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Paul Geheeb und die Pädagogik der Landerziehungsheime

Paul Geheeb (1870 - 1961) von Martin Näf, Seite 89 ff. Herausgegeben von Heinz-Elmar Tenorth, „Klassiker der Pädagogik", Zweiter Band: Von John Dewey bis Paulo Freire, Verlag C. H. Beck oHG, München 2003

Leben

Paul Geheeb wurde am 10. 10. 1870 in Geisa, einem kleinen Städtchen im Westen Thüringens geboren. Er besuchte die Gymnasien in Fulda und Eisenach. Nach einem Militärjahr in Giessen studierte er in Berlin und Jena, wo er im April 1893 das erste Staatsexamen als evangelischer Theologe ablegte. Danach wandte er sich medizinischen, psychologischen, pädagogischen und philologischen Fächern zu und schloss sein Studium nach weiteren abwechselnd in Jena und Berlin zugebrachten 12 Semestern 1899 mit dem Oberlehrerexamen ab. Von April 1893 bis Juni 1894 arbeitete er zusätzlich als Lehrer und Erzieher in Johannes Trüpers "Anstalt für psychopathische Kinder" auf der Sophienhöhe bei Jena und betreute danach für weitere anderthalb Jahre einen epilepsiekranken Jungen. Während seines Studiums engagierte er sich im Kampf gegen den Missbrauch alkoholischer Getränke; er verkehrte in der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur und im Kreise Moritz von Egidys. Für einen Mann seiner Generation besonders auffallend war Geheebs starkes Interesse für die Anliegen der Frauenbewegung, mit der er auf Grund seiner Freundschaft zu Minna Cauer, Anita Augspurg, Lily von Braun u. a. während der 1890er Jahre auch persönlich eng verbunden war.

1892 befreundete Geheeb sich mit Hermann Lietz (1868-1919), der nach einer gründlichen pädagogischen Ausbildung bei Wilhelm Rein in Jena und einigen Schulerfahrungen (u.a. einem Jahr an Cecil Reddies 1889 gegründeten New School of Abbotsholme) 1898 das erste "deutsche Landerziehungsheim" in Ilsenburg am Harz eröffnete. Obschon Lietz Geheeb gerne in Ilsenburg gehabt hätte, nahm dieser 1899 zunächst eine Stelle als Lehrer im neu eröffneten Sanatorium des Dr. Carl Gmelin in Wyk auf Föhr an. 1902 folgte er schliesslich dem Drängen seines Freundes Lietz und ging als Lehrer nach Haubinda, Lietzens zweiter Schulgründung aus dem Jahre 1901. Nach der Gründung eines dritten Landerziehungsheimes in Schloss Bieberstein bei Fulda übernahm Geheeb 1904 die Leitung von Haubinda, trennte sich jedoch im Juni 1906 im Streit von Lietz und eröffnete im September desselben Jahres zusammen mit Gustav Wyneken, Martin Luserke und einigen weiteren Mitarbeitern und Schülern von Haubinda die in der Nähe von Saalfeld, Thüringen, gelegene "freie Schulgemeinde Wickersdorf". Im Februar 1909 verliess Geheeb die FSG Wickersdorf, da er mit seinem intellektuell viel stärkeren Mitdirektor Wyneken nicht zurecht kam. Im April desselben Jahres heiratete er Edith Cassirer (1885-1982), die er als Praktikantin in Wickersdorf kennen gelernt hatte, und 1910 eröffnete er, finanziell in grosszügigster Weise unterstützt durch seinen Schwiegervater, den Charlottenburger Kommunalpolitiker und Industriellen Max Cassirer die Odenwaldschule in Oberhambach, nähe Heppenheim, die während der Weimarer Republik zu den auch international bekanntesten Reformschulen Deutschlands gehörte.

