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Sokrates, wie sehr fehlst du mir!

„Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!" Günther Eich

Ich wünschte, Sokrates wäre noch unter uns! Wie gerne würde ich mich wieder einmal mit ihm unterhalten. Sokrates, der einfach zuhört und nickt und hie und da eine Frage stellt. „Weshalb", so würde er fragen, „weshalb mein Guter blickst du so düster und scheinst keinen Sinn zu haben für die Sonne und das Lachn der spielenden Kinder!" O Sokrates, wenn du hier wärst ... Was würde ich sagen?

Ich blicke düster, weil mich die Welt bedrückt. Ich versuche seit Wochen zu schreiben - Wochen? Ach, was sag ich, Jahre sind es längst, in denen ich mit diesem Plane schwanger gehe, Jahre! - Ein Buch soll es werden, ein Buch über Bildung und Neugier, Zähigkeit und Kraft, Ausdauer und Ideen. Aber je länger ich denke und schreibe desto bedrückender wird mir das Thema, und statt zügig voran zu kommen mit meinem Buch, versinke ich langsam in einem unendlich scheinenden Sumpf von Problemen.

Ja, das würde ich sagen, und du, mein Guter ... du würdest lachen und mich zu einem Spaziergang auffordern, denn so sehr du die Jünglinge liebst und die wärmenden Strahlen der Sonne! Grosse Probleme liebst du noch mehr! Also, würdest du sagen, erzähle. Was ist das Problem und wo ist der Sumpf? Und wir würden uns unter den Haselstrauch setzen, du würdest warten, und schliesslich würde ich seufzen und sagen:


Ach Sokrates! Die Schulen, wie sehr haben wir uns an sie gewöhnt, an diesen Wolf im Schafspelz! In diesen Schulen wird nicht nur gelernt – französisch und Mathe und was der wichtigen Dinge mehr sind. Nein – so ganz nebenher und ohne dass wir es merken, wird dort auch der Geist und der Mut uns'rer Jugend beschnitten! Auf Anfrage heisst es zwar, dies sei 1. nicht wahr und 2. nicht schlimm und 3. müsse es leider so sein, damit die Jugend später in der Welt, wie sie nun einmal sei, zurecht komme. Doch, Sokrates, so wenig ein Bisschen „beschneiden" mich schreckt: Mir scheint, in der Schule beschneiden wir nicht, wir verstümmeln -, vernichten! Darüber will ich schreiben, damit das Herz der Menschen sich öffnet, und sie die Not erkennen. Ich möchte mit sanften Worten sie rühren und das Elend sachlich erklären, doch ach – es gelingt nicht. So oft ich's versuche, steigt Zorn in mir auf und Verzweiflung, und statt ruhig und vernünftig zu schprechen, wie ich's gelernt, schreib ich in düsterem Grimm von der Versklavung des Menschn durch die scheinbar so harmlose Schule, diese Sortier- und Verdummungsmaschine, in deren Rachen wir täglich die Kinder werfen, weil wir nichts anderes wissen, und weil man uns zwingt, es zu tun! Dass die Menschen ob solch Worten erschrecken – ich versteh es! Doch soll ich lügen? Soll ich flüstern im brennenden Haus, um die Schläfer zu schonen? Selbst wenn ich mich täuschte – doch, Sokrates, nein! Ich täusche mich nicht!

