www.martinnaef.ch / 1.3: Persönlich > Noch der Gleiche und doch ein anderer
.

Noch der Gleiche und doch ein anderer

«Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, dass ich blind und lahm bin». Martin Näf versucht sich wieder zurecht zu finden und lässt sich seine Selbständigkeit nicht nehmen. Zum Beispiel wenn er in Afrika seine Hilfswerke besuchen geht. - handicapforum Nr. 3 | 2019 Seiten 4 bis 6, Barbara Imobergsteg im Gespräch mit Martin Näf 

 

Wir probieren das Rollstuhl- Velo aus

 

«Ich war selbständig, aktiv und voller Ideen - weit über das Fach Erziehungswissenschaft hinaus,» erinnert Martin Näf. Als Forscher und Reisender hat er Bücher und Berichte verfasst. Seine Homepage zeugt noch immer von dieser überaus produktiven Zeit. «Das Buch der Bücher habe ich noch nicht geschrieben», sagt Martin Näf mit seiner leichten Ironie «das wäre dann natürlich die Wahrheit und die gibt es leider nicht.» Früher behielt er mühelos eine Fülle von Informationen im Kopf, die er jederzeit abrufen konnte. Stimmen zuordnen, Termine, Wegbeschreibungen und alles, was das Alltagsleben erforderte, hatte er nebenbei immer zur Verfügung, während er las, lernte und lehrte und die Welt bereiste. Viele Vorhaben hat er umgesetzt, nichts schien ihn zu hindern, auch nicht seine Blindheit. Heute kann er wieder Mails schreiben, «mehr oder weniger gut», wendet er ein. Französisch oder englisch zu sprechen fällt ihm immer noch schwer.

Einbruch ins Leben

Vor sechs Jahren hatte Martin Näf einen Hirnschlag. Dieser Einbruch ins Leben ist mit Leiden verbunden und die Auseinandersetzung damit hält an. «Ich muss mich daran gewöhnen, dass ich zwar noch der gleiche aber doch ein anderer Mensch geworden bin», sagt Martin Näf. «Und ich gewöhne mich nur schwer daran» fügt er an. In seiner Stimme schwingt eine Mischung aus Sterbenwollen und Trotz mit, aber auch Ruhe und Klarheit. Jetzt sitzt Martin Näf im Rollstuhl, die Füsse am Boden, die linke Hand tastend und suchend in der Luft. Er versucht etwas in Reichweite zu fassen, um sich zu orientieren. Er flucht. «Es ist mehr als mühsam, wenn ich immer wieder ins Leere greife, aber was kann ich machen.» Der rechte Arm und das rechte Bein sind gelähmt. Er kann knapp allein zur Toilette und selbständig zu Bett gehen. «Wenn ich das nicht mehr kann, dann muss ich vermutlich in ein Heim umziehen», er lacht: «Jetzt wohne ich noch in einer ganz gewöhnlichen Wohngemeinschaft.» Vor vier Jahren hatte Martin Näf auch noch einen epileptischen Anfall – seither vergisst er viel. Wem habe ich bereits geschrieben, was haben wir vereinbart? Er braucht eine Assistentin oder einen Freund, der ihn daran erinnert. Er müsse lernen, viel mehr Vertrauen in andere zu haben, sagt Martin Näf. «Blind sein war früher kein Thema für mich, Sehen hat mich gar nicht interessiert – und jetzt fehlt es mir plötzlich.»

Es ereignete sich in Afrika

Der Unfall ereignete sich in Afrika, in seinem geliebten Dorf in Niger, wo er viel Zeit mit Freunden verbrachte. Es begann ganz harmlos, das Bein fühlte sich komisch an, machte Mühe beim Gehen und Martin Näf liess sich in das nächstgelegene Ambulatorium fahren. Dann war auch die Sprache weg. Die Erinnerungen verschwimmen, wenn er jetzt zurückdenkt. Irgendwann lag er im Krankenhaus der Hauptstadt und seine Freunde aus dem Dorf pflegten ihn. Nur wer Familie hat oder sehr viel Geld, wird gepflegt. «Ich dachte immer noch, das gehe bald vorbei, ich fand diese Erfahrung in einem afrikanischen Spital sogar noch spannend», erinnert sich Martin Näf. Bis seine Angehörigen in der Schweiz informiert werden konnten und die Rega einschalteten, verschlimmerte sich sein Zustand. «Ich hätte auch in Niger sterben können, dort hatte ich ja eine glückliche Zeit», meint Martin Näf lakonisch; ob er sich das zuweilen sogar gewünscht hat, bleibt offen.