Nach verschiedenen Konflikten mit den Nazis zogen Paul und Edith Geheeb im April 1934 mit zwei oder drei MitarbeiterInnen und zwei Dutzend SchülerInnen in die Schweiz, wo sie ihre Arbeit zunächst als Gäste eines quasi bankrotten, in der Nähe Genfs gelegenen Instituts fortsetzten. Die neue Schule sollte, in bewusstem Gegensatz zur Tendenz der Zeit, im kleinen die friedliche Kooperation aller Nationen und Kulturen vorwegnehmen, indem sie als "Schule der Menschheit" (Ecole d'Humanité) Kinder aus der ganzen Welt aufnahm.

Nach anfänglichen Erfolgen wurde es ab 1936/37 immer schwieriger, die Schule, die jetzt zum grossen Teil von jüdischen und halbjüdischen Kindern aus Deutschland und von Kindern emigrierter Deutscher besucht wurde, materiell über Wasser zu halten. Einerseits waren immer mehr Eltern auf grosszügige Schulgeldreduktionen angewiesen, andererseits wurde es immer schwieriger, Gelder vom Ausland in die Schweiz zu überweisen. Geheebs Vision einer alle Kulturgemeinschaften der Erde umfassenden grossen Schule blieb vorerst ein Traum.

Nach zwei unfreiwilligen Ortswechseln liessen sich die Geheebs im Oktober 1939 mit den Resten ihrer mittlerweile ganz verarmten Schule in einem kleinen Dörfchen in den Fribourger Alpen nieder, wo sie den Krieg in äusserst beengten Verhältnissen überstanden. Nachdem die Schülerzahl von rund 60 im Jahr 1936 auf 20 im Jahr 1940 und auf 7 im Jahr 1941 zurückgegangen war begannen die Geheebs im Herbst 1942 mit der Aufnahme von Flüchtlingskindern aus dem kriegsversehrten Europa. In der Hoffnung sein Projekt einer "Schule der Menschheit" schliesslich doch noch in grossem Masstab verwirklichen zu können zogen die Geheebs 1946 erneut um. Sie liessen sich in Hasliberg-Goldern im Berner Oberland, dem heutigen Standort der "Ecole d'Humanité", nieder, wo Geheeb nach verschiedenen Ehrungen am 1. 5. 1961 starb.[1]

Das Werk

Die Bewegung der deutschen Landerziehungsheime oder der New Schools bzw. Ecoles Nouvelles à la Campagne, wie dieselbe Bewegung im englischen und französischen Sprachraum hiess, war ein Teil der kulturkritischen und lebensreformerischen Protestbewegungen, mit denen das ausgehende 19. Jahrhundert in Europa und den USA auf die Industrialisierung und die diese begleitenden gesellschaftlichen Veränderungen reagierte. Die Landerziehungsheimbewegung wollte die diagnostizierte Krise "vermittelst einer von Grund aus neuen Erziehung" (Geheeb 1930) auffangen und bearbeiten.

Zentrale Idee dieser "neuen Erziehung" war der Rückzug auf das Land und das Leben im Rahmen einer von allen mitgestalteten und mitgetragenen Erziehungsgemeinschaft von jung und alt. Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes kann man von einer Pädagogik der Landerziehungsheime im Grunde allerdings ebenso wenig sprechen, wie von einer einheitlichen Reformpädagogik: Während körperliche Leistungen – lange Radtouren oder Arbeiten in Wald und Feld – bei Hermann Lietz eine grosse Rolle spielten, legten der weichere Geheeb, Martin Luserke, Max Bondy und andere Landerziehungsheimgründer beispielsweise mehr Gewicht auf musische und handwerkliche Aktivitäten und auf ein eher kontemplatives Verhältnis zur Natur. Ähnliche, mehr oder weniger grosse Unterschiede gab es auch im Bereich der Schülermitbestimmung und der Unterrichtsorganisation oder in der damals besonders brisanten Frage der Koedukation.