Die Menschen – was könnten sie sein! Und was sind sie ...? Schau sie dir an, uns're Kleinen am Beginn ihres Lebens: Sieh ihren Eifer, ihren Mut, ihren scheinbar nie erlahmenden Wunsch, diese Welt zu begreifen und in ihr zu bestehen! Schau dir ihr Lachen an und ihren tiefen Ernst! Welche Kraft und welch Zutrauen in diese Welt. Und wie viel sie verdaun und lernen! Ganz nebenher, ohne Bücher und Lehrer, ohne Planung und äusseren Zwang. Sie lernen zu sehen, zu greifen, zu sitzen, zu stehen, zu gehen, zu sprechen. Einzelne Wörter zuerst, dann zwei und dann drei und nach ein paar Jahren ist die Sprache gemeistert, und wenn die Umgebung es will, so lernen sie gleich eine Zweite dazu ... nein, eigentlich lernen sie nicht, denn sahst du sie je an einem Tische sitzen und Aufgaben machen? Nein, sie rannten draussen herum und spielten oder sie lagen im Bett und sie streckten die Füsse zur Decke, während die Mutter mit ihnen sprach odr vorlas. Gewiss, sie brauchen unsere Hilfe, unsere Aufmerksamkeit und Beachtung, und oft vermissen sie diese, sind Opfer häuslicher Dramen oder verblöden allein vor der Glotze. Ich weiss es, Sokrates, doch wenn wir nur da sind und etwas Zeit für sie haben, so sind sie so stark und so unglaublich tätig. Doch dann kommt die Schule.

Wie herrlich könnte sie sein. Ein Ort des Forschens und Fragens, ein Ort für Gespräche und tausend Projekte, ein Ort der Begegnung, des Träumens, der Ruhe, ein Ort für Grosse und Kleine, für Junge und Alte, ein Ort der Nachbarschaftspflege, ein Ort, an dem man sich trifft, ein Ort, wo man liebt und lebt und Pläne entwickelt, ein Ort, wo die Kräfte der Kinder sich weiter entfalten, wo ihr Welthunger zunimmt und ihr Interesse am ferner liegenden wächst, ein Ort, von dem man hinaus geht in die Welt, allein, zu zweit oder alle zusammen, um dies zu tun und jenes, zu helfen, zu bauen, zu schauen, zu „lernen". Und langsam wüchsen sie hinein in die Welt, und ihre Interessen gewönnen Gestalt; in der Schule würde über Wünsche gesprochen, über Wünsche und Ziele und über die Wege dorthin; Kontakte würden geknüpft und Bücher gelesen nicht weil man muss, sondern aus Neugier und weil da ein Ziel ist. Und irgendwann wären sie fort, kämen nur hie und da noch zurück, um etwas zu klären, um einen neuen Anlauf zu nehmen, um zu erzählenKeine Belehrungsmaschine mit Fächern und Noten und professionellen BelehrerInnen wäre diese Schule, sondern ein Ort, an dem Leben wäre und Raum zur Entwicklung. Und die Lehrer, sie wären Berater und ältere Freunde, Menschen mit eigenen Plänen je nach Bedarf und Vermögen. Doch ist sie so, uns're Schule? Ach Sokrates, nein! Statt wie bisher dem Gang der Natur und der Neugier der Kleinen zu trauen, greifen wir ein: Wir drängen uns vor und nehmen sie an der Hand; wir führen sie ein in das Lesen und Schreiben, ins Rechnen und all die anderen Künste, auf die wir Erwachs'nen so stolz sind. Wir sagen, wir tun es aus Liebe und weil es nötig sei, doch tun wir es nicht einfach so - aus Gewohnheit und weil wir nichts anderes kennen?

