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An Daniel C., 13. März 2003

Hallo Daniel, Danke für Dein reichhaltiges Mail! Es ist technisch und auch sonst gut bei mir angekommen. Am liebsten würde ich bald einmal mit Dir telefonieren, damit ich zu den interessanten und lebendigen Wörtern noch Deine Stimme höre!

Ich habe gestern mal ein wenig im Internet herumgesucht, weil ich mir plötzlich dachte, dass Du als aktiver Schreibemensch dort vielleicht auftauchst, und tatsächlich: Da warst Du! Einmal mit einem Vorwort zu ... na, wie hiessen die Texte: "Augenblicke aus der Nabelperspektive" oder so ähnlich, dann gab's Dich im Zusammenhang mit Hanf und Medizin ... Da war von einer Krankheit die Rede, und auch in Deinem Mail schriebst Du, dass Du das Singen aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hast. Hmm, was ist denn los mit Dir? Ist's schlimm? Ist's ein Geheimnis und wenn ja, ist's eines, von dem Du erzählen magst?Und singst Du gar nicht mehr - auch nicht in "privatem" Rahmen, ohne professionelle Ansprüche?

Ich würde sehr gerne mal ein paar Texte von Dir lesen. Hast Du irgendeine Geschichte, die Du mir mailen könntest? Ich las gestern die Nabelperspektive und einige kürzere Texte von ... ich glaube, sie heisst Esther. Zuerst dachte ich, die Sachen seien von Dir. Das hat mich total verwirrt und auch angetörnt, denn SM ist ein Thema, welches mich seit einiger Zeit stärker beschäftigt als mir lieb ist. Ich weiss nicht, ob in hier für mich noch ein Coming Out fällig ist. Ich würde es gerne herausfinden, doch fehlen dafür zur Zeit die GesprächspartnerInnen.

Oje. Jetzt geht's los mit den Geheimnisen und den inneren Widersprüchen ... Da schreib ich lieber schnell was zum Thema Erziehung. Dieses Terrain fühlt sich sicherer an - viel sicherer als mein verwirrrliches und unentwickeltes Sexleben! - Allerdings ist das Thema auch sehr schnell abgehandelt. Ich denke, Du hast Recht, und das schlimme - das was mich immer wieder total erstaunt ist die Ignoranz oder Naivität, mit welcher die offiziellen VertreterInnen der Pädagogik das Gemetzel schönreden, welches in unseren Schulen im Namen von "Bildung" tag täglich statt findet. Ein vor etwa 10 Jahren erschienenes Buch über Probleme im Bereich der Hochschulen sprach im Untertitel von "Zwangsbewirtschaftung des Geistes". Die bekannte schwedische Reformpädagogin Ellen Key schrieb in ihrem 1900 erschienenen Bestseller "das Jahrhundert des Kindes" von "Seelenmorden in der Schule" ... Aber eben: Die offizielle Pädagogik tut schon seit längerem so, als ob sie nicht begreift, um was es hier geht. Wenn kritisiert oder reformiert wird, dann geht's immer um irgendwelche, letztlich im Grunde belanglosen Details.

Wer das Grundprinzip, auf dem Schule heute nach wie vor basiert - von oben durchgeführte Belehrung - als unmenschlich und illusorisch kritisiert und von "Befreiung des Lernens" etc. spricht, wird angeglotzt, wie wenn er von grünen Kokusnüssen und einem Coiffeursalon im Liftschacht des Marses sprechen würde. Dies jedenfalls ist mein Eindruck. Dabei unterstützt die allgemeine Bravheit unserer let's have fun und versteck Deine Angst-Zeit die kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Schule auch nicht gerade. Voilâ. Das ist mein Beruf. Ich wurde ihm während der letzten Jahre etwas Untreu, habe mich in die Biographie (des Pädagogen Paul Geheeb) zurückgezogen und Ferien im Bereich der Geschichte gemacht, doch ich fürchte, ich muss wieder zu ihm, meinem eigentlichen Beruf, zurück, denn auch im Bereich Schule / Bildung brauchen wir neue Ideen und KritikerInnen, die sich nicht so leicht durch diese oder jene Detailreform betören und beruhigen lassen. Du hast nach meiner Arbeit gefragt. BEvor ich in das Geschichtsprojekt, von dem ich schon geschrieben habe, versunken bin, war ich eine Weile so etwas wie der Guruh der Schweizer Alternativschulszene (Montessorischulen, Steinerschulen, freie Volksschulen und ähnliche Projekte). Das begann ca. 1985-86 mit einem Buchprojekt zu dem Thema und dauerte bis 1994. Dann hatte ich genug von dieser Art Arbeit, brauchte eine Pause. Ausgelöst wurde mein starkes Interesse am Thema Schule durch meine Erlebnisse in der Ecole d'Humanité, einem "alternativen" Internat auf dem Hasliberg, von dem Du wahrscheinlich auch schon einmal gehört hast. Ich habe dort in den 70er Jahren gearbeitet und dabei erlebt, dass Schule wirklich auch anders sein kann. Nicht perfekt, aber wesentlich anders als ich sie an den meisten Orten erlebt habe und noch immer erlebe. Dieses Erlebnis hat mich damals dazu gebracht, Pädagogik zu studieren, und nachdem ich als Päda und Psycholehrer an einem hochwürdigen Lehrerseminar den Weg durch die Institutionen versucht und als für mich untauglich erkannt habe, kam die Zeit als Propagandist und Organisator im Bereich Alternativschulen. Das war eine gute, reiche Zeit mit vielen Begegnungen und einigen "Erfolgen", aber nach sieben oder acht Jahren brauchte ich, wie gesagt, eine Pause, denn tagein tagaus durch die Lande zu ziehen und für die Schweizer Alternativschulen zu werben fand ich auf die Dauer auch nicht mehr so befriedigend, denn eine wirkliche Alternative zur "normalen Schule" sind diese Schulen in den meisten Fällen auch nicht. Jetzt wo mein Ausflug in die Geschichte sich dem Ende nähert fange ich an zu überlegen, als was ich denn in den nächsten Jahren gerne durch die Lande ziehen möchte ... Jetzt aber wirklich Schluss mit diesem Thema.

Ich würde Dir gerne noch viel von mir schreiben, aber das Mail wird lang und eigentlich möchte ich, dass es jetzt gleich bei Dir ist. Deshalb bums und fertig! "Postausgang" und ...

Biib biib biib.

Ganz liebe Grüsse,

Martin

PS: Wenn's mich packt, schreibe ich heute abend noch mehr. Sonst bis bald hoffe ich! Ciao Du.