Koedukation

Hier war Geheeb vielleicht mehr als in jedem anderen Bereich Pionier, denn Die Odenwaldschule war die erste koedukative (Internats)-Schule Deutschlands, die diesen Namen wirklich verdient hatte, und noch in den 1920er Jahren war die Koedukation in deutschen und ausländischen Landerziehungsheimkreisen alles andere als selbstverständlich. Geheeb galt bis zur Machtergreifung der Nazis als einer der profiliertesten Experten in dieser Angelegenheit.[2] Geheeb war überzeugt davon, dass sich die gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen nicht nur positiv auf deren individuelle Entwicklung und deren späteres Verhältnis zu einander auswirke. Er sah in der Koedukation auch ein wichtiges Mittel zur "Überwindung der einseitigen Männerkultur"[3] -, ja im Grunde lag für ihn gerade hier die eigentliche Bedeutung der Koedukation.

Kurssystem

Die unter der Federführung Otto Erdmanns, eines jungen Mitarbeiters der Schule, während der ersten 3 Jahre ihres Bestehens entwickelte, 1914 erstmals öffentlich vorgestellte besondere Arbeitsorganisation der Odenwaldschule[4] war ein zweiter Grund für das grosse Interesse, auf welches Geheebs Arbeit bei in- und ausländischen Fachleuten schon bald nach Eröffnung der Schule stiess. Nach einer Zeit ziemlich wilder Experimente mit verschiedenartigen Strukturen hatte man sich entschlossen, die herkömmlichen Jahrgangsklassen durch ein flexibles System frei wählbarer Kurse zu ersetzen: Von Erwachsenen beraten wählten sich die Kinder (mit Ausnahme der Kleinsten) jeweils zwei oder drei Kurse, die sie während eines Kursmonats oder einer Kursperiode jeden Vormittag besuchten. Am Ende jedes Kursmonats wurde im Rahmen einer "Kursschlussschulgemeinde" über die Arbeit in den verschiedenen Kursen berichtet. Danach wählte man neu, wobei ein Kurs gelegentlich auch über zwei oder mehr Kursmonate fortgesetzt werden konnte. Die Zensuren wurden durch schriftliche Kursberichte und durch periodische Gespräche über die eigenen Leistungen, das Klima in einem Kurs u. ä. ersetzt. Die Nachmittage – das war ein integraler Bestandteil der neuen Struktur– waren handwerklichen und musischen Aktivitäten und eigenen Projekten vorbehalten, um auf diese Weise, wie Geheeb in seinem ersten Schulprospekt schrieb, "der bedenklichsten unserer Zeitkrankheiten , dem einseitigen Intellektualismus und der damit zusammenhängenden unethischen Überschätzung der Technik" entgegen zu wirken. (Geheeb 1911) –Auch in diesem Bereich ging man in der Odenwaldschule weiter als in den meisten Reformschulen jener Jahre, einschliesslich der Lietzschen Landerziehungsheime und der bunten Schar ihrer Nachfolger. [5]

Schulgemeinde

Bekannt wurde die Odenwaldschule schliesslich durch Geheebs Stil im Umgang mit der "Schulgemeinde". Die "Schulgemeinde", d.h. die alle ein bis drei Wochen stattfindende Versammlung der gesamten Schule – zu Beginn der 1930er Jahre immerhin beinahe 200 Kinder und Jugendliche und rund 100 Erwachsene – war für Geheeb das eigentliche Herz seiner Schule. In diesen Versammlungen wurde über grosse und kleine Vorkommnisse informiert und diskutiert, hier wurden grundsätzliche mit der Schule oder der Welt draussen zusammenhängende Fragen gewälzt und Beschlüsse gefasst oder umgestossen. Diese Versammlung war im Grunde die einzige Struktur, die Geheeb seiner Schule 1910 als Motor und lebendige Mitte mit auf ihren Weg gegeben hatte. Alle anderen Einrichtungen waren sekundär und standen im Prinzip jeder Zeit zur Disposition. So wie für jeden seiner Schüler galt auch für die Schule als ganzes der von Geheeb dauernd Wiederholte Satz Pindars: "Werde der Du bist!" Auch die Schule sollte sich andauernd entwickeln und zwar nicht zu dem, was Geheeb wollte, sondern zu dem, was in ihr zu jedem gegebenen Moment möglich und lebendig war. "tatsächlich unterziehen wir die mannigfaltigen Formen, in denen die Gemeinschaft zu realem Ausdruck und Auswirken gelangt", so Geheeb dazu 1924, "immer und immer wieder einer Revision aus dem Gesichtspunkte jener obersten Maxime, so dass die Formen und Einrichtungen des sozialen Lebens unserer Gemeinschaft in ständigem Flusse begriffen sind (...)." (Geheeb 1924 S. 97) – Natürlich hatte Geheebs Offenheit seiner Schule gegenüber und auch die Offenheit gegenüber den einzelnen, ihm anvertrauten Kindern ihre Grenzen, auch wenn er dies nicht wahrhaben wollte: Es gab gewissermassen einen "heimlichen Lehrplan" des scheinbar ganz freien "Werde der Du bist". Doch waren diese Grenzen bei Geheeb in der Regel so weit und seine Toleranz so gross, dass die meisten Menschen, welche als aussenstehende Fachleute, als Eltern, als Schüler oder Mitarbeiter mit ihm und seiner Schule zu tun hatten, von der in seiner Umgebung bestehenden Atmosphäre des Vertrauens so beeindruckt waren, dass dieser im Grunde selbstverständliche, bei allen "freien Schulen" gleichermassen zutreffende Einwand für sie bedeutungslos war.[6]

