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Rundbrief 6: Die Post, Tagore und andere indische Impressionen. - Bodhgaya Indien, 18./20. 2. 2005

An der Decke kreist ein Ventilator, etwas, was ich vor zwei Wochen noch als unnoetigen Luxus empfand. Mittlerweile habe ich mich sogar bereits daran gewoehnt, mit dem Flattern des Ventilators einzuschlafen. Dieser sorgt nicht nur fuer ein angenehmes Lueftchen im heissen Gemach. Er unterbindet auch die Luftangriffe der Moskitos, deren Zahl waehrend der letzten zehn, zwoelf Tage ebenfalls deutlich angestiegen ist. Dass man irgendwo auf dieser Erde auch kalt haben koennte, kann man sich hier mittlerweile kaum mehr vorstellen. Doch genug des Vorgeplaenkels!

Ueber die Kunst, ein Paket aufzugeben

In meinem letzten Brief sind wir bis zur Krishnamurtischule in Varanasi vorgestosen. Das war vor 5 Wochen, am 14. Januar. Vicky und ich blieben danach noch eine Nacht in der beruehmten, von mir nicht sehr geliebten Stadt am Ganges. Den Samstag verbrachten wir mit Geldwechseln, mit dem Organisieren eines Eisenbahnbillets und mit dem Abschicken eines Paketes. Dies klingt nach wenig, aber in Indien, WO VIELES ETWAS ANDERS IST ALS BEI UNS, kann dies bereits ein Tagesprogramm sein

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Mit dem Paket geht man beispielsweise nicht einfach zur Post. Man geht vielmehr zuerst einmal zum Schneider. Der vermisst die zu versendende Ware, schneidet ein Stueck Stoff zu und naeht dann alles in diesn ein. Packpapier oder Kartonschachteln sind hier (vielleicht wegen der grossen Luftfeuchtigkeit waehrend der Monsunzeit) unueblich. Wenn nichts dazwischen kommt kann das ganz flott gehen, doch irgend etwas kommt fast immer dazwischen. In unserem Falle dauerte es zwei Stunden, bis wir unser Paket in Haenden hielten, denn da am Tag vorher das Fest des Drachenfliegns war, waren nur wenige Geschaefte geoeffnet, und erst der dritte oder vierte Schneider erbarmte sich unser. Die anderen wollten so frueh am Morgen kein Paket naehen. Nun, ein wenig Warten und Tetrinken gehoert immer dazu, und das dreijaehrige Maedchen des Schneiders tat ihr bestes, mich bei Laune zu halten. Schlieslich war es so weit, und wir konnten zur Post. Aber Achtung: Pakete ins Ausland werden in Varanasi beispielsweise nur von der Hauptpost entgegengenommen. Auf die Frage, wie wir am besten zur Hauptpost kommen, ENTSPANN sich eine angeregte Diskusion zwischen dem Schneider, einigen Passanten und den Besitzern der benachbarten Shops. So genau scheint man nicht zu wissen, wo diese Post ist, 1 km entfernt meinen die einen, die andern sagen 2 oder 4 km. Auch in Bezug auf die Himmelsrichtung bestehen (oft in ein und demselben Kopf) verschiedene Theorien. Schliesslich beraten wir uns mit dem Fahrer einer Bicycle/Riksha, der offenbar Bescheid weis und bereit ist, uns fuer 20 oder 30 Rupien an den gewuenschten Ort zu bringen. Die Fahrt dauert fast 30 Minuten - viel Getute und Gewusel von Kuehen, Fussgaengern, Lastwagen, Autorikshas und allem, was Indien in Sachen Verkehrsmittel zu bietn hat.

Um halb zwoelf sind wir bei der Post. Wir finden auch einen Eingang, werden aber sofort wieder hinausgeschickt, da dies erstens nicht der richtige Eingang und unser Paket zweitens nicht ordnungsgemaes versiegelt ist. Wir muessen also zunaechst auf die andere Seite des Platzes, wo ein freundlicher Mensch vor einr KLEINEN Bretterbude - OFFENBAR einer Art Aussenstation der Post - sitzt. Er empfaengt uns wuerdevoll und tropft nach einigem Hin und her die Naht unseres Paketes mit Siegelwachs zu. Danach drueckt er uns noch einen Filzstift in die Hand, damit wir das Paket adressieren koennen. Dann geht's zurueck zur Post.

