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Interview mit Rose Clemann

Anfangs September 2006 habe ich meine Tante Rose Clemann interviewt. Sie ist mit ihren Geschwistern in China aufgewachsen und nach dem zweiten Weltkrieg nach Europa gekommen... Ich habe den Text im Jahr 2023 verschriftlicht und gekürzt.

Rose Clemann: Ich habe sehr wenig Erinnerungen an meinen Vater. Einmal hat er mir Rechnen beibringen wollen. Ich war 7 und Annemarie 5. Sie spielte unter dem Tisch. Vater erklärte mir also – ja, er hatte drei Äpfel auf den Tisch gelegt, und dann nochmal zwei. Ich hab gar nicht hingeschaut. Ich habe nur gesagt, weiss ich nicht; und meine jüngere Schwester hat unter dem Tisch gepipfts: 5!
ich mag mich eigentlich nicht mehr an meinen Vater erinnern. Wir zwei Mädchen mussten, sehr schön angezogen, am Sonntag die Legation Street hinauf und hinunter parodieren! Wenn ich nicht eine Fotografie vom Vater hätte, könnte ich mich nicht einmal erinnern, wie er ausgeschaut hat!
Wir marschierten also die Legationsstrasse rauf und runter und da sah man zuerst die Beltische und die Französische, und daneben die Deutsche Botschaft, und das Wagon Lit! Alles versteckt hinter grossen Mauern, Botschaft an Botschaft ...
Er hatte wahrscheinlich eine kaufmännische Ausbildung in Paris gemacht. Dann ist er schon ganz früh – mit 23 oder so - Mit der Firma Ullmann nach Vladivostok gegangen, also noch vor der Jahrhundertwende. Wie ich sehr klein war, schliefen Papa und Mutti und wir zwei fast im Laden, nur abgetrennt von einem paravand. Und da reparierte er wahrscheinlich auch Uhren.
Ernest war ja fast 30 Jahre älter als meine Mutter. Er beschloss nach dem ersten Weltkrieg wieder Franzose zu werden, und damals musste man anscheinend persönlich in Müllhausen erscheinen, um einen französischen Pass zu kriegen. In Peking oder auf dem Schiff verliebte Ernest sich in eine Frau und sie heirateten. Wieder in Peking hatte sich die Frau Umentschieden, und weigerte sich, mit ihm Eine Wohnung zu Teilen. Ernest drohte mit der Polizei und schliesslich wurde das Paar geschieden. Aber die Frau hatte offenbar ein Kind mit ihm. Das ist eine Halbschwester von mir. Damals habe ich das nicht gewusst, diese Sachen wurden vor allem den Kindern gegenüber nie diskutiert. Aber die Halbschwester von mir ging offenbar eine Zeit lang in die selbe Schule wie ich. Ernest Clemann hat dann meine Mutter geheiratet - die beiden haben ja Gründe gehabt zu heiraten! Sie haben sehr bescheiden gelebt; sie hatten gar nicht die Möglichkeit, viele Gäste einzuladen. Und schau, Ernest war ja damals schon über 50!
Nachdem der Vater gestorben war hat Mutti eine Gold- und Silberschmiede eingerichtet. Vielleicht gleichzeitig zogen wir in das Haus mit Garten. Da hatten wir auch Diener. Der Garten, den habe ich geliebt! Mandelbäume gab es dort ,und der Kuli musste im Sommer den Garten giessen.
Es waren keine eigentlichen Häuser, eher Militärbaracken, die man nicht mehr brauchte. Und dann kam ja die Stadtmauer von Peking. Auf der Mauer konnte man spazieren gehen. Ich erinnere mich vage, Vater hat sich damals bemüht eine grössere Wohnung zu kriegen. Da lebten wir 5 Jahre, bis die Japaner kamen, oder vielleicht noch länger. Und dann wohnten wir über dem Geschäft in der Nähe der Legationsstrasse, nicht in der Stadt der Chinesen. Die Japaner wollten die Europäer nicht in dem Chinesischen Teil der Stadt. Die Japaner haben damals dem Slogan kreiert , Asien für die Asiaten! Weisse raus!
Martin Näf: Der Krieg?
RC: Im August 1937 war es in den Westbergen zu unsicher geworden, also hat der Koch beschlossen, die Mädchen und die Ama nach Peking zu bringen. Eigentlich wollten wir alle Rikschas mieten, aber Ama und das kleinste Mädchen hatten eine Rikscha, der Koch, Mimi und ich mussten auf Eseln reiten. Das war spannend! Die Strassen wurden aufgerissen, weil man gedacht hat, die Japaner besetzen Peking. Wie wir Peking erreicht haben, da wurden die Stadttore gerade zugemacht. Wie wir daheim angekommen sind, war Mutter weg. Mutter war auf dem Weg zu den Westbergen, um uns zu holen. Mutti wusste ja nicht, dass wir in Sicherheit waren.
