Querköpfe und Rebellen sind gefragt. Blindheit als produktive Herausforderung
Dass Blindheit noch immer so oft und so selbstverständlich mit Dunkelheit in Verbindung gebracht wird, hat wohl nicht zuletzt auch damit zu tun, dass wir uns in unserer europäisch-abendländischen Kultur bis heute ziemlich erfolgreich um die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Blindheit gedrückt haben, indem wir die betroffenen Personen aus der Gesellschaft ausschlossen, blind geborene Kinder aussetzten oder ersäuften, indem wir erblindete Erwachsene vor die Tore der Stadt jagten und sie als minder- oder höherwertige, jedenfalls aber andersartige Menschen verachteten oder verehrten -, beides noch immer benützte Wege, sich die real existierenden Blinden mit ihren Gedanken, Fragen und Wahrnehmungen vom Leibe zu halten.
Heute existiert in der Schweiz eine grosse staatliche Einrichtung, die dafür sorgt, dass die In-Validen, d.h. die Wertlosen bzw. die Schwachen oder Kranken nicht mehr auf den Strassen herumlungern und betteln. Die Strassen sind sauber; die äussere Not der Wertlosen ist nach innen gekehrt. Die, die noch zu brauchen sind, sitzen in irgendeinem Büro, froh, wenigstens tagsüber dazuzugehören, und die andern trösten sich in den gut geheizten Ghettos so gut es geht über ihre geistig-seelische Isolation hinweg ...
Einen wirklichen, breit angelegten wissenschaftlich-philosophischen Dialog, in dem auch der Wert der Wertlosen, die Blindheit der "Sehenden", das Sehen der Blinden, die Dummheit der Gescheiten oder der Wahnsinn der Vernünftigen thematisiert wird, gibt es in unserer Kultur genauso wenig wie eine starke, selbstbewusste Emanzipationsbewegung der Behinderten. Noch stehen sie - stehen wir - als Bettler vor der Tür; nur wenige bewegen sich frei im Haus der Normalität. Aber es brodelt im Haufen der Wertlosen und auch ausserhalb des Heeres der Randgruppen wachsen die Zweifel an der Rationalität der Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster, aus denen das Gebäude westlicher Normalität gezimmert ist.
Die Sprache ist, was das Ausrotten und das Aus- und Einsperren der "Behinderten" angeht, in den letzten Jahren zwar etwas zurückhaltender und politisch "korekter" geworden, was vielleicht auch ein Zeichen tatsächlicher Annäherung ist -, aber ein tieferes Gefühl dafür, welche Bereicherung unsere Kultur durch ihre diversen Randgruppen erfährt oder erfahren könnte, ist noch immer ziemlich selten.
Wir sind zu beschäftigt und physisch und psychisch zu gestresst als dass wir uns wirklich auf die Lebenserfahrungen, die Wahrnehmungen und Gedanken all dieser Varianten des Normalen einlassen können, die heute unsere Aufmerksamkeit möchten - die Ausländer, die Drögeler, die Behinderten, die Schwulen, die Kinder, die Alten. Sie hätten uns vielleicht alle etwas zu sagen -, aber haben wir die innere und die äussere Ruhe zu hören? Nein. Soyons Realists: Abweichungen von der Norm sind anstrengend. Sie kosten Zeit. Sie behindern den normalen Lauf der Dinge! Solange sie sich mit etwas Mitleid, etwas Bewunderung, etwas "Du bist ein Mensch wie alle anderen"-Schmus und ein wenig Geld abspeisen lassen, solange werden wir diesen Weg weitergehen. - Mögen irgendwelche Sozialromantiker von dem Beitrag der "Alten" oder der "Behinderten" zum sozialen und geistigen Gleichgewicht unserer Gesellschaft faseln und dem "Eigenwert des Blindseins" nachsinnen -, wir stehen im Kampf gegen die japanische Konkurenz, gegen den Chinesen und den Amerikaner! Da bleibt keine Zeit zum Träumen ...
So gesehen lebe ich als blinder Mensch also tatsächlich in einer ziemlich dunkeln, wenig erforschten Ecke unseres Bewusstseins.
Natürlich wird es immer einen Begriff des "Normalen" geben, der vielen Ansprüchen gegenüber ausgesprochen unsensibel und tyrannisch ist - dies muss fast so sein, solange wir in einigermassen "geordneten" Verhältnissen leben und leben wollen. Eine zu schnelle und gründliche Auflösung von überlieferten Denk- und Verhaltensgewohnheiten ist jedoch ebenso gefährlich wie ein zu starrer Begriff von dem, was als normal gilt. Zur langfristigen Lebensfähigkeit einer Gesellschaft gehört des deshalb auch, immer wieder über die Frage nachzudenken, wie "normal" und "vernünftig", wie "sinn-voll" und "not-wendig" das ist, was uns immer wieder als normal und vernünftig, sinn-voll und notwendend vorgeführt wird.
"Behinderte" Menschen haben aufgrund ihrer andersartigen Wahrnehmungs- und Lebensweise in gewissem Sinne eine besonders günstige Ausgangslage, wenn es um diese Art des kritischen Blicks geht, denn sie werden aufgrund ihres Anderseins öfter und offensichtlicher mit dem Thema der Normalität konfrontiert als Menschen, welche der landläufigen Vorstellung des Normalen eher entsprechen oder entsprechen können. Das zumindest ist eine von manchen Denkern und Aktivistinnen einer geistig-sozialen Behindertenemanzipation immer wieder geäusserte Hoffnung, und ich würde sagen, für mich stimmt das. Meine verschiedenen Abnormalitäten erweisen sich da als ständige und meist sehr produktive Herausforderung! . Nur: Ein Automatismus ist dies nicht. Das Bedürfnis, "normal" zu sein und die Angst davor, nicht dazuzugehören, als abnormal zurückgewiesen zu werden kann gerade bei Menschen, die mit einer auffallenden Andersartigkeit leben müssen, auch zu einer ebenso ausgeprägten Überangepasstheit führen -, ja oft treten beide Tendenzen zugleich auf. - Die lage ist also auch hier kompliziert -, zu kompliziert, um sie im Monolog befriedigend abzuhandeln. Je länger ich es versuche, desto mehr Fragen und Unstimmigkeiten tuen sich auf! - "Die Wahrheit ist ein pfadloses Land", sagte Krishnamurti, und ich füge eigenmächtig hinzu: "Wir können uns zwar von den Bergen und Tälern, den Schluchten und Klippen erzählen, die wir auf unseren Wanderungen durch dieses Land entdecken, doch alle Karten, die wir von ihm anzufertigen versuchen, bleiben letztlich immer Stückwerk -, nutzloser und unzuverlässiger als das scheinbar so unvollkommene, sich ständig verändernde Netz von Fragen und Einsichten, das entsteht, wenn wir uns in immer neuen Gesprächen über unsere Erkundungsgänge und Entdeckungen im Lande der Wahrheit unterhalten."
Copy 2000, Martin Näf