Diesmal versuchen wir's mit einem anderen Eingang. Viele Menschen, viele Schalter. Jemand zeigt Vicky und mir wo wir uns anzustellen haben. Als er merkt, dass wir noch immer nicht recht wissen, was es jetzt zu tun gilt, holt er - Postbeamte, freundlicher Kunde oder Bakschischjaeger - von irgendwoher zwei oder drei Zollformulare und beginnt diese mit unserer Hilfe auszufuellen. Waehrend wir damit beschaeftigt sind wird unser Paket gewogen und der Preis wird bestimmt. Danach muessen nur noch die Marken draufgeklebt und das ganze bezahlt werden, was hoechstens zehn Minuten dauert, falls nicht gerade die Mittagspause beginnt oder der Leim fuer die Marken verschwunden oder eingetrocknet ist. Was dies angeht, hatten wir Glueck. Um eins waren wir fertig, und der Rikshafahrer, der eine gute Stunde auf uns gewartet hatte –"no problem, uncleji,no problem" -, brachte uns zurueck zu unserm Guest House, wo ich die naechste Aktion (Einloesen von Travellor Checks) vorbereitete... Wie gesagt, scheinbar einfache Dinge koennen hier sehr lange dauern.

Kolkata, Vicky, Sexualitaet und Respekt vor dem Alter

Am Abend des 15. Januar verliessen wir Varanasi. Wir fuhren mit dem Nachtzug nach Kolkata, wo wir - mit vier oder fuenf Stunden Verspaetung - am kommenden Nachmittag ankamen. Kolkata ist riesig, und da man dort kein Hindi, sondern Bengali spricht, war diese Stadt auch fuer Vicky kein Heimspiel. Als Provinzler mit ziemlich begrenzter Schulbildung weis er eigentlich auch nichts ueber Kolkata. Ob ein Stadtteil alt oder neu ist, ob ein Gebaeude noch aus britischer Zeit stammt oder nicht, was in Kolkata kulturell und politisch los ist etc. das sind Dinge, ueber die er aufgrund mangelnder Erfahrung und mangelnden Wissens nichts sagen kann; es sind Dinge, die ihn bisher auch noch nie interessiert haben. Insofern sind seine Faehigkeiten als Reisefuehrer also klaeglich. Sonst aber ist er ein unterhaltsamer, faszinierender und ausgesprochen angenehmer Begleiter und Helfer. Nicht nur, das er mir viel ueber den Alltag in Indien erzaehlt. Er ist auch unglaublich geduldig und in einr Weise aufmerksam und anhaenglich, wie ich es in unseren Breitn eigentlich nur bei Kindern erlebe.

Vickys Art mich zu fuehren widerspricht allen Regeln der Kunst. Er nimmt mich manchmal an der Hand, manchmal legt er mir einen Arm um die Schultern oder er fasst mich mit beiden Haenden um meine Hueften um mich zwischen irgendwelchen parkierten Rikshas durchzuschleusen. Es geschieht alles mit viel Humor und Leichtigkeit und bewaehrt sich auch im groessten Chaos wunderbar. Seine ungenierte Anhaenglichkeit und Zaertlichkeit hat mich anfaenglich ziemlich verwirrt. Vor allem waehrend der ersten Tage unserer Reise sucht er immer wieder meine Naehe. Im Zug lehnt er sich an mich, um ein wenig zu schlafen, oder er nimmt meine Hand, streichelt sie oder faengt an, meine Finger zu massieren. Wenn ich mir bei einem Strassenverkaeufer etwas ansehe oder stehen bleibe, um mit jemandem zu reden, haengt er sich mir von hinten um den Hals wie es bei uns allenfalls noch 10 oder 12-jaehrige tun wuerden.

Anfaenglich hat mich dieses Verhalten wie gesagt ziemlich verwirrt. Er ist immerhin 21 und - naja - ich bin fuerseinen Charme nicht unempfaenglich. Mittlerweile habe ich mir jedoch sagen lassen (und es auch an anderen erlebt), das Vickys Verhalten und seine zutraulich kindliche Art typisch fuer viele junge Inder sei. Er lebt, was seine Sexualitaet (und Sexualitaet im Allgemeinen) angeht in einem Zustand naiver Unbewusstheit -, vielleicht so wie es bei jungen Maennern in der Schweiz oder in Deutschland vor 50 oder 100 Jahren der Fall war. Sexualitaet ist im Indien der einfachen Leute auserhalb der Ehe bis jetzt zumindest offiziell nicht zu haben. Die Frage, was die 15, 20 und 25-jaherigen Maenner (und Frauen) mit ihren sexuellen Beduerfnissen machen wird auch unter guten Freunden kaum je offen diskutiert. Wenn das Thema in der Oeffentlichkeit auftaucht, dann in mehr oder weniger ueberhoehter Weise im Rahmen eines Liebesfilmes oder als medizinisches oder soziales Problem.

