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An Yvonne B., 14. Dezember 1995, nach Mitternacht

Du poetische, liebe, gute und dünne Yvonne! Man soll, wenn's kalt ist und der Winter sich bemerkbar macht, den Ofen gut mit Kohlen füllen und nicht sparen mit dem Heizen! Und auf der Strasse soll man Handschuh' tragen oder nicht -, je nachdem, wozu man lustig und je nachdem was man so braucht!

Und? Wie geht's inzwischen? Bei Pina entwickelt sich schüchtern noch aber immerhin eine neue Liebe. Meine scheint sich endgültig ins Gras gelegt zu haben! Und die Deine(n)? ?

Bei mir stiess der Geist, der Ärmste, unlängst wiedermal an Grenzen, nicht an meine oder seine Eig'nen - nein, natürlich nicht! -, sondern an die Grenzen des Systems. Ach die Schule! Auch in höchsten Potenz, in der Form als Hochschule ist sie dem Lernen und dem inneren Vorankommen oft eher hinderlich als behülflich, so sehr man sich auch seit Jahrhunderten darum bemüht, in dieser Sache Abhilfe zu schaffen! Kaum ist er ausgetrieben, der "Muff unter den Talaren", da hat er sich auch schon wieder angesammelt und muffelt und mieft bald ebenso sehr wie anno dazumal ...

Liebe Yvonne! Wie wär's mit einem Stadtbummel. Heute hat's den ganzen Tag geschneit, und es liegt - ein seltenes Ereignis hier in Basel - Schnee. Nicht Viel, aber doch immerhin, Schnee! - Ich hab ihn nicht gesehen oder gefühlt mit meinen Füpsen, doch man hat's mir berichtet, und mit meinen Fingern hab ich's immerhin ertastet in den Blumenkästen mit Blick auf den Rhein. Eis in der Gieskanne und 3 oder 4 Cm Schnee auf den dürr geword'nen Gewächsen des letzten Sommers und Herbstes! - Also wie wär's mit einem Spaziergang durch die kalte, verschneite Rheingasse, dann über die Utengasse zurück zum Klaraplatz, von dort vielleicht ins Rössli oder zu Martin "dem Schatz" an die Sperstrasse -, jetzt, wo ihr Beiden gewissermassen Berufskollegen seid! - Heut war er hier und hat mir Post und "Pädagogisches" aus dem Jahre 1910 vorgelesen. Dazwischen haben wir Konservenbüchsen beschriftet - Inhalt und Ablaufdatum, z.B. "Geschälte Tomaten. 12. 1991". Schliesslich haben wir noch mein Zimmer umgestellt - die rheinwärtsschauende Stube! Der Schreibtisch steht jetzt - doch! - vorm Fenster - ein Versuch. Und der Teppich - der umfangreiche -, um dessentwillen die ganze Räumerei losgegangen ist, liegt jetzt - so einfach ist das  genauso unterm Klavier, dass ich mit dem ewigen hin und her des Klavierstuhls nicht ständig über seinen Rand rutsche, was ja, wie der Hausmann inzwischen auch weiss, unvermeidlich zum Ruin und Siechtum des so wunderbaren Textils, das so lange treulich trug die grosselterlichen Schritte, führt.

Also man würde dann so durch die Stadt gehen oder bummeln -obwohl, bei dieser Kälte würde man nicht wirklich bummeln! -, man würde, und dann würd ich - wiedermal!!! - von der Liebe erzählen, würde ein Bisschen, um - naja -, würde und würde dann wieder nicht, denn dieses immer gleiche erzählen und klönen und hin und her überlegen und verstehen wollen und Geduld haben und ... ach es macht doch müde -, die Andern vielleicht, aber auch mich. Mich ganz offenbar! Naja -, würde ich sagen -, ich weiss nicht, wo's hingeht, das Alles. Hab ihm - dem Renzo, dem Guten! - gestern gesagt, dass ich nicht mehr will und heute nochmals - am Telefon -, dass ich nicht mehr an die Möglichkeit einer fruchtbaren Weiterentwicklung zwischen und mit uns glaube, dass ich ... Hab' es gesagt und fühl mich ein wenig wie ein kleiner Junge, der etwas Böses, etwas ganz ganz Böses getan hat, will es rückgängig machen und sagen: "Es ist Alles nur so eine Laune gewesen. Vergiss es, vergiss es. Es ist Alles wieder gut", will es und merke zugleich, dass ich dies jetzt nicht tun darf - "darf?" -, imgrunde wirklich, wirklich wirklich nicht tun will!, dass ich jetzt "hart" bleiben muss, konsequent, trotz des Aufwallens der Gefühle - auch der Meinigen -, "nach 5 Jahren!", "nach fünf! Jahren!". - "Wohlan denn Herz, nimm Abschied und verrecke!"

