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Über die Schule hinaus. Wo endet unsere Geschichte

Im Rahmen des Symposiums "Theater träumt Schule", welches am 8./9. Januar 2010 in Zürich stattgefunden hat, habe ich einen Workshop zum Thema "Entschulung" gegeben. Im Vorfeld dieser Veranstaltung habe ich mir u.a. noch einmal Peter Sutters Buch "schafft die Schule ab" angesehen. Dabei hat mich der Abschnitt "Lernzentren als Alternativen zu Schule" erneut begeistert. Eine konkrete, machbare Utopie. Konkret und doch sehr offen und weiträumig. Beim lesen habe ich jedoch festgestellt, dass mir die wichtige Rolle von "Angeboten" in Sutters Buch und anderen Büchern im Grunde nicht gefällt. Ich reagiere darauf mit einer Mischung von Misstrauen und entteuschung ...

Hans hat mir wahrscheinlich von der Schule und den Geheebs erzählt, jedenfalls

Utopien
Was mich interessiert ist vor allem und immer wieder die Öffnung der Schule nach aussen und die Auflösung aller sichtbaren und unsichtbaren Grenzen zwischen der Schule und dem Leben um sie herum, und - zugleich damit - das, was man im angelsächsischen Sprachraum vor einiger Zeit als "Community reconstruction" bezeichnet hat. Darunter würde fallen: Menschenfreundlicher Umgang miteinander; Zeithaben; offene Büro- und Werkstatttüren; Plätze und Orte, an denen man sich treffen, etwas tun, miteinander spielen oder diskutieren kann ...

Und dann, schon utobischer, zum Beispiel die Verringerung des Verkehrs; weniger Stress in der Arbeitswelt der Erwachsenen UND der "Kinder"; mehr Teilzeitarbeit und vielleicht auch weichere Übergänge zwischen "Arbeit" und einfachem Dasein .. und, mir ganz wichtig, mehr Bewusstsein für Menschen aller art, Hunger auf der Welt und 'Hilfsbereitschaft'.

Diese Öffnung ist eher ein politisches und kein pädagogisches Projekt. Es käme allen Menschen zu gute und nicht nur den "Kindern". . Es würde zu einer Auflösung der Grenzen zwischen Kindern und Erwachsenen, LehrerInnen und SchülerInnnen, Leien und Fachleuten führen. Büchereien wären da und Schulen und andere interessante Orte, aber "lernen" wäre an keinen dieser Orte gebunden, würde auch nicht mehr periodisch geprüft und von irgendwelchen Behörden eingefordert. Es wäre gewissermassen das Nebenprodukt dessen, was jeder und jede jeden Tag tut.

Statt eines Schulabschlusszeugnisses hätten wir am Ende unterschiedliche Menschen mit je eigenen Kompetenzen und qualitäten vor uns, Menschen, die schon halb "im Leben" drin stünden und uns eher als BeraterInnen denn als WächterInnen sehen. Meine Gedanken führen also auch zu einer Aufweichung standartisierter Berufsausbildungen und Berufsqualifikationen. Statt auf Grund von Zeugnisnoten würden wir MitarbeiterInnen oder Lehrlinge eher auf Grund von Empfehlungen oder auf Grund ihrer bisherigen Leistungen engagieren, dies natürlich - wie bereits jetzt - stets nur auf Probe ...

Nun gut. Das ist in groben Zügen die Richtung, in der meine schulreformerischen Pläne sich bewegen. Was darin nicht vorkommt sind, wie gesagt, gezielte Angebote von Erwachsenen oder gar Angebote von LehrerInnnen. Hier blocke ich ab. Nach der Lektüre von Sutters Buch und anderen ähnlichen Büchern begann ich mich zu fragen, weshalb dies so ist, denn die Angebote,welche die LehrerInnen in seinem Lernzentrum machen, klingen eigentlich ganz verlockend. Weshalb habe ich bis jetzt den Groof einer auf Nicht-Anbieten eingestellten Schule einem solchen, viel reicheren Ansatz vorgezogen? Was spricht gegen Angebote, solange es sich wirklich um Angebote handelt, die ich wahrnehmen oder nicht wahrnehmen kann.