Indien und Pakistan sind Gesellschaften, in denen es keine breitenwirksame Aufklaerung, keine Wandervogel- und Jugendbewegung, keine 68er-Bewegung und keine sexuelle Revolution gegeben hat. Dazu passt, dass Vicky mich bei aller Sympathie und Freundschaftlichkeit nach wie vor "uncle" nennt. Mich "Martin" zu nennen ist fuer ihn unvorstellbar. Als aelterer Mensch stehe ich fuer ihn gefuehlsmaesig immer ueber ihm.

Dem Lehrer wird hier ebenso wenig widersprochen wie dem Vater oder dem Onkel. Man kann sich allenfalls entziehn, etwas schweigsam werden oder zu spaet kommen, aber sich offen aufzulehnen oder ein Problem als Konflikt mit dem hoehr gestellten anzugehn, ist etwas, was den meisten Menschen hier als eine Art Ursuende gilt. So etwas tut man als jüngerer Mensch einfach nicht. Was mir als Unterwuerfigkeit erscheint ist fuer die Mehrheit der Inder gutes Benehmen. Umgekehrt kann ich mir einem jungen Menschen gegenuebr so ziemlich alles leisten, ohne mich dafuer entschuldigen oder irgend eine Erklaerung abgeben zu muessen. Im Gegnteil: Als ich mich kuerzlich bei Vicky fuer meine schlechte Laune vom Tag zuvor entschuldigte, war ihm dies sichtlich peinlich. Er blockte ab und erklaerte, "big people don't do this in India. This is not good style ...". Daraufhin versuchte ich ihm verstaendlich zu machen, das mein Verhalten in Europa "good style" sei, weil man sich dort im Prinzip als gleich zu behandeln versucht, egal ob es um das Verhaeltnis von jung und alt, von Maennern und Frauen oder von Schuelern und Lehrern gehe. Er sagte zwar wieder einmal mit gespieltem Entsetzen "o no", wie so oft, wenn wir auf irgend eine Differenz zwischen Europa und Indien stossen, doch zugleich hob er fuer einen Moment den Kopf, und ich hatte den Eindruck, dass er mich echt ueberrascht, aber doch voll Neugier, anblickte. So lernen wir beide voneinander - einfache Dinge wie den richtigen Gebrauch der Finger beim Essen und grosse Dinge wie die Frage nach dem Wesen echten Respektes und dem, was wir als juengere oder aeltere Menschen tun und nicht tun sollten.

Belur Math

Die Hauptunternehmung waehrend unserer drei Tage in Kolkata war der Besuch von Belur Math, dem organisatorischen Zentrum der "Ramakrishna-Bewegung". Meine relativ oberflaechliche Bekanntschaft mit dieser mittlerweile rund 120 Jahre alten hinduistischen Reformbewegung (nicht zu verwechseln mit der Harikrishnabewegung) verdanke ich, drei Mal duerft ihr raten, den alten Gehebs: Fuer Edith Gehebs innere Entwicklung war die Begegnung mit der aufgeklaerten Religiositaet der zu Beginn der 1930er Jahre durch Europa tingelnden Swamis (Swami = Moench) dieser Bewegung entscheidend.[1] Ich - offenbar doch wesentlich mehr Forscher als Gottsucher - wollte die Gelegenheit benuetzen, um herauszufinden, ob es in Belur Math (Math = Kloster) evtl. ein Archiv der in Indien vor allem sozial engagierten Ramakrishna-Bewegung gibt. Auch an neuerer, bei uns nicht oder nur mit groesstem Aufwand aufzufindender Literatur war ich interessiert.