Wirkung und Aktualität

Fachleute wie Adolphe Ferrière oder Peter Petersen, der Begründer der Jenaplan-Pädagogik, bezeichneten die Odenwaldschule in den 1920er Jahren als geglückteste Ausprägung des Typus des deutschen Landerziehungsheims.

Die konsequent und gegen massive Widerstände durchgeführte Koedukation,die durch das Kurssystem ermöglichte Übernahme der Verantwortung für das eigene Lernen,die offene Handhabung der Schülermitbestimmung im Rahmen der Schulgemeinde und anderer Gremien sowieGeheebs all diesen Einrichtungen zu Grunde liegendes Vertrauen auf den "gesunden Sinn" der Jugend, und der Ernst, mit dem er diese Jugend ernst nehme,

habe die Odenwaldschule, so stellte Herders Lexikon der Pädagogik 1930 fest, vielleicht zum "umfassendsten und kühnsten Schulversuch Deutschlands, ja vielleicht ganz Europas" gemacht. [7] - Schliesslich ist auch die Wertschätzung, welche Geheeb durch Eduard Spranger, Martin Buber, Ellen Key, Martin Wagenschein, Raymond Klibansky, Rabindranath Tagore, Kuniyoshi Obara, Beatrice Ensor, A. S. Neill und viele andere, der reformpädagogischen Bewegung seiner Zeit nahe stehende Menschen erfuhr, ein Beleg für die Ausstrahlung seiner Arbeit.[8]

Wenn wir anders als im Falle von Maria Montessori, Céléstin Freinet oder Rudolf Steiner heute auch nicht von einer Geheeb-Pädagogik sprechen können, so gibt es doch eine ganze Reihe von PädagogInnen, die durch Geheebs "Schule" gegangen sind und seine Grundsätze von dort an andere Orte getragen haben und tragen. Auch einzelne, direkt von Geheeb inspirierte Schulgründungen lassen sich nachweisen -, so insbesondere die 1937 durch zwei ehemalige Mitarbeiter der Geheebs gegründete Childrens Garden School in Madras, Indien. Dazu kommen natürlich die von Paul und Edith Geheeb selber gegründeten Schulen.