MN: Was weiss du noch über Musik?
RC: Herr Esser kam immer am Dienstagabend. Mutti und Herr Esser haben Klavier gespielt, und uns hat er Figaros Hochzeit mit allen Rollen vorgesungen. Überhaupt. Mutti war wahnsinnig grosszügig. Sie hat immer Gäste eingeladen. Und dann hat Mutti sehr vielen Menschen geholfen, auch Arbeit gegeben im Geschäft und oben in der Wohnung. Mutti liebte Musik. Sie hat einen grossen Plattenschrank gehabt mit unendlichen Platten! Aber ich hab mich nie dafür interessiert! Ich wollte immer nach Europa, um das Ganze wunderbare Leben live zu geniessen!
MN: Und die Schule?
RC: Ja, ganz zu Anfang war ich glaube ich in der deutschen Schule, und dann in der Französischen. Da hat es mir besser gefallen. Ja und dann war ich auf einer Klosterschule. Ich habe dann noch ein bisschen Russisch gelernt und italienisch, dann noch zwei Jahre Chinesisch. Ich habe ein bisschen im Geschäft geholfen und mit dem Kuli eingekauft. Eigentlich habe ich gewartet bis der blöde Krieg vorbei war. Im Krieg konnte man teilweise nicht in die Schule, darum haben sie nach dem Krieg extra Prüfungen abgehalten. Ich habe mich für Englisch, Chinesisch, Französisch, Italienisch, Deutsch und Russisch angemeldet, und oh wunder bestanden!
MN: Hoffnungen auf Europa
RC: Wir gingen dann 1947 wirklich nach Europa, und wir, vor allem Mimi, hatte zuerst fest vor, nach dem Medizinstudium wieder zurück nach China zu gehen. Ich hatte nicht eigentlich einen Plan. Ich wollte Europa geniessen und dann viele, viele Kinder haben und glücklich sein! Mimi hat angeblich der Mutti, nachdem wir in Marseille ankamen, telegraphiert, dass sie in fünf Jahren wieder in Peking sei!
Auf dem Schiff hatten wir eine Viererkabine, natürlich getrennt nach Männlein und Weiblein. Mimi, ich und eine Tschechin mit einem kleinen Kind teilten uns in eine Kabine. Wir mussten an Bord helfen. Am Abend mussten wir uns Schick machen und uns beim Kapitän melden, so eine Art Bewachung von Ferne. Wir waren auf einem Britischen Frachter, also mussten alle an Bord Stramm stehen und auch den König grüssen, und sagen, was wir den ganzen Tag gemacht haben. Der Kapitän war immer besoffen. Einmal hatte ein Matrose auf hoher See eine Dünndarmentzündung. Der Arzt musste den Dünndarm entfernen. Da assistierte Mimi! Ich half dem ersten Offizier, ach, uninteressante Arbeit. Wie wir auf Malaysia ankerten zeigte der Mann der sympathischen Tschechin uns die Plantagen der Gummibäume. Damals war es noch alles Britisches Territorium. Wenn wir an Land waren, da wurden wir, Mimi und ich, von einem Wagon-Lit-Menschen betreut. Es war eine wunderbare Reise.
Als wir in Genua ankamen gingen wir zum ersten Mal ins Theater. Verdi oder so haben sie gespielt, in einem Keller. Aber das Publikum klatschte frenetisch und Schrie -, ich war im siebten Himmel! Das war Europa! Dann die Trennung in Marseille. Jetzt sassen wir im Zug nach Müllhus! Nur Holzbänke gab es da, gestopft voller Leute, dicht gedrängt ... Wir hatten Hunger, aber wir trauten uns nicht zu Essen, weil alle Leute im Abteil so mager ausschauten!
Als wir am nächsten Morgen in Müllhus ankamen, war ich total deprimiert! Sie haben sich schon gefreut, die Anna und der Jean Julien, mein Onkel . Aber die enge Wohnung, kein Bad, zwei Zimmerchen ... Grässlich! Ich ging einen Tag später schon wieder fort!
Weisst du, in Peking hat man uns immer erzählt, wie wunderbar es in Europa ist, und wie fest wir zu bedauern sind, weil wir in China leben! In der deutschen und der französischen Schule zeigte man uns nichts von der Kultur Chinas. Ja, Mutti ging am Sonntag mit uns die vielen Tempel besuchen, und sie machte überhaupt viel mit uns! Aber in der Schule hörten wir nichts von alle dem! Nein, eigentlich waren wir Glücklich in China.
