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Liebe Angelika, November 1990

Du hast lang nichts von mir gehört. Give me shit for it! - Mach mir Vorwürfe! - Ja, ja! Schlagt mich doch, schlagt mich, ich hab's verdient!

So meine Stimmung zur Zeit, zummindest ein Teil derselben: nicht gut genug sein, zu versagen, Schuld zu sein an allem, was schief läuft um mich her ... Dieses blöde subjektive Zeug: es wird demnächst abgeschafft, auf dass wir, Geschöpfe einer Ordnung, ganz im Überindividuellen aufgehn mögen! Raus mit dem Ramsch der Gefühle, fort mit dem altertümlich-unpraktischen Ach und Weh der früheren Zeiten! Hinein ins Jahrtausend der reinen Vernunft, des nimmer wankenden Glauben's und festgefügten Wissens! Fort mit dem Unsinn der schwankenden Seele, fort mit dem zaghaften Herz! Hinan ins Gebirge der Endzeit, hinauf auf's letzte Platteau, Endziel der trägen Mutter der Menschheit, der tapferen Evolution: frei werde der Geist von den letzten Trübungen seiner einstigen Gefangenschaft, hinweg mit den Spuren des Drecks, in dem wir so lange eingekerkert uns mühten, immer der Sonne entgegen, nie sie erreichend! Hinweg mit dem Seufzen, dem Weinen, dem Hoffen, dem Zaudern, hinweg! Das macht die Schule der Menschheit: unten, im hin und her des Alltags, da quält sie die empfindsame Seele und oben hin hängt sie, hoch über die Köpfe des Volkes, die Ziele, die heeren, auf dass wir mit verrenkten Hälsen nach oben starrend heiterer durch den tückischen Alltag stolpern, und fallend immerhin schräg noch hängen am Galgen der edlen Ideen, 2 1/2 Meter über dem Boden mit seinem Gewimmel, nicht stehend, nicht fallend, mit aus den Höhlen tretenden Augen und bläulich schwellenden Adern an Hals und Gesicht. So gehen wir zu Grunde für unsere Ziele, nicht plötzlich, mit einem grossen Knall, sondern langsam, langsam, im Zeitraum von 20, von 50 Jahren. Schliesslich werden wir eingesargt, ganz zum Skelett geworden, vom letzten Restchen des Lebens, des einstmals so vollen und jungen, verlassen. Eingesargt und verscharrt, auf dass der Platz frei werde für einen nächsten eifrig bestrebten -, man sieht ihn schon kommen, stolz und aufrecht und strahlend! Ein neuer Sieger! Es hängen die Ziele lose hinab und locken lächelnd den Neuling! Ja, gell. Vielleicht sollte ich dir noch ein Bild von mir beilegen, damit du wenigstens einen kleinen Anhaltspunkt dafür hast, dass ich äusserlich noch ziemlich derselbe bin, wie vor einigen Monaten (die Glatze allerdings scheint sich immer mehr bemerkbar zu machen. Soll also niemand etwas von "Stagnation" oder so sagen!). ... Denk an das Bild, das ich dir nicht beilege, und verzweifle nicht an mir! Ich bin noch derselbe, der ich gewesen, wenn ich auch nie mehr der sein werde und bin, der ich war! Das ist wahr und doch ist auch wahr, dass ich noch immer bin, der ich war -, ist doch wahr? Nicht wahr? oder nicht. (Ein Gedicht!). Zum Beweis dieser These lies dies und genese: 22. 10. 