Obwohl ich mich nirgends angemeldet hatte, war der Besuch ein voller Erfolg: Waehrend hunderte von VerehrerInnen Ramakrishnas aus ganz Indien in den Tempel stroemten, trug ich mein Anliegen einem scheinbar nur Bengali sprechenden Aufseher vor dem Tor des Verwaltungsgebaeudes der Mission vor. Dieser holte umgehend einen seiner Vorgesetzten, und nach fuenf Minuten war ich bereits bis zur Chefetage vorgedrungen. Dort gab es Te und Kekse, und nach einr weiteren halben Stunde war ich in ein aeusserst spannendes Gespraech mit einem aelteren Moench vertieft. Dieser heute fuer die paedagogischen Projekte der Ramakrishnabewegung zustaendige Herr hatte selbst bei einm der Swamis studiert, mit denen Edith Geheb damals gearbeitet hatte. Da war's mir denn wie ein grosses Heimkommen! Endlich wieder eine Welt, in der ich mich auskenne, ueberschau- und handhabbar, ein kleines, huebsch geordnetes Universum von Worten und Ideen, statt der zahllosen in Hitze, Laerm und unverstaendliche Sprachen getauchten Widersprueche des in der Sonne vor sich hinbruetenden Indiens! Wie herrlich, die frische Luft der Erkenntnis zu atmen und sich hoch ueber dem Volk, das sich auf den Strassen Kolkatas oder auf den Ghats Varanasis draengelt, ueber die Grundprobleme des Ostens und des Westens Rechenschaft zu geben. Kein Autolaerm, kein Gestank von Urin, kein Poliokind, das mich am Hosenbein zupft, um seine zwei oder fuenf Rupien zu kriegen! Kein fruchtloses Fragen nach Informationen, die dann doch nicht stimmen oder die es nicht zu geben scheint.

Belur Math war also ein Erfolg. Sogar zwei Buecher habe ich dort erstanden. Ansonsten habe ich von Kolkata wenig mitgekriegt, doch die wenigen Eindruecke der als aeusserst verschmutzt und arm geltenden Stadt haben in mir eine gute Lust auf mehr zurueckgelassen. Fuer Vicky war die Stadt allerdings schwierig, nicht nur wegn der Sprache, sondern auch wegn der drei Geheimpolizisten, die ihn waehrend einr unserer Marktspaziergaenge ploetzlich ins Verhoer nahmen, weil sie dachten, ich wuerde durch ihn belaestigt. Sie liessen zwar sofort von ihm ab als ich erklaerte, dass wir Freunde seien, und er mich durchaus nicht belaestige, aber der Schock dieser Begegnung steckt Vicky noch heute in seinen Knochen. Er war entsprechend froh, als wir uns am 19. Januar auf den Weg nach dem kleinen, zwei Bahnstunden noerdlich von Kolkata gelegenen Santiniketan machten.

Santiniketan

Santiniketan oder "Staette des Friedens" ist eine Schoepfung des indischen Dichters und Paedagogen Rabindranath Tagore. Er gruendete dort 1901 eine kleine, ganz in der Natur gelegene und mit der Natur lebende Schule. 1921 ergaenzte er dieses Projekt durch die Visva Bharati Universitaet, in der sich westliches und oestliches Wissen treffen sollten.[2] Heute ist Santiniketan ein kleines, im vergleich zu dem, was ich in Indien bisher gesehn habe, aeuserst angenehmes Universitaetsstaedtchen. Vom rebellischen, vorwaertsstrebenden Geist Tagores ist allerdings nichts mehr zu spueren. Die Uni leide vor allem seit ihrer Verstaatlichung zu Beginn der 1950er Jahre, so haben mir alle, die ich danach fragte, erklaert, an Uebersaettigung und Erstarrung. Die Schule Tagores, die nach wie vor besteht, sei gemessen am indischen Durchschnitt zwar nicht schlecht, doch fehle es auch dort an einr engagierten Auseinandersetzung mit dem, was Tagore damals gewollt habe. Man begruendet den nach wie vor bestehenden Anspruch auf paedagogische Fuehrerschaft damit, das der Unterricht, wie zu Tagores Zeiten, im Freien stattfindet. Das die Schule heute nicht mehr in einem einsamen Wald, sondern 50 Meter von der von Touristen und Einheimischen belebten Strasse entfernt liegt, schmaelert den Stolz auf die alte Tradition nicht. "Tagore wird hier nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet", sagte mir Martin Kaempchen, ein deutscher Forscher, der seit 25 Jahren in Santiniketan lebt und arbeitet.[3]

