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An Moritz K., im Dezember 1989

Lieber Moritz! Ich bin ja etwas skeptisch, ob dieser Brief seinen Weg zu Dir wirklich findet (Österreich ...??? ... Grossmutter???), aber immerhin: Ciao sagen und mich von Dir verabschieden, das will ich doch noch!

Ich hatte ja eigentlich vor, am Mitt­woch, meinem letzten Morgen auf dem Hasliberg, wiedermal zum Frühstück zu kommen, um euch alle noch einmal zu sehen, aber nachdem ich fast die ganze Nacht in Gedanken, Bildern, Ahnungen und Gefühlen geschwelgt und kaum geschlafen hatte, wollte ich am Morgen wenigstens noch ein klein Bisschen schlafen. Das ging denn auch einigermassen trotz Türengeschmetter und Rufen und Laufen. Leider konnte ich Dir dann aber auch zwischen Frühstück und erstem Kurs nicht mehr auf wiedersehen sagen, dann plötzlich habe ich Dich mit Will und Barabara diskutieren, streiten und reden hören -, direkt unter mir und nachher warst Du irgendwie weg und Will war aufgeregt und mein Kaffee noch nicht getrunken und Lukas noch da und das Postauto winkte am Horizont und wollte schon wegfahren und mir hat's geflimmert im Hirn und im Magen war's unbehaglich gespannt. ... Jetzt also ciao, lieber Moritz. Es tut mir Leid, dass du's in letzter Zeit so schwer gehabt hast im Turm­haus, denn dass Du Dich unwohl und gequält fühlst, diesen Eindruck hatte ich auch vor vier Tagen, eben an dem letzten Mittwoch Morgen, wieder, als ich Dich reden hörte. Es war mir, als ob du nur sagen würdest: "lasst mich los! Aua! Aua!!!

Lasst los! Ich war's nicht, ich kann nichts dafür! Aua!!!" - nicht sagen, sondern eigentlich schreien, obwohl du ja nicht geschrieen hast. Ja, ich hatte den Eindruck, dass dir das, was geschehen ist, fest weh getan hat, und ich war oben in meinem Zimmer und hätte gern "geholfen", die unglückliche Situation aufgelöst, nur eben: wie? - Jetzt will ich dir vor allem nur schreiben, damit Du weisst, dass mir diese Ereignisse in unserem gemeinsamen Haus nicht gleichgütlig sind und dass es mir auch nicht gleichgütlig ist, wie es dir geht: auch wenn ich nur relativ wenig wirklich bei euch bin und auch wenn ich nicht sagen würde, ich kenne dich "gut" oder ich verstehe dich wirklich, so empfinde ich in so schwierigen Momenten wie es dieser Mittwoch morgen war doch ganz stark, dass ich "helfen" möchte; ich fühle mich irgendwie mitbetroffen und beteiligt, obwohl ich scheinbar gar nicht beteiligt bin. Naja: vielleicht ergibt sich ja eine konkrete Möglichkeit der "Hilfe" im nächsten Trimester, vielleicht kann ich ein wenig dazu beitragen, dass sich die schwierige Situation zwi­schen dir, Will und Barbara wieder etwas löst und ihr wieder in frohere Gewässer findet (denn als schwierg empfinde ich die Situation zwischen euch im Moment schon). Vielleicht. Jedenfalls freue ich mich auf weitere Wochen und Monate mit Dir! Ich wünsche dir ganz fest, dass du trotz aller Konflikte und trotz allen Knatsch's daran glaubst, dass du doch ei­gentlich und im Grunde ein wirklich guter Mensch bist, denn das bist du wirklich! Jedenfalls finde ich das!

Ja Mensch! - Ich wünsch dir eine gute, frohe und friedvolle Weihnachtszeit, auch wenn oder gerade wenn die Zeiten für dich vielleicht auch schwierig und frustig sind! Wolf Biermann singt: "lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit!" - Vielleicht hilft es, wenn du das Lied selber ab und zu singst!

Lieber Moritz: Ganz herzliche Grüsse. Ich freue mich auf das, was kommt!

PS: Ich denke noch immer an Geheebs Beziehung zur Kirche und seine Religiosität. Einmal wirst Du da was von mir kriegen, auch für deine Eltern, wenn diese daran interessiert sind! Vorläufig fehlt dazu jedoch zu Zeit und die Musse. - Nochmals Ciao.