Die Odenwaldschule – während der Nazizeit als "Gemeinschaft der Odenwaldschule" von zwei Mitarbeitern Geheebs in eigener Regie weiter geführt – ist seit ihrer Wiedereröffnung 1946 zwar ganz bewusst eigene, neue Wege gegangen, hat jedoch – vor allem im Bereich der Oberstufenreform – vor allem in den 1950er und 1960er Jahren eine nicht unwesentliche Rolle auf bundesrepublikanischer ebene gespielt und setzt sich seit den 1970er Jahren wieder verstärkt mit den pädagogischen Grundsätzen ihres Gründers auseinander.[9] Anders die Ecole d'Humanité: Sie hat die wesentlichen Merkmale der Geheebschen Odenwaldschule bis heute praktisch unverändert beibehalten. Durch Ruth C. Cohn und ihre Methode der themenzentrierten Interaktion in den 1970er Jahren neu belebt gilt sie heute als eine der profiliertesten Alternativschulen der Schweiz, wobei vor allem das Kurssystem, die ausgeprägte Tradition der Schülerinnen-Mitverantwortung und die ungewöhnliche Interkulturalität der Schule auf unvermindert grosses Interesse stossen. [10]

So wichtig die im Rahmen der Odenwaldschule entwickelten schulorganisatorischen Einrichtungen sind: Ausschlaggebend für Geheeb war letztlich immer nur die pädagogische Idee, auf welcher seine Praxis beruhte, und in ihr liegt vielleicht letztlich auch seine eigentliche Bedeutung und seine grösste zukünftige Aktualität.

Geheeb plädierte in seinen Reden und seinen heute fast vergessenen Aufsätzen immer wieder für das, was wir heute wohl als Paradigmenwechsel in der Pädagogik bezeichnen würden, denn er glaubte nicht an die dem heutigen Bildungswesen zugrunde liegende Vorstellung, dass Bildung plan- und vermittelbar sei. durch diese von aussen an den Menschen herangetragene Erziehung würden die Menschen, so Geheeb 1930, "immer gleichartiger und langweiliger" und entwickelten sich "zu kümmerlichen Karikaturen dessen, was sie ihrer individuellen Bestimmung nach hätten werden sollen".[11]

"Ich würde am liebsten", so sagte er 1936, "die Ausdrücke "Erziehung" und "erziehen" überhaupt nicht mehr gebrauchen, sondern vorziehen, von menschlicher Entwicklung zu sprechen." Denn das, was am Vorgang der Erziehung "vernünftigerweise haltbar" sei, so Geheeb weiter, sei "der Entwicklungsprozess, in dem sich jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode - und hoffentlich weit darüber hinaus - befindet, der Prozess andauernder, zunächst unbewusster, allmählich bewusst werdender Auseinandersetzung, in der sich jedes Individuum mit seiner Umgebung, mit Menschen und Dingen, mit Natur und Kultur befindet, die empfangenen Eindrücke teils fruchtbar verarbeitend und als Bildungsstoffe zum Aufbau der eigenen Individualität assimilierend, teils aber ablehnend."[12] Der Erwachsene ist für Geheeb deshalb vor allem Freund und Berater, nicht "Lehrer" oder "Erzieher", und die eigentliche Aufgabe der "Erzieher" besteht für ihn darin, Lebensräume zu schaffen und zu erhalten, in denen die Heranwachsenden sich frei bewegen und entfalten können – lebendige Gemeinschaften, wie seine Schulen es sein wollten.

"Niemand wird kultiviert, sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren; Alles bloss leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil der Kultur. Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab", diese von Geheeb oft zitierten Worte Johann Gottlieb Fichtes sind wohl der prägnanteste Ausdruck für die "lernpsychologische Basis" der dem pädagogischen Normalbetrieb im Grunde diametral entgegengesetzten pädagogischen Position Geheebs.

Von "Abrüstung im Lager der Erwachsenen", von "Umkehr" und "Revolution" sprach Geheeb, wenn er sich grundsätzlich über das Verhältnis der modernen Gesellschaft zu ihren Kindern äusserte. Damit stand er DenkerInnen und PädagogInnen wie Ivan Illich, Rebecca und Mauricio Wild, Chelten Pearce Carl Rogers, Paolo Freyre oder Max Stirner und anderen pädagogischen Aussenseitern im Grunde viel näher als der Mehrheit seiner KollegInnen im Bereich der bürgerlichen Reformpädagogik oder der Landerziehungsheimbewegung. Auffallenderweise ist diese in seinen Reden und Aufsätzen an sich klar formulierte Radikalität von seiner Umgebung bis heute jedoch nie wahrgenommen worden. Die Allgemeinheit und das pädagogische Establishment, so könnte man Geheebs Rezeptionsgeschichte zusammenfassen, brauchte und missbrauchte Geheeb als harmlosen Reform-Pädagogen und guten Pragmatiker. Seine Kritik an der von uns im Namen von Bildung und Erziehung andauernd betriebenen Verstümmelung unserer "Kinder" und sein Aufruf zur Umkehr kamen dagegen, wie ein Blick in die zahlreichen seit den 1950er Jahren über Geheeb und seine Schulen erschienenen Veröffentlichungen zeigt, nicht an. Doch vielleicht liegt - wie erwähnt - gerade hier seine eigentliche Aktualität.