Meine zugegebenermassen nicht sehr enthusiastischen Versuche, einer oder zwei Unterrichtsstunden in der Tagoreschule beiwohnen zu koennen verliefen im Sand. Schliesslich versuchten Vicky und ich es am letzten Tag unseres dortigen Aufenthaltes auf eigene Faust, doch wir scheiterten am Niet des Aufsehrs, der vor dem Eingang zum Schulgelaende stand und nur eisern wiederholte: "For students only". Auch eine in der Naehe stehende Lehrerin zeigte nicht das geringste Interesse. So begnuegten wir uns am Ende damit, die Tagore-Paedagogigk durch den Zaun zu betrachten, der das Schulgelaende von der Strasse trennt. Ein aehnliches Fiasko war das Interview mit einm emeritierten Professor der Visva Bharati Universitaet, der mir eine Stunde lang von der herrlichen Paedagogik Tagores vorschwaermte ohne sich dabei je durch meine Fragen aus dem Konzept bringen zu lassen. Ich brauchte eine ruhige Stunde an der zu diesem Zeitpunkt noch milden Sonne Indiens und zwei starke Kaffees, um mich von diesem Schock zu erholen.

Was Santiniketan angenehm machte, das waren die Gespraeche mit Martin Kaempchen und die Abende vor dem Sonar Bangla, unserem Guest House, wo ich bald zu einr Art Versuchsobjekt von allerlei Hobbysprachlehrern wurde, die sich zwischen halb acht und halb zehn neben mich auf die Treppe setzten, und mir ein paar Brocken Bengali beizubringen versuchten. Es waren eigenartig schoene Abende. Hie und da tauchte auch jemand auf, dessen Englischkenntnisse zu einem kleinen Gespraech ausreichten. Dann plauderte ich fuenf oder zehn Minuten - zB ueber die Zwistigkeiten innerhalb der Visva Bharati Universitaet -, bis der betreffende Mensch wieder im Strom der in unserm Straesschen auf- und abpromeniernden Maenner verschwand. Inhaltlich interessant waren ein Besuch in einem von Martin Kaempchen betreuten Dorfentwicklungsprojekt und ein fuenftaegiger Abstecher nach Sikkim.

Sikkim und der Besuch in der DPC-Academy

Dieses Sikkim findet ihr in euren Atlanten - so zumindest meine Vorstellung - rechts neben Nepal und unterhalb Chinas. Es war bis 1975 ein selbststaendiges Koenigreich, dann wurde es von der bisherigen Schutzmacht Indien besetzt. Man fuerchtete offenbar einen Einmarsch Chinas und wollte sich den Brocken nicht vor der Nase wegschnappen lassen, so jedenfalls eine Erklaerung der damaligen Ereignise. Heute ist Sikkim ein indischer Bundesstaat mit einigen besonderen Rechten und Privilegien. Sikkim ist gebirgig und kalt. Sein Wahrzeichen ist der Kanchanjunga, der drittgroesste Berg der Erde, den man bei gutem Wetter fast von jedem Punkt des Landes aus sieht.

Die Idee nach Sikkim zu fahren stammte von Vicky. Er kenne dort einen Schulleiter, der waehrend der letzten fuenf Jahre mit einigen seinr Schueler mehrmals in Bodh Gaya gewesen, um an einem der grossen religioesen Feste teilzunehmen. Dabei haetten sie sich kennen gelernt, und Schoscho habe ihn schon einige Male herzlich zu sich eingeladen. Im uebrigen scheine seine Schule sehr interessant. Nun gut. Why not. nach einer achtstuendigen Zugfahrt, einr Uebernachtung in New Jalpaiguri und 8 weiteren Stunden in einm Bus und einm Jep, lud unser Fahrer uns am Abend des 26. Januar, dem Tag der indischen Unabhaengigkeit, schlieslich ab: "Here it is". Als der Jep weg war, merkte ich erstmals, dass es auch in Indien richtig still sein kann!

Wir waren auf rund 2000 Meter, und um uns schien nichts zu sein als Fels und Wald. Der weg, auf den der Fahrer des Jeps gewiesn hatte, fuehrte zu einigen Haeusern, die beim Naehrkommen allerdings einen verdaechtig ruhigen Eindruck machten. Schlieslich kamen uns zwei Jugendliche entgegn, die Vicky zu meiner grossen Ueberraschung wirklich kannten und ihn sehr herzlich begruessten, bevor sie uns offenbarten, dass die Schule von Anfang Dezember bis Ende Februar wegen der Kaelte geschlossen und auch Schoscho nicht hier sei. Nach anfaenglicher Ratlosigkeit beschlossen die Beiden, uns mit sich in das fuenf Minuten entfernt gelegene Haus des Schulgruenders zu bringen. Dieser habe sicher Platz fuer uns. Tatsaechlich entwickelte sich dann alles sehr angenehm. Wir verbrachten zwei Naechte im Haus von Captain Yapo Yongda, dem Gruender der DPC-Academy, einer inzwischen 25 jaherigen privaten Internatsschule fuer rund 220 Kinder aus ganz Sikkim.

