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Vom Jammer des Staatsschuhmonopols oder: Man isst, was auf den Tisch kommt!

"Wir sprechen viel von Freiheit, auch im Umkreis von Bildung und Schule. Wir erklären sie zu einem bedeutenden gesellschaftlichen Wert, aber wir glauben nicht an ihre befreiende Wirkung. Wir glauben immer nur an ihren Missbrauch. Wie eine kostbare chinesische Vase darf man sie nicht benutzen, weil sie dabei kaputt gehen könnte." - Hartmuth von Hentig: Guerna Vaca oder: Alternativen zur Schule. Stuttgart 1971 S.112

Es ist schon merkwürdig mit uns Otto-Normal-VerbraucherInnen! Wir verbringen Stunden, ja Tage damit, nach einem passenden Paar Hosen oder einem neuen Paar Schuhe für unsere Kinder zu suchen. Wir gehen von Geschäft zu Geschäft und geben keine Ruhe, bis wir genau das gefunden haben, was wir brauchen oder zu brauchen meinen. Dabei ist der eine Schuh zu klein, dann stimmt die Farbe nicht oder das Ding ist zu teuer. Und wenn sie ein Modell endlich ganz passabel finden rebelliert klein Angelika oder Thomaschen, und die sollen schliesslich ja auch zufrieden sein mit der Neuanschaffung! Sie kennen den Stress, aber auch die Zufriedenheit, wenn man endlich gefunden hat, was man wollte ... Ja. In Bezug auf Schuhe und Hosen sind wir hierzulande wählerisch. Ganz anders ist dies, wenn es nicht um Schuhe, sondern um die Schule geht! Da stecken wir unsere Kinder Jahr für Jahr hinein, ohne im geringsten auf Grösse, Farbe oder Qualität zu achten. Wenn sich dann herausstellt, dass die Schule für klein Angelika oder für lieb Thomaschen zu eng ist, wenn die fröhlichen Geschöpfe nach ihren ersten Schulwochen immer stiller und bedrückter werden, dann trösten wir sie ein wenig, sagen vielleicht "so schlimm ist das nicht" oder "du wirst dich schon noch dran gewöhnen" und damit hat sich's. Wenn die Kleinen trotz unseren seelsorgerischen Bemühungen nach ein paar Wochen mit ihrem Gejammere immer noch nicht aufgehört und sich in ihr Schicksal ergeben haben, kommt schon bald der erste Frust auf. Wir versuchen's vielleicht mit Strenge oder versprechen (zu Weihnachten oder zum Geburtstag) ferngesteuerte Autos oder Game‑Boys "wenn du schön brav bist und nicht immer so ein Trara machst am Morgen!" - Wenn unsere (vielleicht auch sonst schon belasteten) Geduldsfädchen und alle anderen Stricke zu reissen drohen, dann kommt vielleicht der Onkel, der selber Lehrer ist, oder die Psychologin ins Spiel, um dem Kind über seine "Anpassungsschwierigkeiten" hinwegzuhelfen. Wenn man richtig murkst und drückt, kriegt man fast jeden Fuss in den Staatsschuh, in den er nun halt einmal (in Gottes Namen!) hinein muss!

Nein wirklich. In Sachen Schule benehmen wir uns wie Menschen, die seit Jahrzehnten in einem Land leben, in dem es Nur Staatsschuhe gibt, die - je nach Wohlwollen und Geschick - von den einzelnen Verkäuferinnen und Verkäufern noch ein wenig zurechtgebogen werden, damit man ihnen nicht gerade vorwerfen kann, auf die Füsse und den Geschmack ihrer Kunden überhaupt keine Rücksicht zu nehmen. "Individualisieren" nennt sich diese Kunst im Fachjargon der SchuhverkäuferInnen. Der Staat lobt und fördert entsprechende Versuche, denn das von ihnen ausgehende Gefühl des ernstgenommen Werdens hilft, das Murren der Kundschaft und die immer wieder zu beobachtende Abwanderung zu privaten Anbietern einigermassen unter Kontrolle zu halten. Allerdings gilt es auch hier, nicht zu übertreiben, denn durch zu viel "Individualisierung" könnten die schläfrigen Kunden und Kundinnen plötzlich den Eindruck erhalten, dass Schule nicht gleich Schule ist, und dies wiederum könnte in ihnen das Bedürfnis nach ganz bequemen, rundum gefallenden, gut gearbeiteten Schuhen wecken, ein Bedürfnis, welches seinerseits leicht dazu führen könnte, dass all die Kinder mit ihren Onkeln und Tanten und Vätern und Müttern im Schulgeschäft mitreden wollen, statt, wie bis anhin, brav die Schule zu nehmen, die der Staat anbietet, ein Einheitsmodell zwar, aber doch immerhin eines, das sich (ohne wesentlich verändert zu werden!) seit mehr als 150 Jahren bewährt hat! - Nein nein, man sieht es wohl: Diese falschen Begehrlichkeiten führen nur zu Unruhe und Aufmüpfigkeit, das lehrt einem die Geschichte ja zur genüge ... Solange das Volk damit zufrieden ist, hie und da zwei oder drei Farbtöne oder gar einmal zwei verschiedene Schuhgrössen im Angebot zu finden (ohne dass man daraus natürlich ein Recht auf derartigen Luxus ableiten dürfte!), solange ist der Eifer all derer, die sich täglich für die innere und äussere Reform der Schule opfern, gern gesehen. Wenn diese Eifrigen jedoch von Berg- und Wander-, Turn- und Hausschuhen, von Stiefeln und Balletschuhen, von Schuhen mit und ohne Absatz, von Kunst- und Wildlederschuhen und ähnlichen Extravaganzen zu reden beginnen, und das Volk zu begreifen beginnt, dass es für unterschiedliche Bedürfnisse ganz unterschiedliches Schuhzeug gibt, ja dass man Vieles im Grunde ganz gut oder noch besser ohne Schuhe tun könnte, dann wird die Sache langsam "kontraproduktiv". Wenn die Eltern und ihre Kinder plötzlich ganz verschiedene Schulmodelle verlangen, wenn sie von Montessorischulen und von Mini-Schools, von Steiner- und von Freinetschulen, von "Erlebnispädagogik" und "Community Education" sprechen würden ... Nicht auszudenken, dieses Chaos! Nein, nein, es ist schon gut so, wie es ist! Ein bisschen Mündigkeit und Selbstbestimmung reicht vollauf. Wir sind ja in der Schweiz!