Literatur

Texte von Paul Geheeb, Auswahl [1]

Geheeb, P.: Rede zur Eröffnung der Odenwaldschule. Wieder abgedruckt u. a. in Dietrich (Hg.) 1967, 96-99

Geheeb, P.: Die Odenwaldschule (Prospekt, März 1910), 3. Auflage, Darmstadt 1911. Wiederabgedruckt in: Flitner, W./Kudritzki, G. (Hg.): Die Deutsche Reformpädagogik. Band I., Düsseldorf/München 1961, 88-93

Geheeb, P.: Koedukation als Lebensanschauung, in: Die Tat. 5 (1914) 1238-1249. Wieder abgedruckt in Cassirer (Hg.) 1960, 116-127

Geheeb, P.: Die Odenwaldschule. Ihre geistigen Grundlagen, in: Hilker, Franz (Hg.): Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, 91-101. Wieder abgedruckt in: Cassirer, (Hg.) 1960, 154-165

Geheeb, P.: Die Odenwaldschule im Lichte der Erziehungsaufgaben der Gegenwart. Vortrag in der Volkshochschule in Halle a.S. am 2. Juni 1930. Erstmals veröffentlicht 1930. Wieder abgedruckt in: Cassirer (Hg.) 1960, 131-154

Schäfer, Walter (Hg.): Paul Geheeb – Briefe, Stuttgart 1970

Bibliographie

Schwarz, Karl: Bibliographie der deutschen Landerziehungsheime, Stuttgart 1970

Sekundärliteratur

Badry, Elisabeth: Pädagogische Genialität in einer Erziehung zur Nicht-Anpassung und zum Engagement. Studien über Gründer der frühen deutschen Landerziehungsheimbewegung: Hermann Lietz und Gustav Wyneken, Bonn 1976

BAST, Roland: Kulturkritik und Erziehung. Anspruch und Grenzen der Reformpädagogik, Dortmund 1996

Cassirer, Eva u.a. (Hg.): Erziehung zur Humanität. Paul Geheeb zum 90. Geburtstag, Heidelberg 1960

Cohn, R./Terfurth, Chr. (Hg.): Lebendiges Lehren und Lernen. TZI macht Schule, Stuttgart 1993

Dietrich, Theo (Hg.): Die Landerziehungsheimbewegung. Klinkhardts pädagogische Quellentexte, Bad Heilbrunn 1967

Hansen-Schaberg, Inge: Minna Specht. Eine Sozialistin in der Landerziehungsheimbewegung 1918 bis 1951, Frankfurt a.M. 1992

Kamp, Johannes-Martin: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen, Opladen 1995

Keim, Wolfgang (Hrsg): Kursunterricht. Begründungen, Modelle, Erfahrungen, Darmstadt 1997

Konrad, Franz-Michael: Die Schulgemeinde: Ein reformpädagogisches Modell zur Förderung sozial-moralischen Lernens in Schule und Jugendfürsorge, in: Pädagogisches Forum (1995), 181-193

Näf, Martin: Die Ecole d'Humanité in Goldern. Der Neubeginn Geheebs, in: Röhrs, H. (Hg.): Die Schulen der Reformpädagogik heute, Düsseldorf 1986, 101-112 ff