Nach- und Querdenken
Beim Nachdenken über diese Frage habe ich gemerkt, wie selten ich meine eigenen Lehrer als inspirierende Menschen erlebt habe. Ich habe die acht Jahre, die ich am humanistischen Gymnasium in Basel zugebracht habe, ja schon früher als "organisierte Langeweile" oder so ähnlich beschrieben, habe dabei aber kaum an einzelne Lehrer gedacht. Es war mir zu selbstverständlich, dass von ihnen nichts zu erwarten ist, dass sie sich nie auf meine oder unsere Interessen einlassen würden. Lehrer - Lehrerinnen hatten wir damals keine - sind nur an ihrem Programm interessiert. Manchmal versuchen sie, dieses durch ein Witzchen oder irgend ein spassiges Spielchen etwas aufzupeppen, aber das war bloss oberflächliche Unterhaltungs- und Befriedungspolitik, mit der man unseren latenten Unmut in Schach zu halten versucht. Interesse an uns - an mir oder christian oder Philipp oder Meinrad oder Thomas - habe ich während dieser Zeit kaum je erlebt. Lehrer waren für mich damit eigentlich eher so etwas wie eine Maschine in Anzug und Kravatte, so etwas wie die grauen Männer bei Momo, die einem auf ihre bürokratisch korrekte, kalte Weise Stück um Stück des eigenen Lebens gestohlen haben. Heimtückisch war das ganze, weil es so schleichend und in solcher Stille vor sich ging.

Das ich unter diesen Umständen eher ablehnend auf alles reagiere, was von LehrerInnen ausgeht, kann ich verstehen, doch was ich als natürliche Skepsis verstehe ist möglicherweise auch eine Überreaktion. - Wie gesagt: So genau habe ich mir das noch nie überlegt, und ich habe mich bis jetzt auch nur wenig auf die Gefühle eingelassen, welche mit meinen Jahren am Gimmi verbunden sind. Wegschieben und vergessen war die Devise.

Ein genauerer Blick auf die Verbindung zwischen meinen damaligen Erfahrungen und meiner heutigen Position als Erziehungswissenshaftler schien mir unwichtig, weil die Richtigkeit dieser Position aus meiner Sicht letztlich nichts damit zu tun hat, wie wir als einzelne unsere Schulzeit erlebt haben. Es gibt ja viele Menschen, die insgesamt ganz zufrieden mit ihrer Schule waren, und es gibt einige, die wirklich gute Erinnerungen daran haben. Solche subjektiven Einschätzungen stehen nicht im Widerspruch mit meiner Analyse der Schule als einer unterm Strich destruktiven Institution. Auch im Falle der Schule spielt Gewöhnung eine grosse Rolle. Kinder hängen ja oft mit besonderer Entschlossenheit an Eltern, die von Aussenstehenden als besonders lieblos und hart empfunden werden. Ihre Kindheit würde zum Inferno wenn sie den Stimmen der anderen glauben würden.

Dasselbe scheint auch für die Schule zu gelten. Wir wollen uns diese Zeit nicht durch einen Blick von aussen vermiesen lassen, egal wie nutz- und sinnlos die Jahre waren, die wir in der Schule zugebracht haben. Manche bestehen von Anfang an auf ihrer Wahrnehmung und lassen sich von den schönen Worten, die sie allenthalben über die Schule hören, nicht einlullen. Andere beginnen später kritische Fragen zu stellen. Doch viele akzeptieren das, was war als gut und unvermeidlich, und unvermeidlich ist die Schule für die meisten Kinder ja tatsächlich. Dennoch haben meine Schulerinnerungen meine Position in der Sache in einer Weise geprägt, die mir bisher nicht bewusst war.