MN: Und vom Krieg?
RC: Auch vom Krieg kriegten wir wenig mit. Peking war ja das Hauptquartier der Amerikaner. Wir haben schon mitbekommen, dass Krieg ist; die Amerikaner haben die Japaner nach Perl Harper in Konzentrationslader gesperrt weil sie jetzt auch in Krieg waren.
Aber schau, die Japaner haben 1937 vor den Toren Pekings gestanden; Peking wurde aber nicht eingenommen. Von der USA unterstützt schlugen Chiang Kai-sheks Truppen den Angriff zurück. Die Japaner haben Nanking Anfang der Dreissigerjahre als Hauptstadt des Reiches ausgerufen ehe der zweite Weltkrieg zu Ende war und die Japaner China verlassen mussten.
MN: Ihr wart auch Chinesen
RC: Ja, ja. Aber der Vater Lu hat immer Deutsch gesprochen, auch der zweiten Frau gegenüber. Sie konnte kein Wort Chinesisch, obwohl sie 40 Jahre lang in China war. Die Mutti musste ja heimlich heiraten, in Pe-Da-Ho. Der Vater hätte sie lieber als unverheiratete Pensionsdame in Peking gesehen, eine Art Magd von Herr und Frau Lu, gezeugt von Herrn Lu in einer dunkeln Nacht, lang ist es her! Mary hat sich gegen den Vater durchgesetzt und hat geheiratet. Sie hoffte vielleicht auch Durch die Heirat mit einem Europäer endlich wieder fort zu kommen von China. Sie hat ja in den 50erjahren, wie sie China verlassen mussten, gesagt, sie gehe jetzt nach Berlin, und wie sie in Berlin war, da habe sie gestrahlt. Ich selber habe sie jedenfalls eher in Berlin gesehen als in München oder – Gott sei mir Gnädig! –Basel!
MN: Und wie ging es weiter?
RC: Also ich war 36 Stunden in Müllhausen, und dann bin ich nach Paris, und auf dem Weg nach Paris hat mir einer gesagt, ich könnte doch in Genf in eine Dolmetscherschule gehen. Das habe ich dann gemacht. Ich musste natürlich auch ein Zimmer haben! Die ersten Vermieter waren entsetzt, dass ich am Abend Männerbesuch habe. Sie schmissen mich sofort raus, die zweiten Vermieter reklamierten immer -, Grässlich: Ich freute mich so auf Europa und dann das! Stur und Engstirnig! Gott sei Dank habe ich in der Uni Vera kennengelernt! Vera ist in Ungarn geboren, und studierte in Genf.
Einmal waren wir in Arosa; ich war zwei oder drei Tage Ski gelaufen und dann haben die Jungs gesagt, kommt doch mit auf die Par Senn! Die Jungs waren sehr bemüht, und am Schluss sind wir alle Heil runtergekommen -, aber geschwitzt habe ich, und wie wir unten ankamen war es Nacht, aber es hat Spass gemacht!
Wir waren auch in einem Lager in der Nähe von München. Wir, Mimi, Toni und ich waren in einem alten Bunker einquartiert. Was mich erschüttert hat waren die Strassen von München: Alles zerbombt. Wir waren auch einmal bei einer Familie eingeladen, und da haben sie uns Geschwellte Aufgestellt, nur Geschwellte! So arm war das Leben in Deutschland damals. Der Toni und ich waren da, ich bin nicht sicher, dass die Mimi da gewesen ist. Der Mann war Schriftsteller. Sie hat auch geschrieben oder gemalt. Und
dann mag ich mich erinnern, dass wir im Sommer 1949 ein Lager für tausende junger Menschen besucht haben, und lange Diskussionen darüber hatten, wie die Welt verändert werden muss! Das Lager war äusserst spannend. Da wohnten wir in Zelten, und zehn Zelte waren ein Dorf. Und als Abschluss dirigierte Walter Furtwängler die 9. Von Beethoven! Das war Europa -, kommunistisch oder nicht, das war für mich Europa! Und da kam die Umstellung von der Reichsmark auf die D-Mark! Der Toni hat das alles organisiert, ich hab daran teilgenommen!
Der Helmuth aus Zofingen kam dann auch dazu, und ich konnte mich nicht entscheiden, wen ich lieber hatte! Helmut Kutschierte mich im Sommer 1949, als ich immer noch in Genf studiert habe, nach Müllhausen wie Jean Juliengestorben ist. Er war immer noch sehr verliebt in mich! Wie Mutti und Marthe im Sommer 1951 In Marseille angekommen sind, da war ich auf dem Schiff. Helmut, Seele von Mensch, und ich glaube Mimi haben sie in Marseille abgeholt und sie haben ihnen auf dem Rückweg alles gezeigt, was es zu sehen gab. Auch meine Bude in Genf, rührend von ihm!
