Robert hatte sich der von mir propagierten Linie wohl vor allem aus Begeisterung für mich und nicht aus echter Überzeugung angeschlossen. Für ihn war das Konzept, auf das ich so stolz war, bis jetzt noch nicht viel mehr als ein Stück Papier. Er hat vieel zu viel Respekt vor den Ritualen des universitären Betriebes, und da er vermutlich nie etwas anderes als das übliche Top-down-Modell von Unterricht kennengelernt hat, fehlt ihm ein sicherer Instinkt für das, was er theoretisch gut geheissen hat. Er würde sich nicht auf die Seite der Studierenden stellen, um so weniger, als hier ein Gast aus Europa sprach, ein richtiger Professor mit einem Doktortitel. Wiederum wollte ich nicht eingreifen, jedenfalls nicht öffentlich, denn alles Akademische war offiziell Roberts Gebiet. Ich wollte diese höchst spannende Episode aber auch nicht einfach so vorübergehen lassen, denn was hier geschah war zu wichtig!

Inzwischen hatte Alexej die Frager erfolgreich abgewehrt. Der Aufstand der Vernunft war vorbei; die Vorlesung ging ihrem schläfrigen Ende entgegen. Es war kurz vor sechs. Einige der Studierenden begannen bereits zusammenzupacken alls ich darum bat, noch kurz etwas zu dem sagen zu dürfen, was ich in der letzten halben Stunde beobachtet habe. "Wir haben", sagte ich, als es ruhig wurde, "in der Psychologie vor ein paar Wochen über Paolo Freire und die von ihm beschriebenen zwei Arten des Lernens gesprochen. Einige von euch erinnern sich vielleicht, und einige haben in der letzten halben Stunde vielleicht auch kurz genau daran gedacht. Denn schaut: Ein paar von euch wollten mit Monsieur Alexej darüber diskkutieren, ob Demokratie funktionieren kann und weshalb sie im Kongo nicht funktioniert. Herr Alexej ist nicht auf die Fragen eingegangen. Er hat erklärt, es seien Fragen, die nicht in sein Gebiet fallen. Für ihn ist es wichtig, dass die Abläufe der Wissensvermittlung nicht durcheinander gebracht werden durch drängende Fragen, und dass er nur das erzählt, was er sicher weiss. Er hat gesagt, die PPU habe ihn gebeten, eine Einführung in die Soziologie zu geben. Es sei ein Auftrag, dem er folgen müsse. Er hat also gesagt, dass die von irgendwelchen Autoritäten geschaffene wissenschaftliche Ordnung, die Einteilung in diese und jene Disziplin, und das Programm der Institution wichtiger sind als die auftauchenden Fragen. Remi, Willy und die andern haben den Dialog gesucht. Herr Alexej hat die Ordnung verteidigt! Paolo Freire hätte gesagt, hier kämpfen einige um ihr Recht, die Welt zu verstehen, damit man sie weniger leicht übers Ohr hauen und missbrauchen kann. Sie kämpfen, in dem sie fragen. Und Herr Alexej steht hier und sagt: Hört zu und versucht, die scheinbar leeren und abstrakten Gedanken der grossen Soziologie zu verstehen. Unterwerft euch dem schwierigen Zuhören, damit ihr einmal wirklich versteht! Ich sass da hinten in meiner Bank und habe gedacht, es ist wie im Sport! Wer wird wohl gewinnen? Und welcher Weg ist der Richtige? In der Psychologie haben wir davon gesprochen, dass die Wirklichkeit immer vielfältig ist, und es nie EINE einzige Wahrheit gibt. Es wird auch hier so sein. Es gibt Momente, in denen es richtig ist, Respekt vor der Weisheit der Autoritäten zu haben und ihren scheinbar unbegreiflichen Lehren mit Geduld zu lauschen. Es gibt aber auch Momente, in denen es richtig ist, aufzustehen und laut zu sagen: wir wollen verstehen! Wir verstehen nicht! Die Frage ist, wann wir aufstehen und die Autoriitäten herausfordern sollen, und wann wir unsere Ungeduld zügeln und zuhören sollen. Es ist eine Frage unseres Mutes und unseres Vertrauens in die Autorität. Es ist auch eine politische und philosophische Frage. Es gibt keine richtige Antwort. Ich möchte denen, die heute Nachmittag so hartnäckig und mutig gefragt haben, deshalb zu ihrem Mut und ihrer Offenheit gratulieren, und ich möchte Herrn Alexej für die Zähigkeit danken, mit der er sich gegen die Frager zur Wehr gesetzt und die wissenschaft und ihre Ordnung verteidigt hat. Sie verdienen alle unseren Respekt. Es war ein eindrücklicher Kampf. Ihr kennt mich inzwischen gut genug um zu wissen, dass ich persönlich eher auf der seite der unruhig Fragenden als auf der Seite derjenigen stehe, die die Wissenschaft durch allerlei Vorsichtsmassnahmen vor deren Fragen zu schützen versuchen. Doch dass ich auf diser Seite stehe, heisst noch nicht, dass ihr alle auf dieser Seitte stehen müsst. Denkt darüber nach, was Willy, Dede, Alain und Remi gefragt haben und wie Herr Alexej reagiert hat, und dann entscheidet, wo eure Sympathien liegen, und was euch richtig scheint." So ungefähr habe ich gesprochen. Man kann es feige nennen oder weise. Die Rede war kurz und ich zumindest war von ihr beeindruckt. Ich wollte nicht öffentlich gegen Alexejs Praxis Stellung bezihen, sondern meine autorität vielmehr dafür einsetzen, auf ein Dilemma jeder institutionalisierten Bildung und unsere sich daraus ergebende Verantwortung aufmerksam zu machen. Ob meine Rede verstanden wurde, weiss ich nicht. Doch die geschilderten Episoden waren für mich Anzeichen des demokratischen Aufbruchs, den ich innerhalb der UPP in Gang setzen wollte.

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