Ich habe deshalb versucht, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn ich mich als elf oder zwölfjähriger Schüler diesem oder jenem Lehrer, dieser oder jener Gruppe hätte anschliessen können. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn unsere Lehrer damals Angebote gemacht hätten, die ihren Interessen und Hobbies entsprachen, wenn man sie ermutigt hätte, diese Hobbies in sich selbst zu finden und in ein solches Angebot zu transformieren. Ich hätte mich frei den Mitschülern anschliessen können, die mich damals interessiert und fasziniert haben. Ich hätte auch Lehrer gewählt: Vielleicht Markus Engel, der während des Französischunterrichts hie und da von seinen Erlebnissen im Krieg - das gab es auch in Westeuropa! - erzählt hat, oder ich hätte mich einer Gruppe angeschlossen, die mit Fritschi Meier unsere Stadt erkundet und historisch aufgeschlüsselt hätte; auch mein alter Lateinlehrer kommt mir in den Sinn: eigentlich schon pensioniert, hat er versucht, uns die Dramen der römischen Konsulen und Senatoren nahe zu bringen - mit Leib und Seele -, erfolglos damals, aber in anderer Konstellation, mit freiwilligen Mitlesern und Mitdenkern vielleicht ein höchst spannender Führer! Ja, dass hätte ich spannend gefunden, aber wieso immer wieder "Pflicht"!

Natürlich hätte es auch sportliche, musikalische, soziale, theatralische und handwerkliche Angebote gegeben. Wir hätten Schulfeste vorbereitet und einen gemütlichen Aufenthaltsraum eingerichtet. Das ganze Schulprogramm wäre von scheinbar ziellosem Zusammensein, von informellen Gesprächen beim Eintrudeln und von organisierten Gruppendiskussionen zu den verschiedensten Themen umgeben und getragen gewesen. Wer keine Lust auf Angebot und Gruppe hat, hätte sich in ein Musikzimmer oder in die bibliothek verziehen oder sich mit einem Kollegen am Töggelikasten vergnügen oder beim Kaffeeautomaten, wenn man den nicht wieder einmal verband hätte, rumhängen können.

Die Schule wäre so was wie ein erweitertes zuhause gewesen, ein Ort, an dem man sich füreinander interessiert hätte; ein Ort, an dem man miteinander gesprochen hätte - weit über den Kreis der vier oder fünf Freunde hinaus, die ich damals hatte. Man müsste auch nicht immer wie ein Gefangener in der Schule sein, man könnte zwischendurch ein bisschen raus, die einen vielleicht selten oder nie, die andern immer wieder, wie daheim. Es wäre ein Ort gewesen, an dem ich mich hätte einwurzeln und wachsen können. Es wäre nicht das schnelle, rein intellektuelle Scheinwachstum der damaligen Schule gewesen, sondern ein wirkliches mich entfalten, ein Prozess, bei dem nicht nur mein Wissen, sondern auch mein Lebensmut, meine Neugier und mein Selbstvertrauen gewachsen wären.

Dabei hätte ich immer deutlicher gespürt, wer und was mich interessiert, und was ich tief in mir drin wirklich will. Und wenn dieses Wollen über die vorhandenen Angebote hinausgegangen wäre, so hätte man mich ermutigt, ihm nachzugehen. Ich hätte einen Lehrer oder Freunde gefragt, ob wir nicht einmal eine Exkursion in die Basler Kanalisation unternehmen könnten, oder ich wäre auf ein paar Mitschüler zugegangen und hätte ihnen gesagt, dass ich irgendetwas mit ihnen machen wolle, ich wisse nicht was, aber mit ihnen wollte ich sein. Vielleicht nur reden, ihnen zuhören, sie bewundern, mich mit ihnen anfreunden ...

Es gab - selten, aber doch hie und da - Gespräche in der Klasse, in denen es um Dinge ging, die direkt mit uns zu tun hatten. Ich erinnere mich vor allem an zwei Diskussionen zum Thema Ehrlichkeit und Betrügen bei Tests. Einmal war ich ungefähr 12, das andere Mal ungefähr 17 ... Es gab auch ein oder zwei grosse Schulversammlungen. Ich weiss nicht mehr, wer sie damals einberufen hatte. Sie waren ganz ungewöhnlich für unser in immer gleicher Rutine vor sich hindämmernden Schule. Auch an den Grund der Versammlung erinnere ich mich nur noch vage: Unser eben erst zum Rektor ernannter, ziemlich unbeliebter Mathelehrer sollte Gelder entgegen dem Willen seiner Kollegen für irgendwelche Computer benützt haben. Was mich damals jedoch ungeheuer fasziniert hat war die Tatsache, dass wir in unserer Aula damals um etwas gekämpft haben, dass wir protestiert und nein gesagt haben. Ich selber habe vermutlich überhaupt nichts gesagt, aber ich habe das erlebt, was man als politische Auseinandersetzung, vielleicht auch als demokratische Ausmarkung bezeichnen kann. In Erinnerung sind mir das Gefühl von Empörung und Protest und das Drängen nach Wahrheit. Es waren Ansätze, die zeigen, wie nahe hinter der Oberfläche von Schüchternheit und scheinbarer Indifferenz meine Interessen damals lagen, und wie bereit ich im Grunde war, mich einzulassen ...