Und dann, den Schnee von unsern Schuhen klopfend, würden wir irgendwo eintreten, und ich würde versuchen mich zu lösen von dem Thema, dem allumfassenden, das mich so lange Zeit so sehr absorbierte, um mit Dir über das Kompostieren im Stadtgebiet oder über Spann- und Milieuteppiche oder den Gebrauch des substantivierten Verbs bei Grillparzer und Rilke - endlich wieder einmal über den Gebrauch des substantivierten Verbs bei Grillparzer! wie lange schon lag dieses Thema brach! - zu sprechen oder über Emil Zolas "Erde", diesen langen Rea- oder naturalistischen Roman über das französische Bauerntum des 19. Jahrhunderts, den ich kürzlich (mit Interesse!) gelesen habe! Und dass Pina kommt, Ende Monat, so etwa am 27. oder 28. würde ich Dir erzählen, und ich würde Dich fragen, ob Du wieder einmal etwas von Pascal gehört hast.

Dann würd' ich gehen -, ginge vielleicht noch ins "Tupf" in der Hoffnung, jemanden aufzu- oder besser "kennenzulernen". Vergebliche Hoffnung zumeist -, aber nicht immer. Würde merken, dass ich Dir gar nicht von Aladhin erzählte - passé!, passé! -, würde ein oder zwei Zigaretten rauchen und ein oder zwei Stangen trinken, würde vielleicht ein paar Worte wechseln - wechseln, austauschen, umtauschen - mit irgendwem, mit jemandem, den ich schon öfter getroffen habe oder jemandem, den ich noch nie gesehen, gehört, gerochen oder gespürt habe. Dann ... naja, man soll die Hoffnungen nicht zu hoch fliegen lassen im Stadtgebiet wegen der allgegenwärtigen Leitungen und Baumkronen! - dann ginge ich - ich wusste ja, dass es nichts bringen würde - heim über die Brücke und dem Rhein entlang heim, wie so oft.

Und hier? Ein Gasofen ist installiert im Gang und der Schreibtisch steht vor dem Fenster und das Telefon ganz neu zwischen PC und Lehnstuhl, genau am richtigen Ort fürs Geschäft und fürs Private! Und auf dem Beantworter ist wiedermal niemand! Oder meine Mutter ist oder Renzo -, Renzo, der mit seiner langsamen Stimme sagt Martin, wo bisch?" ... Und ich stünde im Gang, wo seit gestern auch das Marmortischchen steht - vor dem Gasofen -, ein weiteres Stübchen! -, stünde im Gang, dem neuesten Stübchen. Was jetzt.

Die Arbeit. Naja. Das Ende des Tunnels ist sichtbar. Schrieb ich das schon? Oelkers meinte, dass bis 1910, vielleicht bis 1914 ausreichen würde für eine Diss, da die ganze Biographie (bis 1961) viel zu umfangreich würde! -, schrieb ich das schon?

Würde an Dich denken beim Zähneputzen, wäre jedoch zu müde, um - heute noch -, und dann, was schreibt man sich immer? Was, wenn - "Martin wo bisch?" -, und im Bett würde ich die Decke hoch ziehen, hoch bis unters Kinn, denn ich liebe es mit offener Balkontür zu schlafen und das rascheln des Geisblatts zu hören, dessen Blätter draussen vom Wind hin und hergeraschelt werden und das Geräusch des vom Winde bewegten Plastiks, der mein Brennholz bedeckt.