Wir geben uns Mühe; wir bilden uns fort, reformieren die Schulen und merken doch ein übers andere Mal, wie die Kräfte der Kleinen erlahmen, wie ihr Interesse an der anfangs so freudig begrüssten Schule nachlässt. Wir ziehen sie hinter uns her und muntern sie auf: „Noch 15 Minuten, dann gibt's eine Pause", und wenn sie sich sträuben, dann werden wir streng, und die Kleinen bemühen sich, mitzukommen. Einzelne schaffen es nicht, doch die Mehrheit gewöhnt sich allmählich an all die Fächer, das Lernen, das Lesen und Sitzen. Sie strengen sich an, denn wer's nicht schafft, bleibt zurück. Und schliesslich nach Jahren kommen sie an auf dem Gipfel, ermattet die Meisten, doch glücklich, dass sie noch da sind. Sie sind jetzt gebildet. Zwar erweist sich ein Gutteil der mühsam erworbenen Bildung als wertlos - gleicht eher zerbroch'nem Gerümpel als nützlichem Werkzeug und hilfreichem Wissen -, doch immerhin sind sie jetzt frei. Der Zwang ist beendet. Sie dürfen gehen. Und tatsächlich: Einige raffen sich auf und schauen sich um und werden erneut, was sie waren –Menschn voll Mut und voll Kraft, im Kontakt mit sich selbst und der Welt, Menschen mit eig'nen Gedanken, mit eigenen Plänen und Zielen. Doch die meisten sind ziellos geworden und ihre einstige Kraft scheint verloren. Sie trauen der Welt und sich selber nicht mehr; sie brauchen Fächer, Diplome, Systeme; sie brauchen ein Oben und Unten und jemand, der ihnen sagt, „tun Sie dies, tun Sie das". Sie sind nett, nicht immer, aber doch häufig, und doch, Sokrates, wie wünsche ich mir ihren Mut, ihr Vertrauen, ihr Lachen und Weinen von damals zurück! Wie wünsche ich mir ihre Fragen zurück und ihren oftmals so lästigen Trotz. Denn schau – sie sind nett, doch was tun sie? Sie lachen und giessen die Blumen, während die Welt vor die Hunde ghet. Sie schauen sich alles im Fernseher an und sie lesen die Zeitung, doch ihr Mut ist so klein, ihre Kräfte verbraucht, ihre Fähigkeit, sich andere Welten zu denken, verkümmert. Wir lehrten sie „ja" zu sagen, wenn sie „nein" sagen wollten; wir lehrten sie, mitzumachen, wenn sie nicht mitmachen wollten, und jetzt auf einmal sollen sie mutig sein, sollen aufstehen und sagen, dies will ich oder jenes! Jetzt auf einmal sollen sie mutig sein und "nein" sagen, sie , die wir zu ängstlichen Ja-Sagern machten?– Nein! Wir haben zu gründliche Arbeit geleistet. Sie legen die Zeitung beiseite und zucken die Schultern. Nicht einmal Tränen sind ihnen gebliebn, keine Wut,und keine Vision, kein Gedanke, der ihnen hilft.

Ich weiss, ich sollte mit leisen Worten sprechen, denn sie erschrecken so leicht. Ich sollte sie trösten, sie stärken. Doch wenn ich sie sehe, dann packt mich die Wut, ob all der Zerstörung und der scheinbaren Harmlosigkeit. Sie sind alle so nett und lachen und lesen die Zeitung und gehen zur Arbeit, die ihnen Halt und Gehalt gibt, und die „nicht schlecht" ist, so wie vor langem die Schule „nicht schlecht" war! Sie haben verlernt, mehr zu verlangen als diese mittelmässige Ruhe. Man hat sie verführt und geködert und ihre Bravheit belohnt. Jetzt sitzen sie da, halb Opfer, halb Täter, zufrieden und doch nicht zufrieden, geniessen die Ruhe und möchten doch mehr, und ich versuch sie zu wecken – aus „Mitleid", vielleicht, aber vor allem, weil wir sie brauchen – weil die Welt ohne sie vor die Hunde geht.



Ja, Sokrates, darüber habe ich also gebrütet seit Wochen und bin mit mir innerlich auf und ab gegangen, um die rechten Worte zu finden, und während ich so mit mir ringe und meine Klage zu Papier zu bringen versuche, da höre ich plötzlich ein Lachen, kein dröhnendes und lautes wie das Deine, sondern ein hässliches, bitteres, und ich höre eine Stimme sagen: „Du naiver Schreiber, du meinst mit deiner rührseligen Geschichte irgend etwas zu bewegen! Als ob es in dieser Sache auf die „Entwicklung des Menschn" und derlei Dinge ankäme. Wie brav du doch an die romantischen Phrasen glaubst, mit denen man euch in den Schulen euer Hirn vernebelt hat! Doch ich sage dir, an deiner Psychologie ist niemand interessiert! Mag die Neugier vor die Hunde gehen, Hauptsache die Kasse stimmt!

