An Helen U., 8. Dezember 1990
Ja, dort oben zwischen Putzpause, Andacht und Gondelbahn liegt jetzt Dein Brief, während ich wiedermal in Basel bin, da wo ich eigentlich "wohne". Der Tag hat eben erst angefangen (jedenfalls für mich); ein etwas dünn geratener Kaffee steht neben mir auf dem Kassettengerät, aus dem Gestern bis spät in der Nacht Stunde um Stunde die Geschichte des "Bundes entschiedener Schulreformer" herausquoll, und ich alles, was mir im Zusammenhang mit Geheeb und seinen Stories wichtig oder insgesamt interessant schien, in meinen Computer versenkte. Jetzt schweigt der Recorder. Dafür läuft im Zimmer nebenan "Familienrat", eine Radiosendung zu erzieherischen Fragen, Urs hustet und scheint auf dem Weg aus dem Bett ins Leben. Simon, Urs' Sohn, spielt in seinem Zimmer; die kleinen Autos scheppern und er kommentiert und produziert die nötigen Geräusche, tritt auf die Bremsen, lässt Motoren anspringen und aufheulen, wie's halt so ist im Lande der Autos. Mein Ofen - altertümliche Holzofenwohnung mit Balkon und Toilette im Zwischenstock - ist gemütlich warm; er tickt und knistert vor sich hin, während vom Fenster her, von Links eher arktische Lüfte ins Zimmer dringen wollen. Wir haben uns bis jetzt noch nicht aufgerafft, die Vorfenster vom Estrich zu holen und einzuhängen. Zuerst schien der Winter so ernstlich doch nicht zu kommen, und jetzt denke ich manchmal -nicht weil ich es wirklich glaube, aber weil's doch meiner Faulheit entspricht und wir uns dann nicht mehr um die Vorfenster kümmern müssten - er wird nie kommen.
In 1 1/2 bis 2 Stunden muss ich mich Richtung Bahnhof auf den Weg machen. Am Nachmittag bin ich in Biel, wo sich der Vorstand der vor etwa einem Monat gegründeten "Vereinigung der freien Schulen der Schweiz" zum ersten Mal trifft, um diese Vereinigung nun auch innerlich in Bewegung zu setzen. Am Dienstag abend war ich für eine andere Sitzung in Zürich, am vergangenen Samstag an einer Tagung ("Schule für oder gegen das Kind") in Luzern. Herumreisen, sitzen, reden, beschliessen, planen, wollen - das ist ein beträchtlicher Teil meines derzeitigen Lebens. Dazu lesen: lesen von Artikeln, von Büchern oder Teilen von Büchern, von Akten, Briefen und Broschüren rund um die Geheebs, die politischen, kulturellen und schulreformerischen Strömungen um die Jahrhundertwende, die Geschichte der alten Odenwaldschule und der Ecole. - Manchmal werde ich ganz welk zwischen all diesen Papieren und Worten, Theorien, Absichtserklärungen und guten Vorsätzen. Alles in allem doch eine ziemlich abstrakte Welt, viel Bürokratie und Organisation, relativ wenig Geist und Lebendigkeit. Dabei hoffe ich allerdings immer, dass Geist und Lebendigkeit sich demnächst einstellen werden: dann, wenn die Vereinigung der freien Schulen etwas in Gang gekommen ist, und wir in der Öffentlichkeit aktiv werden können -, dann, wenn ich endlich am Schreiben des Geheeb-Buches bin und das Recherchieren der letzten beiden Jahre hinter mir liegt -, dann, wenn dieses Geheeb-Projekt insgesamt abgeschlossen ist, und ich wieder einmal ganz frei bin und hinaustreten werde ins Leben ohne Plan, ohne dies und jenes, was ich noch tun "muss" oder "möchte" oder "sollte", sondern einfach nur da, wach für alles, was kommt und sich ereignet. ... Aber das ist Zukunft.
Was ich schreibe klingt vermutlich etwas zäh und klagend. Ja, zäh fühlt sich's heute früh tatsächlich an, vielleicht auch, weil's noch so früh ist. Im Grunde mache ich das, was ich mache, nach wie vor gern, freue mich auch auf die Sitzung von heute Nachmittag, spüre, wie wichtig mir doch dieses ganze leidige Schulthema ist, wie wichtig es mir ist und wie wichtig es insgesamt in unserer Zeit ist, wie wichtig es ist, dass wir hier wieder mehr Luft und Bewegungsraum kriegen. ...
Eben ist Simon zu Besuch gekommen, und ich werde allmählich unruhig. Will mich noch vorbereiten für heute Nachmittag; muss evtl. noch ein wenig einkaufen für's Wochenende, je nachdem, ob Urs, wie er es ursprünglich vor ahtte, weggeht oder hierbleibt. - Ich schreibe in den nächsten Tagen weiter, denn eigentlich wollte ich dir noch von meiner Zeit in der Ecole erzählen, denn dort denke ich doch ab und zu an dich und an das, was wir in diesem Sommer miteinander zu bereden begonnen haben ... ... ...
5. Mai 1991: Oje! Du siehst was geschehen ist. Ich dachte immer wiedermal, dass ich den Brief an Dich endlich mal fertigschreiben und auf die Post bringen sollte, aber ... Irgendwie wollte ich noch ein wenig heiterer und kräftiger schreiben. Die Stimmung damals, als ich Dir schrieb, war eher schwer. Naja, dann habe ich gewartet, und so richtig heiter wollte es nie werden oder vielmehr, wenn's richtig heiter war habe ich was getan, Menschen gesehen, geschrieben, gelesen, organisiert. Zusammen mit ein paar Andern habe ich u.a. eine kleine Zeitung mit Namen "Endlich! ... Zeitung für ein freies Bildungswesen" gegründet, was ziemlich zu tun gab und gibt. Die Ecole ist weiter weg als auch schon, mein Leben hier in Basel lebendiger und reicher als je (so kommt's mir zumindest oft vor).
Ich will jetzt aber nicht mehr lange schreiben, sonst passiert wieder dasselbe wie vor 5 Monaten ... Lieber versuche ich, ob dich dieser Brief vielleicht doch noch in Jamaica. Ich will ihn morgen früh gleich ausdrucken (jetzt tu ich's nicht mehr, weil Urs nebenan schon schläft). Ich würde mich freuen, wenn er doch noch bis zu dir kommt - wenn auch nur als Lektüre für's Flugi, wenn du auf dem Weg zurück in die alte Heimat - sie ist wirklich alt, das sage ich Dir! (die 700 Jahre sind im Grunde ein Betrug: alles hier ist viel viel älter ...) - damit du ihn also dann wenigstens als Lektüre geniessen kannst.
Also dann. Ganz herzliche Grüsse von mir und bis bald! Ich freue mich, dich, wenn du wieder im Lande bist, einmal zu sehen: hier in Basel, in Goldern, in Luzern oder ... Ciao und bis bald.