In mehreren Gespraechen erklaerte mir der "Captain", wie er in seinr Schule westliche Bildungsansprueche mit der kloesterlichen Bildung des tibetischen Budhismus zu kombinieren versucht. Was er sagte klang interessant; noch ueberzeugender waren jedoch die Begegnungen mit einigen grossen und kleinen Schuelern der offenbar doch nicht ganz ausgestorbenen DCP-Academy, die ich am folgenden Tag besuchte. Die saemtlich aus armen Verhaeltnisen stammenden Kinder und Jugendlichen machten auf mich einen ungewoehnlich wachen und kritischen Eindruck. Auch die Fuenf- oder Sechsjaehrigen sprechen bereits englisch, und mit zwei aelteren Schuelern, die ich am Nachmittag treffe, entspinnt sich eine sehr angeregte Diskussion ueber das Thema Liebe, wobei die beiden in dem, was sie sagen, erstaunlich offen und modern klingen.

Die Raeume der Schule sind aeusserst einfach: Schlafsaele mit doppelstoeckigen Holzbetten fuer je 40 bis 60 Jungen oder Maedchen, einfache Schulzimmer mit primitiven Holzbaenken, eine Kueche mit einem einfachen Holzherd aus Lehm und einem Gasbrenner. An vielen Orten wird noch gebaut und die Raeume wirken aestethisch nicht ansprechend. Ansprechend ist dagegen die Urspruenglichkeit der Umgebung, was waehrend der waermeren Jahreszeiten, in denen man sich viel draussen aufhaelt, wohl mehr ins Gewicht faellt als die Ausgestaltung derSchulraeume.

Das aeussere der Schule, aber auch die quasi kloesterliche Lebensweise der SchuelerInnen mit ihrem von morgens fuenf bis abends neun durchstrukturierten Tageslauf erinnerte mich an das Leben in den ersten deutschen Landerziehungsheimen zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder an die paedagogischen Ansprueche der Philanthropine des 18. und 19. Jahrhunderts. So wie diese es sein wollten und zu ihrer Zeit waren, ist auch die DCP-Academy eine Art Erziehungsstaat, in welchem die von den Eltern, den Medien und anderen Quellen kommenden Einfluesse auf die Zoeglinge fast ganz ausgeschaltet sind, sodass diese in viel hoeherem Mass von ihrer Schule erzogen und geformt werden koennen, als dies in einer gewoehnlichen Tagesschule moeglich ist. Die DPC-Academy ist schon allein deshalb kein Importartikel zur Rettung der westlichen Bildung, doch sie ist gerade wegen dieses umfassenden erzieherischen Anspruchs (und der wie mir scheint liberalen Art der Umsetzung) ein anregender Versuch.

Von der Kaelte und ploetzlicher Geldknappheit getrieben verliessen wir die DPC-Academy und den Captain mit einr budhistischen Denkanmichschleife geschmueckt bereits am Morgen des 28. Januar. Nach einm knapp 24-stuendigen "Boxenstop" in Gantok, der Hauptstadt Sikkims, wo wir uns u.a. mit Haarefaerben vergnuegten und ich meine Barbestaende wieder auf Vordermann brachte, und nach 5 weiteren Stunden in einem Jep am folgenden Morgen sowie einr ziemlich ungemuetlichen naechtlichen Eisenbahnfahrt von New Jalpaiguri nach Bolpur waren wir am Sonntag, 30. Januar morgens frueh wieder in Santiniketan, wo wir vom Besitzer des Bangla Sonar wie alte Freunde begruesst und untergebracht wurden.

Liebesdrama in Santiniketan

Unsere zweite Woche an diesem Ort verlief anfaenglich aehnlich friedlich und gemuetlich wie die erste. Dann brach eine Liebestragoedie im besten indischen Kinostil aus. Zuerst lag Vicky im Bett und wollte nicht mehr leben. Nicht, weil er so unsterblich in Raya, ein 17-jaehriges Maedchen, welches wir ein paar Tage zuvor kennen gelernt hatten, verliebt gewesen waere - "no no, I like her, but I want western girl!" -, sondern weil er sie nicht zurueckweisn wollte. "It will give her pain. How can I do? I want to dye". Ueberhaupt sei das Leben schrecklich. Er wolle nicht arm sein, und dass ich nicht sehen koenne tue ihm auch so weh.