Ich sage dir, die Entfaltung und das Glück der Kinder ist uns so egal, wie einem Geflügelzüchter das Glück seiner Hühner. So lang sie nicht reihenweise krepieren machen wir weiter. Sie sind nicht da, um glücklich zu sein, sondern damit wir an ihnen verdienen -, direkt, als Manager ihrer „Bildung", und als Bosse der Untermenschen! Sie sollen fressen und Eier legen, Konsumieren und arbeiten; ihr gegacker interessiert uns nicht.

Natürlich könnten sie vieles von dem, was wir ihnen jetzt in den Schulen einlöffeln, in freier Wildbahn genau so gut lernen, und vieles bräuchten sie gar nicht zu wissen.

Auf die Eltern allein ist kein Verlass mehr, im Gegenteil: Sie würden vielleicht plötzlich von ihrer eigenen Emanzipation zu träumen beginnen! Und selbstverwaltete Lernnetze und offene Bildungsorte, von denen Sozialromantiker wie Du oder Holt und Buber oder Illich und Ginsburg und wie sie alle heissen, so gern träumen, kommen natürlich nicht in Frage – zumindest jetzt noch nicht.


Nein, mein guter. Die Kirche hat sich damals auch gegen jene gewehrt, die ihnen das Religionsmonopol streitig machen wollten und behauptet haben, dass ihr religiöses Leben und ihre Beziehung zu Gott sich auch ohne die römische Bürokratie, ohne Priester und ohne die obligatorischen, oft ziemlich langweiligen Messbesuche entfalten könne, ja, dass diese organisierte Frömmigkeit echter Religiosität im Grunde zuwider und ihrer religiösen Entfaltung hinderlich sei. Sie hat diese Menschen – teils aus echter Besorgnis, teils aus reinem Kalkül– als Teufel, als Narren und als gefährlicheDemagogen einsperren, ausweisen odr hinrichten lassen.


Ich schweife etwas ab. Du brauchst keine Angst zu haben – Wir tun dir nichts. Die Zeiten dafür sind viel zu ruhig und vorerst bist du als Demagoge – na, entschuldige, ich will dir nicht zu nahe treten –, sagen wir mal ... ein Nichts. Gefahr droht dir allenfalls von den Fundis in diesem Bereich, denn sie glauben wirklich noch an die Schule! Ich wollte dir nur klar machen, wie absurd Theorien von deiner Art in der real existierenden Welt sind. Wenn wir alles, was den Menschen bildet, als Bildung anerkennen würden – seine Gespräche in der Beiz, die Diskussionen mit seinen Youngsters, die Erlebnisse in der Strassenbahn, die Besuche im Altersheim oder die private Lektüre von Pipi Langstrumpf oder James Baldwin ... – wo kämen wir da hin! Domestizierung allein können wir nicht verkaufen. Das konnte auch die Kirche nicht. Also braucht es den ganzen Zauber – Didaktik, Lehrmittel, besonders ausgebildete Priester, d.h. LehrerInnen, besondere Gebäude mit ihrem eigenartigen Ambiente und dazu natürlich den durch Diplome und derlei Papiere täglich neu erzwungenen Kniefall vor dem absurden Dogma, dass Intelligenz und Wissen sich nur im Rahmen anerkannter Schulen entfaltet, und alles, was von der Schule nicht abgesegnet ist, nicht zählt!


