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An Oliver K., 15. Februar 1992

Lieber Oliver! Hab Dank für Deinen Brief und die interessanten Mitteilungen. Ich bin sehr gespannt bei Gelegenheit mehr über Deine Forschungen zu erfahren und hoffe, dass die Innern und Äussern Umstände es Dir erlauben, einigermassen tief in Dein Thema einzudringen.

Detaillierte "Fallstudien" unbeschulter Menschen, die Rekonstruktion der Art und Weise, wie Menschen heute ohne Schulen zu "Bildung", zu konkreten Fertigkeiten und Fähigkeiten etc. kommen, das ist in unserer so völlig mit Schule überkrusteter Gesellschaft ja echte archelogische Ausgrabungsarbeit, bei der man an Hand weniger Einzelfälle Rückschlüsse auf eine versunkene Kultur zu ziehen versucht, wobei die Kultur mit der Du dich befasst eher eine zukünftige als eine vergangene Kultur ist - oder doch sein könnte. ... Ich bin neugierig auf Dein Buch! Falls Du Hilfe brauchst, so stehe ich Dir gern zur Verfügung. Ob ich natürlich gegebenenfalls tatsächlich helfen kann, weiss ich nicht, aber anfragen kannst Du jederzeit.

Dass Dir gerade das Vorwort zu meinem Buch aufgefallen ist freut mich; diese paar Seiten haben bis jetzt insgesamt am meisten Reaktionen hervorgerufen, sind am meisten aufgefallen, meistens positiv, hin und wieder negativ, indem man sagt, dass ich die Dinge (natürlich) zu einseitig sehe, zu pauschal urteile etc. etc. Das Vorwort hat auch innerhalb des projuventute Verlages am meisten Geräusch gemacht: für einige Tage schien es, als wollten sie es nur drucken, wenn ich es noch abändere. Alle übrigen Texte wurden telle quelle übernommen, ich weiss nicht einmal, ob sie dort überhaupt gelesen wurden.

In meiner derzeitigen Arbeit -neben erholsamen Ausflügen in musikalische und schauspielerische Gefilde beschäftigt mich vor allem die Zeitung "endlich" und die Arbeit in diversen Vereinen und Arbeitskreisen, die sich für ein "freies Bildungswesen" einsetzen, dazu kommen gelegentliche Artikel, die ich in dieser oder jener Zeitung unterzubringen versuche (auch um finanziell nicht ganz ins Abseits zu geraten) -, in meiner eigenen Arbeit also pendle ich immer zwischen dem, was man allgemein als pragmatischen Kompromiss mit der "gegenwärtigen Situation" und als "realistisch machbar" bezeichnet, und dem, was ich empfinde, wenn ich mehr bei mir, in meinen Gefühlen und Gedanken bin hin und her. Allerdings spüre ich deutlich, dass ich eher "radikaler" und kompromissloser werden will als ich es in den letzten Jahren war. Aber eben: als Vorstandsmitglied der Vereinigung der freien Schulen der Schweiz - Schulen die alle um ihr Leben, ihre Identität und ihre materielle Existenz kämpfen -, in dieser Vereinigung muss ich fast (jedenfalls scheint es mir so) Alternativschulen als einen positiven Entwicklungsschritt bezeichnen und sie als solchen auch gegen aussen vertreten. -Bertrand Stern nennt dies allerdings Zeitverschwendung, und ich denke manchmal darüber nach, in wie weit er damit Recht hat ... Was ich in Sachen Alternativschulen denke, habe ich einmal zusammenzufassen versucht, als ich in einer Radiosendung "die Alternativschulen vertreten" sollte. - Ich füge den Text, der noch im PC steckt, meinem Brief an -, nicht als Pflichtlektüre, aber als Möglichkeit.

Ich lege Dir "Jasnaja Poljana" von Tolstoi sowie die Photokopie seiner "Gedanken über Volksbildung" (diese total interessant!) und die Einleitung zu Ludwig Fertigs "die Volksschule des Obrigkeitsstaates" bei. Dazu Walter Borgius' "Frevel an der Jugend" (natürlich auch spannend!). Bitte schicke mir die Kopien und die Bücher irgendwann (in 3 oder 5 Monaten reicht) zurück! Bitte! Ich hänge an ihnen und sie sind zum Teil eben nur schwer zu kriegen!