Früher habe ich nie geweint

Dass so etwas in der Schweiz nie passieren würde, ist eine Illusion. Wohl gibt es hier exzellente medizinische Pflege und Behandlung, doch immer wieder fehlen dafür Familie und Freunde, so dass Menschen, die einen Hirnschlag bekommen, stunden-, wenn nicht tagelang in der Wohnung liegen bleiben bis sie gefunden werden. «In der Schweiz mischt man sich nicht ein und bittet seine Freunde ungern um Hilfe, man vermeidet Situationen, in denen man auf sie angewiesen sein könnte». Martin Näf weint leise, plötzlich ergriffen von der Erinnerung an seine afrikanischen Freunde, an ihre Hilfe und Zuwendung. «Früher habe ich nie geweint», stellt er fest, und mit einem Grinsen: «Ich war ja ein Mann.» Jetzt überkommt es ihn manchmal, das Weinen, und es ist nicht zu unterdrücken und nicht aufzuhalten.

 

Martin Näf steckt die Menschen im Kongo an mit seinem Engagement an

Die totale Umstellung

Plötzlich auf Hilfe angewiesen sein: Für den, der absolut selbständig und selbstbestimmt durchs Leben gegangen war, bedeutet dies die totale Umstellung. Das Assistenzbudget erlaubt es ihm, weiterhin selbständig zu wohnen und gewisse Aktivitäten wieder aufzunehmen. Für die Organisation und Koordination des HelferInnensystems ist auch ein Assistent zuständig. Mit der Abhängigkeit geht Martin Näf pragmatisch um: Klappt mal irgendetwas nicht, nimmt er es locker. «Ich kann tagelang mit mir allein sein und einfach nur etwas Brot essen» – hier spricht der Weltenbummler, der beispielsweise als blinder Reisender allein auf dem Landweg nach Indien gereist ist und der sich in diesen fünf Monaten unterwegs auch nicht immer in der Komfortzone wiederfand.

Die richtigen Wörter

Das finden Das Rehabilitations-Training im Sprechen hat er auch selber in die Hand genommen. Das Lernen war sein Fachgebiet als Erziehungswissenschaftler. Über die Irrtümer der Schule hat er geforscht und geschrieben. «Jeder muss seinen eigenen Weg finden, es gibt keine Rezepte», sagt er auch in diesem, in seinem, Fall. Das Sprechen ist ihm wichtig, die richtigen Wörter finden. Hoch konzentriert drückt sich Martin Näf sehr präzise aus. Ein ähnliches Wort lässt er nicht zu. Wenn er ein bestimmtes Wort sagen will, so sucht er danach. Dass seine Familie und Freunde am Anfang geduldig gewartet und mitgeraten haben, bis er das richtige Wort gefunden hatte, war sehr ermutigend. «Ich habe immer alles verstanden, aber meine Antworten waren meistens falsch», erzählt Martin Näf rückblickend. Er habe sogar Ja und Nein verwechselt und unverständlich gestammelt. Jetzt fliesst seine Sprache wieder, zuweilen stockend. Fehlt ein Wort, geht er auf Entdeckungstour, sucht die Wort-Umgebung ab, sortiert die falschen Wörter aus, kreist das gesuchte Wort langsam ein, beharrlich auf seiner Fährte, bis es sich zeigt. Sprechen und gleichzeitig wahrnehmen, wer im Hintergrund durch den Raum geht, ist fast nicht mehr möglich. Was früher selbstverständlich war, geht nicht mehr. Um seine Arbeit wieder aufzunehmen, muss er sich verständigen können, und zwar auch auf französisch. «Französisch zu sprechen, das ist jetzt eben so schwierig wie wieder Deutsch zu lernen.»

Im Kongo warten seine Hilfsprojekte

In Kongo warten zwei Hilfsprojekte auf Unterstützung. Martin Näf ist Projektleiter, Kontaktperson, Netzwerker, Fundraiser und der blinde Mann, der die Menschen in Kongo ansteckt mit seinem Engagement. Letztes Jahr ist er nach fünf Jahren Pause erstmals wieder nach Afrika geflogen – allein, da niemand Zeit hatte, ihn zu begleiten. Seine Kongolesischen Freunde haben auf ihn gewartet und keinen Aufwand gescheut, um ihn abzuholen. Kann man allein nach Afrika fliegen, wenn man im Rollstuhl sitzt und nichts sieht? «Ich hab’s geschafft», sagt Martin Näf trocken. Reisen kann er immer noch und lässt es sich auch nicht nehmen. Er musste zuletzt aus dem Flugzeug getragen werden, weil in Burundi kein extraschmaler Rollstuhl zur Verfügung stand. «Aber ich bin noch am Leben, und ich habe das Recht wie alle andern zu Fliegen ...». Was diese Überzeugung anbelangt, ist Martin Näf kein Anderer geworden.

 

Kongolesische Schule: soll für alle zugänglich werden