Ich weiss nicht, ob du verstehst. Es geht nicht um Bildung. Es geht um Geld und um Macht. Selbst wenn du mit hundert Studien anrücken würdest, die die Verkümmerung der Kreativität und der Emotionalität unserer Kundschaft belegen – und natürlich wissen wir, dass es diese Studien gibt! -, es würde uns nicht interessieren. Wir geben andere Studien in Auftrag und lassen ein par abfällige Rezensionen über deinen Klagegesang schreiben und du bist weg vom Fenster! Experten? Unabhängige Forscherinnen? Glaubst du wirklich noch an so was? Die Universitätsinstitute sind längst in unserer Hand. Wir lassen ein paar bunte Vögel im Mittelbau am leben, damit sie dem Betrieb einen Anstrich von Lebensnähe und Unvoreingenommenheit geben, aber die wichtigen Posten sind mit zuverlässigen Leuten besetzt. Sie denken an Drittmittel, an Verlagsaufträge, an ihre internationale Karriere, an ihr Haus, ihr Prestige und – natürlich - an die Ausbildung der Kinder! Meinst du, sie haben den Mut zu gestehen, dass der Kaiser nakct ist? Selbst wenn sie in stillen Nächten hie und da zweifeln und ihr Glaube an die Schule und ihr geschäftiges Treiben zu schwanken beginnt: Sie werden nicht abspringen; sie sind zu sehr in das ganze verstrickt, und dann: vergiss nicht, sie kommen wie du aus unserer Schule und habengelernt, sich zu fügen. Egal, wie viel Lärm auch immer sie machen – die Wenigsten von ihnen haben wirklichen Mut und vermögen Stand zu halten, wenn sie stand halten sollten!


Und das Volk? Willst du das Volk erreichen? Das Volk ist überarbeitet und abgehetzt, und was noch da ist an freier Zeit und freien Kapazitäten wird von der Unterhaltungsindustrie aufgesogen. Ja, es stimmt schon! Wir amüsieren uns zu Tode und die Wirtschaft kassiert. Mag sein, dass das Ganze nicht mehr lange so weiter geht, aber vorläufig ist die Party noch in vollem Gang.


Die Lehrmittelverlage boomen, der Schulmarkt wird privatisiert. Es locken Milliarden-Gewinne,durch den kaum hinterfragten Schulzwang auf Jahre gesichert. Die Leistungsschraube wird angezogen; alle müssen / wollen jetzt an die Uni; was zunehmend überarbeitete Eltern und Lehrkräfte nicht mehr auffangen und „bearbeiten" können, schafft neue Arbeitsplätze im therapeutischen Bereich und gigantische Absatzsteigerungen bei der Pharmaindustrie.

Bei den Lehrern und Lehrerinnen stösst du mit deinem Klagegesang vielleicht hie und da auf offene Ohren, denn viele von ihnen hatten ursprünglich ja einmal ein ganz gefühlvolles Verhältnis zu Kindern. Sie glaubten an deren Neugier und deren Wunsch, zu lernen. Aber sie haben gelernt mit Kompromissen zu leben, und im Zweifelsfall verteidigen sie das System, denn auch ihre Karriere und ihre Identität hängt von dessen Fortbestand ab. Zu kleinen Reformen sind sie bereit, müssen es sein, denn Reformen sind das Öl des Getriebes. Mit Reformen werden die Gutgläubigen bei Laune gehalten und die Ungeduldigen zum Schweigen gebracht.

Die Lehrerinnen und Lehrer mögen jammern und seufzen, sie mögen verzweifelt sein, weil sie die Fragwürdigkeit ihres Tuns vielleicht schon seit Jahren erahnen, doch solange wir ihre Löhne bezahlen und ihre Skrupel mit klugen Worten zerstreuen werden sie das System nicht verraten. Sie haben sich eingerichtet in ihren Kompromissen und in ihren menschenfreundlichen Täuschungen.


Doch sei nicht traurig, du Narr. Möglicherweise können wir die Schule schon bald zur Demontage freigeben, denn bereits heute ist sie längst nicht mehr die einzige Instanz, die sich um die Bildung unserer Kleinen kümmert! Was vor vierzig oder fünfzig Jahren vereinzelt geschah – Werbung für Kinder – ist im Laufe der letzten Jahre zum Grossangriff auf die Phantasie, die Originalität und die Freizeit der Kinder geworden. Noch hat das System Lücken. Noch spielen sie zwischendurch in irgendwelchen Hinterhöfen Fussball oder liegen an der Sonne und reden miteinander. Doch die Entwirklichung der Welt und der Vormarsch der Marketingstrategen lässt dich vielleicht bald sehnsuchtsvoll an die Zeiten zurückdenken, wo du es in deinem Kampf um den freien, selbstbestimmten Menschen nur mit der Schule zu tun hattest!