Schwer löst sich's aus der Liebe, schwer löse ich mich von einem diesem so lieb gewordenen Traum - und ist es denn richtig. "Ist der Mensch wie ein Haus - du mietest Dich ein und ziehst wieder aus?" - ziehst wieder aus. Mit dem Schlafsack und ein paar Klamotten auf der Strasse, wieder auf der Strasse, getragen von der Hoffnung auf neue, unbekannte Räume, denen der Weltgeist uns, wenn wir dem alten Hermann trauen dürfen, "jung entgegensenden" will. Der Weltgeist - Gustav Wyneken, dieser Fanatiker - verstand sich gewissermassen als äusserster Vorposten des Weltgeistes, als aktuellste Manifestation dieser ständig vorwärtsdrängenden, vorwärtstreibenden Kraft! Und Geheeb - ach Gott! Geheeb. Er hat uns ja gewarnt, wir sollten keine Biographie über ihn schreiben. Und Oelkers - naja. Das Ende des Tunnels ist in Sicht. Bis 1910 oder 1914 - damit bin ich quasi am Ende meiner Arbeit - plötzlich bereits am Ende! fast am Ende! -, nur der Rest? Ich wollte doch ...

Und ich würde mich noch einmal umdrehen, von der linken auf die rechte Seite, würde ein Kissen, später auch noch das Zweite unter meinem Kopf hervorziehen und auf die andere Matratze legen, um auch auf dem Bauch bequem liegen zu können und würde an das Doppelbett denken - 1 Meter 60 am besten?! - das Doppelbett, das ich mir vielleicht - Konsumgesellschaft?! vielleicht ...

Und irgendeinmal - zwei oder drei Tage später - wenn mir danach wäre und es für mich "stimmen" würde - irgendwann würde ich mich aufraffen, würde mich vor meinen PC setzen - man braucht kein Blatt mehr einzuspannen! und die Maschine, die alte, kann ruhig stehen bleiben unter dem Schreibtisch, eingekoffert in ihr gräulichgrünes Gehäuse - man würde Dir schreiben, würde vielleicht mit "Du poetische, liebe, gute und dünne Yvonne!", beginnen, würde dann das "dünne" löschen, würde es wieder hinschreiben, "Du poetische, liebe, gute und dünne Yvonne" und würde dann vielleicht "Man soll, wenn's kalt ist" oder etwas dergleichen schreiben. Und Du hättest den Brief in Deinen Händen ... und wärest dort in Berlin ... und ich - es wäre seither bereits wieder dies und das geschehen ... und die Weihnachtszeit wäre schon (fast) da, wäre Wirklichkeit geworden, nicht Bevorstehend. Und die lauten Partys der Silvesternacht würden bereits hinter dem dünner werdenden Dunkel der Weihnachtsbäume hervor lugen ... ja, man würde sogar - vielleicht - "lugen" schreiben, ein Wort, das imgrunde längst ausgedient hat und nur noch hie und da zum Einsatz kommt, wenn ein spezieller Effekt erzeugt werden soll ...

Du poetische, liebe, gute und dünne Yvonne! Man soll, wenn's kalt ist und der Winter sich bemerkbar macht, den Ofen gut mit Kohlen füllen und nicht sparen mit dem Heizen! Und auf der Strasse soll man Handschuh' tragen oder nicht -, je nachdem, wozu man lustig und je nachdem was man so braucht! Und? Wie geht's inzwischen? Bei Pina entwickelt sich schüchtern noch aber immerhin eine neue Liebe. Meine scheint sich endgültig ins Gras gelegt zu haben! Und die Deine(n)?

Liebe Yvonne! Wie wär's mit einem Stadtbummel. Heute hat's den ganzen Tag geschneit, und es liegt - ein seltenes Ereignis hier in Basel - Schnee. Nicht Viel, aber doch immerhin, Schnee ... - Ich umarme Dich ganz fest, liebe Yvonne, und wünsche Dir eine schöne Weihnachtszeit! Und Danke für Deinen Brief und überhaupt! Heb Sorg zue dir!