Und ihr, ihr Kinder? Ach schlagt euch den Gedanken aus dem Kopf -, eine Schule die wirklich passt, die nicht nur so einigermassen, sondern wirklich passt und genau eurem Geschmack und euren Bedürfnissen entspricht, die gibt es nicht, oder sagen wir, die Chance, dass ihr das Glück habt, genau diese Schule zu finden, ist etwa so gross, wie wenn ihr in ein Schuhgeschäft gehen und - ohne hinzukucken - ein Paar Schuhe vom Regal nehmen würdet, und es wäre genau das Paar, welches ihr gesucht habt. Ja, im privaten Schulgeschäft wäre vielleicht etwas zu machen; da gibt's manchmal ganz gute Angebote und natürlich ist die Auswahl grösser. Aber leider sind diese Schulen nur für reiche Menschen oder für Eltern, die das, was ihr wollt und braucht so ernst nehmen, dass sie deshalb bereit sind, auf ihr Auto oder auf ihre Ferien zu verzichten. Die Damen und Herren in den Büros sagen, dass dies aus Gründen der Gerechtigkeit so sein müsse! Im übrigen könnt ihr euch trösten. Man findet auch im privaten Angebot häufig nicht, was man wirklich will, und ein Jahr oder zwei zu warten, bis man vielleicht das Richtige gefunden hat, ist in Sachen Schule leider nicht erlaubt. Ganz und gar verpönt ist das Zufussgehen - die natürlichste aller Fortbewegungsarten! Dass die Methode sich bis zum Eintritt in den Kindergarten bestens bewährt hat und ihr auf diese Weise in kürzester Zeit unglaublich Viel gelernt habt, spielt dabei keine Rolle. Am Barfussgehen kann man nicht verdienen und BarfussgängerInnen sind viel schwerer kontrollierbar als die Menschen in den Zügen oder auf den Autostrassen der Erkenntnis. Also Barfusslaufen - ohne Schule lernen! -, obwohl bei uns nicht ganz verboten, kommt eigentlich auch nicht in Frage. Der Staat legt Wert darauf, dass ihr vom 7. Altersjahr für mindestens 9 Jahre in Schuhen (und zwar am besten in Seinen Schuhen) geht, ganz egal, ob ihr selber Schuhe wollt.

Ja, es gibt sogar Menschen, die behaupten, es sei den Damen und Herren auf den Ämtern ganz recht, dass die Schuhe nicht allzu gut passen, denn erstens kommt man mit schlecht sitzenden, unzweckmässigen Schuhen nicht recht voran im Leben und zweitens ist das Gehen in solchen Schuhen so anstrengend und oft auch so schmerzhaft, dass Viele ganz darauf verzichten, auf ihren eigenen Füssen zu stehen oder sie gar zum Gehen zu gebrauchen, sondern es vorziehen lieber brav und geduldig in einem Büro zu sitzen und zu warten bis der Tag zu Ende geht. Dann fahren sie in ihrem Auto nach Hause und schlafen und hoffen, dass sie vielleicht einmal befördert werden - wie damals in der Schule! - Nein nein, ihr Lieben, zieht nur die Schuhe an, die man euch jetzt wieder hinhält. Wir haben's ja auch überlebt, und wer motzt kriegt sowieso nur Scherereien! Eure Lehrer und Lehrinnen zweifeln oft genug an ihrer Arbeit; mit euren Fragen, eurem Fluchen und Stönen macht ihr sie nur noch trauriger, und das wollt ihr doch nicht! Und die Damen und Herren in den Ämtern schätzen es in der Regel noch viel weniger, wenn man "undankbar" oder "frech" ist! Bei ihren Löhnen kann man es begreifen. Für sie ist das System perfekt. Mehr Eigen-Wille an der Basis wäre nur gefährlich, sagen sie und haben, von ihrer Warte aus gesehen, Recht. Drum ihr Väter, drum ihr Mütter, zwängt die Füsse eurer Kleinen einmal mehr ins altbewährte Schuhmodell! Die paar Blasen und das Bisschen Blut hat noch niemandem geschadet und an die Schmerzen gewöhnt man sich.

©1992 Martin Näf