Die Eltern Toni Stöcklis waren phantastisch. Vier Kinder hatten sie: Walter, Toni, Annelis und noch einer. Mimi und ich waren immer bei ihnen Weihnacht feiern. Wir hatten genau die gleichen Geschenke wie die Kinder Stöcklis! Herr Stöckli war schwierig, und Frau Stöckli hat den Mann verhätschelt! Mit Toni habe ich 1948 per Motorrad England entdeckt.
Ja, dann musste ich Arbeiten. Zuerst etwas sehr langweiliges, und dann war eine Stelle ausgeschrieben als Assistent Officer, das war genau für mich! Und ich hab die Stelle auch bekommen. In Neapel bin ich aufs Schiff, Toni und Helmut war ich Gott sei Dank los. Aber ich war schon etwas nervös wie ich vor 3000 Menschen stand und nicht wusste, was ich machen sollte. Fair Sea hiess das erste Schiff. Zwei oder drei Mal fuhren wir die misplaces persons nach Australien, und leer wieder nach Europa. Dann ging der Indonesische Aufstand los und da mussten die Schiffe auf dem Rückweg Holländer nach Europa transportieren. Wir flogen direkt wieder nach Europa, um andere Misplaced Persons nach Australien zu bringen. Ich mag mich erinnern, dass wir eine Woche gebraucht haben, um wieder in Europa zu sein. Das war alles sehr aufregend. Brisben, Singapur, Katar , Karatschi und dann waren wir in Hamburg. Und dann wollte ich auf die Nord-Atlantische Rute.
Ja gut. Es war zwischendurch schon etwas prekär. In der ersten Nacht auf See kam einer und sagte, du musst aufs fünfte Unterdeck, da hauen sie sich mit Messern tot. Das kam schon vor. Ja, und dann haben sie gemeutert , und da bin ich auf einen Tisch geklettert und habe gesagt: Ihr habt die Wahl, benehmt euch wie zivilisierte Menschen oder wir kehren um und liefern Euch im Lager ab. – Ich habe gehofft, es nützt , ich wusste nicht was anderes machen.
Ich wusste auf dem Schiff Aufgaben verteilen. Die Kinder hatten Schule; andere habe ich gebraucht, um unendliche Formulare auszufüllen, vielen musste man Helfen, weil sie kein Englisch sprachen oder nicht Lesen konnten, andere haben das Deck geschruppt oder in der Küche geholfen. einige sind verwirrt oder einfach krank oder sie haben Simuliert. Es gab auch solche, die ein Bein oder einen Arm verloren hatten ... die Fahrt dauerte sechs Wochen, da musstest du sie alle Beschäftigt halten! Die Rute Neapel Australien habe ich 4 oder 5 Mal gemacht, und dann habe ich die Schiffe 20 Mal nach USA oder nach Kanada begleitet. 1954 ungefähr hörte ich auf den Schiffen auf.
Einmal gab es eine Kollision. Ich war gerade unter der Dusche, wie es passiert ist. Also ich an Deck, das andere Schiff namens Maipo war am Sinken. Es war ein Argentinisches Schiff voll von Deutschen, die die Verwanden in Deutschland besuchen wollten. Obwohl die Crew sie gedrängt hat, ins Rettungsboot einzusteigen, hat die 94jährige Frau seelenruhig alles gepackt und dann ist sie, als Letzte, ins Rettungsboot gestiegen! Das hat mich sehr beeindruckt!
Ja und dann habe ich gekündigt. Eine Zeit lang haben wir in Zürich gewohnt. Martheli, Mutti und ich, und ich suchte eine neue Stelle. Wieder in Genf habe ich eine gefunden: Ein Deutscher Mensch war Vorgesetzter! Grässlicher Mensch. Ich habe auch mehr und mehr erfahren, was im Krieg alles los war! Der deutsche Chef und ich haben uns nicht verstanden! Gott sei Dank haben sie mich dann nach Wien geschickt, weil der Aufstand in Ungarn losgegangen ist.
Das Lager war in Kreiskirchen in der Nähe von Wien an der Grenze Ungarns. Ich habe nichts wichtiges gemacht. Die Wiener Bevölkerung war sehr Hilfsbereit. Die haben die Flüchtlinge aufgenommen. Ich musste die Menschen registrieren und in den einzelnen Botschaften Nachfragen, wenn etwas nicht klar war. Dann war ich 20 Jahre lang in der Atombehörde in Wien, und dann, von 1975 bis 1992 in Paris als Organisator von Konzerten von Barenboin.