An Renzo C., 5. Juni 1998, Basel
Ich habe eben zwei Stunden lang mit Yvonne meine Post durchwühlt und bin dabei auch auf Deine Karte aus Görrlitz gestossen (für die ich übrigens kräftig nachzahlen muss, wegen "unförmigem Format"!)! Also erkannt hätte ich wohl nie, was diese seltsame Form sein soll. Als ich sie vor einigen Tagen im Briefkastenfand, dachte ich bloss, "wieder so ein Reklamefurz". Jetzt freut es mich, dass Du hinter dieser Seltsamkeit aufgetaucht bist, und ich möchte Dir für diese Karte und Deinen ausführlichen Brief von vor vier oder fünf Wochen danken. Ja, als ich den las, da habe auch ich ein wenig geweint ...
Ich hoffe, Dein Abstecher in die alte DDR war so interessant und angenehm, wie es auf der Karte klang. Ich hoffe überhaupt, dass Du immer wieder auch gute Zeiten erlebst, trotz Geschäft und trotz der Trennung von mir, trotz Deines Kopfes und trotz all der anderen Mühselichkeiten, mit denen man sich auf dieser Welt so herumschlagen muss.
Was mich angeht, so geht es mir meistens relativ gut. Heute bin ich zwar wiedermal ziemlich müde und schlapp, weil ich heute früh erst gegen vier Uhr wirklich geschlafen habe und schon um halb neun wieder aufgestanden bin. Sonst aber ist meine Welt ganz ok wie sie ist. Viel "Neues" gibt es nicht zu berichten: Das Unterrichten an der Uni ist für mich nach wie vor ein sehr zwiespältiges Erlebnis: Spannend und interessant, und zugleich langweilig und unbefriedigend! Ich kann mich da nicht so leicht beruhigen, mich nicht so leicht mit einer Realität "abfinden", in der so viel Kaputtheit und Enge, soviel Schmerz und Leid spürbar (für mich jedenfalls spürbar!) sind. Es ist, wie wenn ich lerne, im Kriegsgebiet zu arbeiten, wo ich immer mit Zerstörung und Gewalt konfrontiert bin und doch meine Arbeit tun muss ohne die Ursachen all dieser Übelstände direkt angehen zu können. So kommt mir meine Arbeit in Bern vor und an diesen Zustand versuche ich mich zu gewöhnen, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben. Nun, das Alles kennst Du ja! Es ist Martin, wie er leibt und lebt!
Auch in der Geheeb-Forscherei und im Liebesleben hat sich nichts wesentlich verändert. Was das zweite angeht, so lebe ich nach wie vor halb zufrieden, halb unglücklich "zwischen Park und Traumprinz". In Sachen Geheeb warte ich allmählich ganz neugierig auf "das Buch", das nun endlich "in diesen Tagen" herauskommen soll ... !!!
Was uns angeht, so tut mir der neu geschaffene, grössere Abstand zwischen uns wie ich glaube gut. Natürlich ist da immer wieder eine kleine Sehnsucht nach der "guten alten Zeit", doch insgesamt möchte ich diesen Weg auf jeden Fall weiter gehen! Ich möchte auch in Zukunft sparsam mit Begegnungen und Telefonaten sein. Wenn Du aber Lust hast, so würde ich Dich gerne zu einem Geburtstagsessen irgendwo in der Gegend von Basel - Schönmatt, Predigerhof, Neuwiler ? ? ? - einladen, entweder am Abend Deines Geburtstages selbst, oder . . . Ich würde gerne hören, wie es Dir in den letzten Wochen ergangen ist, was Du so getan hast, wie es Deiner Mutter und den Patrialeuten geht - Danach würden wir uns wieder, so mein Vorschlag, trennen -, vielleicht bis zu meinem Geburtstag in einem Monat? - Überleg Dir die Sache. Wenn Du einen anderen Vorschlag hast, ist dies auch gut. Ich werde Dich in den nächsten Tagen einmal anrufen, um zu sehen, was wir in Sachen Geburtstag und Treffen machen wollen.
Für heute nur noch einen dicken Kuss und ein paar vorgeburtstägliche Wünsche für viele, freudige Überraschungen, schöne Begegnungen, Gesundheit und Lebensmut! - Alles liebe und bis bald, Martin