90 Patenonkel geworden stop Freude gross stop Ganzen September in Basel stop Sorge um einen in Krise steckenden Freund aus Deutschland stop Liebe wie immer stop zartwehende Lüfte manchmal stop Amor mit Pfeil mehrmals gesehen stop traf immer daneben stop hoffnung steigen und fallen wie Aktienkurse stop Im Oktober vor allem Ecole stop Pädagogik stop Kinderleben stop Historische Forschung stop Archivstaub stop Zuweilen aufflammendes Interesse stop Im Sommer hochfaszinierende Lektüre betreffend deutsche Frauenbewegung zwischen 1870 und 1930 stop dazu viel Quellen im Nachlass Geheeb stop Im Sommer ebenfalls sehr faszinierende Begegnung mit Berndt stop einem frühen und langwierigen AAOler stop heisst Mitglied der aktionsanalytischen Organisation (sprich Kommune) Friedrichshof am Neusiedlersee stop spannendes Experiment stop Gespräch faszinierend stop belebend stop Zur Zeit Lektüre von Briefwechsel Wyneken-Geheeb stop Zwei prominente Streitbüffel aus dem Stall der deutschen Landerziehungsheimgeschichte stop Faktenertrag gross stop menschlich deprimierend stop Am 10./11. November Alternativschultreffen in La-Chaux-De-Fonds stop Gründung eines Schweizer Alternativschulvereins stop Name provisorisch stop Stimmung diesbezüglich wechselnd stop manchmal Neugier und Freude stop manchmal Müdigkeit und Lustlosigkeit stop Motto: was soll's stop Frage was soll's: Revolutionierung des pädagogischen Denkens, Aufrütteln des narkotisierten Volkes, Überwältigung der profitierende Ärzte und Anästhesisten stop Abschaffung der Schulen stop Befreiung des Lernens aus dem Ghetto der Institutionen und der in ihnen kanalisierten und mundgerecht präparierten Vorurteile stop Mithilfe für den Sieg des alltäglichen stop Rehabilitation des einfachen, gewöhnlichen stop Abschaffung der heeren und der verheerenden Ziele stop Befreiung des Unmittelbaren stop 9. November Computer zu Revision bringen stop Blindenschriftzeile kaum mehr lesbar stop 21. November Planung einer Tagung "Freiheit der Erziehung in Europas Zukunft" für Oktober 91 stop Stimmung schwankend stop siehe oben stop Zweck ebenfalls siehe oben stop 26./29. November Konferenz des "europ. Forums für Freiheit im Bildungswesen" in Witten stop Stimmung und Zweck siehe oben stop Motto was soll's Stop November ansonsten mehrheitlich Basel stop Leben stop geschichtliche Texte durcharbeiten stop Datenbasis für Geheeb-Biographie bald so weit fertig dass Schreibarbeit anfangen kann stop Nervosität wie vor Geburt stop unbekanntes Erlebnis stop Angst vor dem Scheitern stop Wagnis des Kreativen Prozesses stop in die Hose oder wohin das ist hier die Frage stop Weihnachten noch keine Pläne stop auch Januar etc. nicht stop hoffe auf reichliche Ruhe zum Schreiben stop wenn ich nur endlich mit Zeugeneinvernahme fertig stop danach alles offen stop grosse Freude auf künftige Freiheit stop Gefahren der Illusion stop ... stop! Also. Für heute nichts mehr weiter. Ich komme manchmal kaum aus dem Wortzirkus raus, auch wenn ich was "wirkliches" schreiben möchte. Die Reime und Rhythmen entwickeln häufig eine solche Eigendynamik, dass ich, ob ich will oder nicht, wie ein ziemlich toter Fisch Bauch oben den Fluss runter treibe, ein Stück des Flusses fast -nicht zielscharf ihn durchstrebend, fischäugig sperbernd nach allen Himmelsrichtungen, sondern eher tangartig wakeln im Spiel der zufäll'gen Wogen nach hüben geschoben, nach drüben gezogen, nach oben gebogen, nach unten gesogen. Aber naja. Dieser Brief ist immerhin mal ein Lebenszeichen von mir, und es muss ja nicht der Letzte sein, den Du kriegst. Vielleicht werde ich Dich eines Tages mal mit einem total vernünftigen, völlig in sich zusammenhängenden Brief überraschen oder - man kann ja nie wissen - an Deiner Wohnungstür klingeln, um hallo zu sagen und zu sehen, wie's dir geht! Martin