Ja, ich merke schon, wir betreten Neuland. Dir wird unbehaglich. Doch wenn du dir schon Sorgen machen willst, dann mach dir lieber die richtigen! Die eigentliche Verblödung der Kinder (und der Erwachsenen!) ist ein Projekt, bei dem die Schule eine immer geringere Rolle spielt. Es ist ein Feldzug, bei dem alles auf dem Spiel steht, und der an keiner Grenze halt macht!

"Werbung" ist jetzt Suggestion einer Persönlichkeit, Werbung, das ist Lebensstil und Denkart! Zum eigentlichen Fernsehkonsum kommt die weitere Erosion der Wirklichkeit durch das WWW und seine multimedialen Freunde, die Spiel, Spass, Spannung, Information und menschliche Kontakte versprechen ohne dass du je von deinem Stuhl aufstehen musst!

O ja. Wenn wir schon dran sind, es gibt Studien, die einen dramatischen Rückgang der motorischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen und erste Veränderungen in ihren Hirnstrukturen nachweisen zu können glauben. Spezialisten sprechen von der durch das mediale Pseudoleben verursachten Vereinsamung, von einer neuen Kultur des „kalten Herzens", von „vermüllten Köpfen", vom Zerfall der menschlichen Bindungsfähigkeit ...


Die Menschen nehmen alles hin wie Lemminge – zusammen mit Flutkatastrophen und zerbomten Städten, zusammen mit Meldungen über getürkte Rohölpreise und über gefälschte Kriegsgründe ... Sie nehmen alles hin, denn sie haben gelernt, dass es gefärhlich ist, sich zu weit von der Mehrheit zu entfernen. Sie stehen der Medialen Überflutung wehrlos gegenüber. Sie haben gelernt, dass man nie genug wissen kann, und liefern sich deshalb täglich freiwillig dem gigantischen Informationsoverkill der Nachrichtenindustrie aus. Ihre Hilflosigkeit garantiert die Umsätze. Je kritischer die Lage desto höher die Auflagen und die Einschaltquoten.


Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, und da wird früher oder später alles – und ich meine wirklich ALLES, die Freizeit, die Phantasie, die Luft, dasw Trinkwasser, der Tier- und Pflanzenbestand der Erde, die Sprache, das religiöse Bedürfnis, Eros und Sexus! - zu Geld gemacht! Gebähr- und Abteibungsindustrie garantieren das perfekte Baby. Die Schönheitschirurgen bearbeiten mittlerweile bereits die Körper der 15 bis 20-jährigen! Hier eine Brustvergrösserung, dort eine kleinere Nase! „O, du willst nicht? Nun dann – kein Problem, aber beklag dich nicht, wenn du bei den Jungens keinen Erfolg hast!" Die Männer sind bisher gegenüber den Avancen der plastischen Chirurgie noch verhältnismässig resistent, aber das ist nur eine Frage der Zeit. IN Sachen Mode und Make up haben wir sie ja schon ziemlich gekriegt.

Also vergiss deine Schule. Sie hat die Kids längst an uns verloren! Vergiss die Ergebnisse der Hirnforschung und die neuesten Erkenntnisse über die Biologie des Herzens. Wie der Mensch funktioniert, ob das Herz tatsächlich zu 60% aus Nervenzellen besteht und eine so bedeutende Rolle in unserem Denken und Fühlen einnimmt, ist uns völlig egal. Wir wollen, dass gekauft und weggeschmissen wird, und dass die Menschen sich vom Phötus bis zur Bare an den Rat und die Versprechungen irgendwelcher ExpertInnen klammern, weil sie den Glauben an sich und ihre Fähigkeiten verloren haben.