Näf, Martin: Paul Geheeb. Seine Entwicklung bis zur Gründung der Odenwaldschule, Weinheim u.a. 1998 (Band II. (Die Jahre 1910 bis 1961) in Vorbereitung)

Osterwalder, Fritz: Demokratie in den Konzepten der deutschen Reformpädagogik, in: Böhm, W./Oelkers, J. (Hg.): Reformpädagogik kontrovers, Würzburg 1995, 139-174

Petersen, Peter: Die neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926

Röhrs, Hermann (Hg.): Die Schulen der Reformpädagogik heute. Handbuch reformpädagogischer Schulideen und Schulwirklichkeit, Düsseldorf 1986

Schäfer, Walter: Erziehung im Ernstfall. Die Odenwaldschule 1946-1972. Frankfurt a.M. 1979

Schäfer, Walter: Paul Geheeb. Mensch und Erzieher. H.4 der Reihe "Aus den Deutschen Landerziehungsheimen". Klett Verlag, Stuttgart o.J. (1960)

SCHEIBE, Wolfgang, Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine einführende Darstellung. Mit einem Nachwort von Heinz- Elmar TENORTH. 10., erweiterte Auflage, Weinheim 1994.

schwert, Ulrich: Landerziehungsheimbewegung, in: Handbuch deutscher Reformbewegungen 1880 bis 1933, Wuppertal 1998, 395-409

Shirley, Dennis: The politics of progressive education. The Odenwaldschule in Nazi Germany. Harvard University Press, Cambridge Mass. 1992

Wagenschein, Martin: Erinnerungen für Morgen, Weinheim/Basel 1983

Anmerkungen

[1] Die heute vollständigste Bibliographie der Veröffentlichungen Geheebs findet sich in Näf 1998 445-448

[1] Zu Leben und Werk von P. und E. Geheeb vgl. neben den im Literaturverzeichnis angegebenen Titeln auch die Web-Angebote der Odenwaldschule und der Ecole d'Humanité (WWW.ODENWALDSCHULE.DE und WWW.ECOLE.CH).

[2] Vgl. dazu u.a. KRAUL, Margret: Jungen und Mädchen in einer Klasse - der Weg zur Koedukation, in: GLUMPER , E. (Hg.): Koedukation. Entwicklungen und Perspektiven, Bad Heilbrunn 1994, 31-48; HANSEN-SCHABERG, Inge: Die pädagogische Reformbewegung und ihr Umgang mit der Koedukation, in: KLEINAU, E./OPITZ, C. (Hg.): Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung in Deutschland, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1996, 219-229, sowie HORSTKEMPER, Marianne: Die Koedukationsdebatte um die Jahrhundertwende, ebenda S. 203-218.

[3] Geheeb 1914 in: Cassirer (Hg.) 1960 122

[4] Erdmann, O.: Die Arbeitsorganisation der Odenwaldschulen, in: Die Tat 5 (1914), 1284-1288. Wiederabgedruckt in Dietrich (Hg.) 1967, 99-105 und Keim (Hg.) 1997, 151-159

[5] Vgl. dazu besonders Keim 1997

[6] Vgl. dazu u.a. Kamp 1995, Osterwalder 1995, Konrad 1995

[7] Zitiert nach Schäfer 1960, 23

[8] Vgl. dazu u.a. die zahlreichen Grussadressen und Würdigungen in Cassirer u.a. (hg.) 1960, sowie Wagenschein 1983

[9] Vgl. dazu Schäfer 1979 sowie Röhrs (hg.) 1986, S. 87-99

[10] Vgl. dazu Näf, M. (hg.): Alternative Schulformen in der Schweiz. Zürich 1988, besonders S. 36-50, sowie Cohn/Terfurth (Hg.) 1993 und Groeben 2001

[11] Geheeb 1930 in: Cassirer (Hg.) 1960, 134

[12]Geheeb, P.: Leben und Arbeiten mit Kindern. Vortrag in Utrecht, 18. April 1936 anlässlich der Konferenz der holländischen Sektion der New Education Fellowship zum Thema "Wie lernen wir zusammenleben?", Privatdruck 1936, 7