Ich war ebenso ratlos wie Raya, die an dem Nachmittag zu Besuch gekommen war, mir Vicky nach einr Stunde aber ueberliess, weil er nicht richtig rede. "Talk to him, uncle. He is not right in the head". Der Umstand, das Vicky uns beiden am Abend zuvor erzaehlt hatte, er habe sich in den letzten drei Jahren zweimal das Lebn nehmen wollen - das zweite Mal wollte er sichverbrennen! -, wirkte auf uns natuerlich auch nicht gerade beruhigend. Schlieslich schlief er eine Runde, und als er aufwachte war die Krise zunaechst vorueber.

Am folgenden Vormittag musste ich dann ploetzlich ganz dringend ans Telefon. Raya war am Apparat. Ich muesse Vicky unbedingt erklaern, das sie als Tochter eines traditionellen indischen Hauses ihn heute nicht schon wieder sehn koenne. "If my parents find out, it will be very bad". Ich fragte sie, ob sie dies Vicky denn nicht erklaert habe. Er als Inder kenne diese Sitten doch und wuerde sie verstehn. "I tried to tell him, but he doesn't listen. He said, he wouldkill himself, if I didn't come". Gut. Ich versprach Raya, die mir eigentlich einen ganz vernuenftigen Eindruck machte, mit Vicky zu reden und sagte ihr, dass sie sich von derlei Drohungen nicht unter Druck setzen lassen solle. "Yes, uncle, but you know, he has done it before, so now I am affraid" ... Irgendwie fand Raya dann doch eine Ausrede, um Vicky zu sehn. Sie verbrachten einen anscheinend ganz vergnueglichen Nachmittag, und am folgenden Mittag begleitete sie uns zum Zug, der uns zurueck nach Kolkata brachte.

Waehrend der folgenden Naechte gab es noch einige hektische Telefongespraeche, wobei das Handy, das Vicky sich mit dem bei mir verdienten Geld angeschafft hatte, erstmals zum Einsatz kam. Vicky erzaehlte mir waehrend diesr "Tage danach" im uebrigen, dass Raya sich ihren Unterarm zerschnitten habe, als wir in Sikkim waren. "She affraid that I don't come back, so she wanted to kill herself". Als ich ihn fragte, ob das sich Umbringen wollen in Indien zu jeder rechten Liebe gehore, sagte er. "Yes, they often do" ... Jetzt, wo der Sturm vorueber scheint, kann ich ja darueber lachen, aber als das mit dem sich ins Bett legn und sterben wollen losging - einmal er, dann wieder sie -, da war ich nahe dabei bei irgendwem von euch anzurufen, um mir ein paar Tips im Umgang mit Teenagern zu holen.

Die Blind Boys Academy in Nanindrapur

Wir waren u.a. deshalb so lange in Santiniketan geblieben, weil Shona, der Koordinator des dortigen Dorfentwicklungsprojektes, mich unbedingt mit seinm juengsten Bruder bekanntmachen wollte. Gopal ist blind und geht zur Zeit in Kolkata in die 12. Klasse. Danach wollte Shona mir auch noch die von der Ramakrishna Mission in Nanindrapur betriebene Blindenschule zeigen, die Gopal fruehr besucht hatte. Sie liegt rund 20 km ausserhalb Kolkatas und hat diverse Abteilungen: Eine Blindenschriftbibliothek, eine Hoerbuecherei, ein Computerlab, eine landwirtschaftliche Abteilung, ein Ausbildungszentrum fuer einfache Metallbearbeitung (light industry), eine Abteilung fuer Berufsmusiker, einen in Kooperation mit einr lokalen Universitaet betriebenen Ausbildungsgang fuer BlindenlehrerInnen und - als Kern - die eigentliche, 1957 gegruendete 10-klassige Schule mit dazugehorigem Internat.