Du willst zu Eigenständigkeit, zu Selbstvertrauen und zu Vertrauen in die Welt erziehen! Du sprichst von innern Werten und von Lebenssinn, du sprichst davon, das Leben in die eig'ne Hand zu nehmen, und unter uns gesagt, du sprichst nicht schlecht, doch uns're Shairholder wollen Kröten sehen und zwar nicht wenig! Und ich, ich will nach oben, denn nur wer oben ist der lebt! Deshalb, mein Lieber, vergiss die heeren Ziele! Menschen, die zufrieden sind, die sich und ihre Nachbarn kennen, die Freunde haben und etwas, was ihrem Leben Sinn gibt, sind höchstens Mittelmass im Konsumieren und Mittelmass, das ist zu wenig! Wir brauchen Süchtige, die sich leer und einsam fühlen, die kein rechtes Ziel im Leben haben, die leichtgläubig und verführbar sind und immer haben, haben, haben wollen, um sich zu trösten. Wir brauchen diese ausgehölten Kreaturen - äusserlich schön aufgeputzt und innerlich kaputt -, und dazu können wir auf die Mithilfe der Schule vorerst noch nicht ganz verzichten!

Dein Humanismus ist zu schwierig, und du, du bist zu weich. Wir verkaufen Geborgenheit und Liebe, Erfüllung, Potenz und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, und wir haben Geld. Deshalb forget it, man, forget it! Red' du mit Sokrates, doch denk daran: du redest von vergang'nen Zeiten. Ich rede von der Zukunft!"


Ach Sokrates -, du denkst vielleicht der böse Geist hat übertrieben? Ich glaub es nicht. Wenn ich mich aus dem vertrauten Haus meiner eigenen Gedanken hinaus begebe auf die Strasse, dann finde ich genau das, was er sagt, und ich merke, wie naiv ich bin, ich und viele andere um mich her. Mir dreht sich der Magen um. Und ich sage dir: Wenn wir noch weiter graben und sprechen würden – es käme noch viel mehr Dreck und Elend, Gemeinheit, Korruption und Zynismus zu Tage! Es ist alles viel schlimmer als wir gedacht haben! Die Pädagogik ist in den Händen der Politik und die Politik ist in den Händen der Wirtschaft und dem Militär, und während ich noch hoffe, mit meinen Worten Menschen zu erreichen, scheint es immer mehr, dass diese Menschn ausgestorben sind, dass wir alle längst zu einem Teilchen in einer Maschine geworden sind, eine Maschine, die niemand von uns wirklich steuert, eine Maschine, die uns langsam zermalmt während sie uns ernährt und bei Laune hält. Ich rede, doch ich erreiche niemanden mehr ...


Sokrates, bist du noch da? Sokrates! Wenn du nicht mehr da wärst, wenn wir dich nicht mehr finden könnten im Gewirr der Sachzwänge, wenn es überall nur noch Redner und Rednerinnen gäbe, die aufeinander einredeten und niemand mehr wäre da, der zuhören und nicken und fragen würde ... Sokrates, wenn du nicht mehr da wärst ...!


Was sagst du? Du bist unsterblich? Es gibt dich gar nicht? Aber Sokrates, was denn nun? Es gibt dich nicht und zugleich willst du unsterblich sein? Weil du der Geist des Nachdenkens und des Gesprächs bist ... O, du bist gar nicht Sokrates? Aber du hast ihn gekannt? Ja, ihn auch ... Ihn auch und viele andere? Alle? Du kennst alle Menschen? Wie, du kennst sie nicht? Du kennst keinen ... Aber eben sagtest du doch, du kennst sie alle? Du kennst sie also nicht eigentlich, aber sie kennen dich – den Geist des Nachdenkens und des Gesprächs, den Geist des Zuhörens und des Mitdenkens, den Geist der Anteilnahme und der Ermutigung ... Den kennen sie alle? Meinst du wirklich? Er scheint so oft unterzugehen im Gedränge der Sachzwänge und im Lärm der Redner, die alle Recht haben wollen und nach Anerkennung lächzen! Du sagst, du bist immer da – auf Abruf sozusagen -, wenn wir dich brauchen? Als menschliche Möglichkeit, losgelöst von Sokrates oder irgend einem anderen konkreten Menschn ...? Wirklich? - Gut. Dann will ich an meine Arbeit zurückkehren und schreibnd weitersprechen und weiterdenken, denn solang du da bist, sind wir nicht verloren – selbst wenn wir untergehen.

©2006 Martin Näf