Nur eben. Das waren Ansätze, einzelne Momente, vielleicht 10 oder 12 auf die ganzen acht Schuljahre verteilt. Momente, aus denen nichts weiter wurde, weil die Rutine des Stundenplans alles, was da wachsen und sich entwickeln wollte, überwuchert und erstickt hatte. Wir mussten uns mit Bauernkriegen und mathematischen Formeln befassen, Aufsätze schreiben und Praktikas machen. Es war klar, dass man den 'Stoff' durchnehmen musste, ganz egal wie langweilig oder interessant man das ganze fand.

Man kann unendlich diskutieren, was nun anders wurde, was schlechter und was besser wurde, aber was mich angeht: ich möchte eine Schule, die die Menschen ermutigt, das zu tun, was ... das zu tun, was 'Spass' macht?

... noch mals utopien!
Ja, ich möchte möglichst "freie Menschen", aber ... Jetzt verlassen wir die "Pädagogik": Was machen die "Menschen" mit der Freiheit? Wie 'frei' sind sie wirglich? Wir berühren das Feld der Ethik, des Geldes, der Wirtschaft, des Militärs, der Medizin, der ... Anst! Wie kann ein einzelner überblicken, was geschehen und nicht geschehen muss. Man müsste sich in Gruppen und Grüppchen zusammentun, Kongresse organisieren, meditieren, ausprobieren, und immer wieder Veränderungen zulassen. Man müsste die Struktur des Geldes reformieren, lokale und übernationale Metings organisieren, auch weltweiten Austausch ermöglichen, das Militär zu einer art von Polizei umbauen und abzurüsten und so weiter. Um alles das zu konkretisieren und in die Tat umzusetzen, müssten Kompromissbereitschaft und Kooperation, aber auch hartnäckiger Widerstand da sein.

Ja, das wäre mein Traum! Es gibt einige Menschen, die ähnliche Träume haben und einige wenige, die das umzusetzen versuchen, was andere sich nicht getrauen. Aber wie viele Menschen gibt es, die aufgegeben haben, weil sie allein waren, weil sie abgelängt wurden, weil sie zu beschäftigt waren, um auf die wirglichen Dinge einzutreten, weil sie sich auch einmal ein Geschenk gönnen wollten und weil sie in der Hektik irgenetwas kaufen, dass sie eigentlich gar nicht brauchen ... Man muss immer Arbeiten, dass man überlebt, produzieren, weil der Boss es befohlen hat, einkaufen, weil die Kinder sonst quenneln ... Ich kann nicht noch Robben retten und den Abfall von den Nachbarn raustragen und an Schulversammlungen teilnehmen und ökologisches Brot kaufen und den Menschen helfen, die noch ärmer dran sind als ich ... Ich habe noch einen Beruf, verstehst du! Ich habe noch einen Beruf!

Es geht nicht anders als aufzuwachen und Stop zu sagen, einzeln oder in Gruppen, in protestaktionen, in Sit-ins. Wir müssten oder müssen zeigen, dass andere Wege möglich sind und wir bereit sind, wieder zu kämpfen, sonst ... Ich weiss nicht, was für die "Welt" gut ist. Ich weiss, dass wir immer schwereren Zeiten entgegen gehen, wenn wir nicht aufwachen, aber wenn ich zögere, dann ... und ich zögere immer wieder, und wenn ICH zögere, dann kann ich eigentlich nicht von den andern Menschen verlangen, dass sie tun was ich - aus Angst oder Klugheit - nicht tue. Aber immer wieder holt mich der "Teufel" ein und raunt mir ins Ohr: Mach etwas! Mach etwas!

Copy 2017, Martin Näf