Da gutes Zeitmanagement nicht gerade zu den Staerken des durchschnittlichen Inders gehoert, war lange nicht klar, ob und wann Shona fuer den geplanten Ausflug Zeit haben wuerde. Doch schliesslich fand sich die Zeit. Wir trafen Shona am Dienstag Mittag bei seinm Bruder, verbrachten zwei Stunden in angeregtem Gespraech mit diesm und einr ganzen Reihe seinr (sehnden) Klassenkameraden. Danach fuhren wir nach Nanindrapur, wo wir fuerstlich empfangen und hoechst nobel untergebracht wurden. Am folgenden Tag besichtigte ich die ganze Einrichtung und sprach mit mehreren Lehrern, sowie mit dem Schulleiter und dem Leiter der gesamten Mission, die noch eine ganze Reihe weiterer Projekte umfasst, die nichts mit Blindheit oder Behinderung zu tun haben.

Alles in allem war es ein lohnender Besuch, wobei mir die Besichtigung der landwirtschaftlichen Abteilung den groessten Spas gemacht hat. Ich wurde dort von einem begeisterten Instruktor und einr Reihe seinr blinden Schuler - junge Maenner zwischen 17 und 25 - in Empfang genommen und unter Verwendung von vielen Haenden und Fuessen in alle Geheimnise des indischen Landbaues eingefuehrt, wobei meine enthusiastischen Betreur mich oft in alle Richtungen gleichzeitig zerrten, um mir ihren Huehnerstall, ihre Pilzzucht, ihren Gemuesegarten, die Kuh, die Schafe oder die Ziegn *(suesse kleine Viecher!) zu zeigen. Ich lernte, wie sie sich in ihrem Garten orientierten, wie sie pflanzten und Unkraut jaehteten etc. etc. Zur Zeit sei diese Abteilung, so erklaerte man mir spaeter, die erfolgreichste der ganzen Schule, denn die hier waehrend zwei Jahren ausgebildeten Menschen seien nach der Rueckkehr in ihre Familie nicht nur im Stande, gewisse landwirtschaftliche Arbeiten selbst zu uebernehmen; aufgrund ihrer theoretischen Schulung in Tierpflege etc. seien sie oft auch die am besten ausgebildeten Bauern am Ort, sodas das ganze Dorf von ihnen profitiere. - Wie gesagt: die uebrige Besichtigung war ebenfalls interessant, aber meinem Herzen hat's bei den Ziegen und den Kohlkoepfen doch am besten gefallen! Vielleicht haette ich mich auch bei den blinden Fussballern wohl gefuehlt, doch standen diese nicht auf dem offiziellen Programm und Vicky erzaehlte mir erst spaeter eher zufaellig, wie er ueber deren Treffsicherheit gestaunt habe. "How they do? I don't know! How can they do?" Ich weis es auch nicht, wuerde es aber gerne wissen.

Nach einr zweitn Nacht in unserem Luxusapartmnt verliessen wir Nanindrapur am Donnerstag frueh, um den 09:25-Zug von Kolkata nach Gaya zu erwischen, denn nachdem Vicky im Laufe unserer genau vier Wochen dauernden Reise einiges von der grossen weiten Welt gesehn hatte, wollte er wieder heim. Wir hatten unterwegs mehrmals ueber seine berufliche Zukunft gesprochen und u.a. auch die Moeglichkeiten abgeklaert, in Santiniketan sein 11. und 12. Schuljahr zu machen oder - als Alternative dazu - in Kolkata einen intensiven Englischkurs zu belegn, um etwas Ordnung in den kreativen, aber nicht unbedingt sehr funktionalen Wildwuchs seinr Sprache zu bringen. Schlieslich waren wir jedoch zum Schluss gekommen, dass die realistischste Moeglichkeit fuer ihn vermutlich trotz aller Vorbehalte das College in dem rund 30 km von seinm Dorf entfernten Gaya sei, und da ich ihm bereits bei unserem Aufbruch versprochen hatte, seine Ausbildung zu finanzieren, wenn er mir einen konkreten, auch mich ueberzeugenden Plan vorlegen koenne, fuhr ich mit, um diese Sache vor Ort zu Ende zu bringen. Dabei sollte ich - so Vickys Wunsch - nicht in einm Guest House in Bodh Gaya, sondern als sein Gast und als Gast seinr Familie in dem rund 1 km entfernten Bhagalpur - seinm Dorf - wohnen.

Damit ist meine Zeit um und ich muss wieder einmal Schluss machen, obschon wir noch immer nicht in der Gegenwart angekommen sind!

Seid alle ganz fest umarmt von eurem zur Zeit etwas abgewirtschafteten, aber nach wie vor intakten

Martin