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LASST UNS DIPLOME UND ZEUGNISSE ABSCHAFFEN

Man kann vieles, nur wir trauen uns nicht. - NELLY HALDI IM GESPRÄCH MIT MARTIN NÄF, PROJUVENTUTE 4. 1989

ACTIOHUMANA: An derAussen- mauer einer Schule in Bern war lange Zeit die Frage hingesprayt: «Wann lernen wir leben?» Könnte sie programmatisch sein für das Anliegen, das Sie mit Ihrem Buch «Alternative Schulformen in der Schweiz» vertreten?

MARTIN NÄF: In gewissem Sinne ja. Ich höre daraus die Frage: Wann beginnt das wirkliche Leben? Wann habe ich den Raum, die Freiheit, mich mit dem zu beschäftigen, was mich wirklich bewegt: menschliches Zusammenleben, Liebe, Sex, Träume, Beruf, Lebenssinn, Musik, Höhlenforschung? Wo finde ich Interesse, Anteilnahme, Unterstützung dafür? Gemeint sind nicht Schulstunden, in denen eines dieser Themen «behandelt» wird. Alle diese Fragen müssten in unserem Leben allgemein mehr Platz haben, unter anderem auch in der Schule. Dann wäre es vielleicht möglich, in einer gewöhnlichen Französischstunde das Drogenproblem anzuschneiden, weil es einen Schüler - oder einen Lehrer - so stark beschäftigt, dass er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren kann. Denn alles, was Schüler und Lehrer im negativen oder positiven Sinn bedrängt, wirkt sich unterschwellig auf das Lernen in einer Klasse aus. Bei grossen Problemen oder bei Anfällen von Lebenslust - weil die Sonne so schön scheint oder der erste Schnee gefallen ist - lässt sich Konzentration nur durch starken äusseren Druck aufrechterhalten. Wenn wir uns, der Ordnung zuliebe, jahrelang dazu erziehen, uns auf den «Stoff» zu konzentrieren, verlernen wir aber, auf unsere eigenen Bedürfnisse zu achten und unsere Wünsche und Sorgen ernst zu nehmen. Als Erwachsene sind wir dann sehr oft kaum mehr fähig, wahrzunehmen, woran wir denn eigentlich leiden, wenn wir leiden, oder worauf wir eigentlich Lust haben, wenn man uns danach fragt. Wir nehmen so viele unangenehme äussere Bedingungen - auch ganz banale Dinge wie einen unbequemen Stuhl im Büro und ähnliche «Nebensächlichkeiten» - in Kauf, weil wir gelernt haben, uns damit zufriedenzugeben - nach dem Motto: «Man kann nicht alles haben.» Das ist polemisch : Wir wollen ja gar nicht alles, aber vielleicht etwas mehr. Dies zu realisieren und dann auch auszusprechen, braucht Mut; es hat etwas Anrüchiges. Wir sollten uns aber als einzelner Mensch und als Gesellschaft die Freiheit nicht nehmen lassen, nachzudenken und immer wieder zu fragen: Macht mich, macht uns das glücklich? Will ich, wollen wir das so?

AH: Das bedingt, dass man auch gelernt hat, wo diese Freiheit ihre Grenzen hat.

MARTIN NÄF: Auch Verantwortungsgefühl und Disziplin brauchen Zeit und Raum, um sich zu entwickeln. Man muss auch die Möglichkeit haben, aus Fehlern zu lernen. Als ich im Gymnasium war, kam unser Deutschlehrer plötzlich mit der Idee der Gruppenarbeit. Wir erhielten eine bestimmte Anzahl Stunden Zeit, um in kleinen Gruppen frei eine eigene Idee zu realisieren. In meiner Gruppe geschah nichts, was man am Schluss als Resultat hätte vorweisen können. Wir mussten uns irgendwie herausreden: Das klassische Beispiel dafür, wie jemand aus einer festen Struktur herausfällt und dann mit der freien Zeit nichts anzufangen weiss. Aber auch das wäre eine nützliche Erfahrung, wenn man sie ernst nehmen und der Frage nachgehen würde, weshalb das so ist.

AH: Sie zeichnen im Vorwort zu ihrem Buch ein ausserordentlich düsteres Bild unserer Schulen. Sie werfen ihnen Macht, Gewalttätigkeit und Selbstherrlichkeit vor. Sie sprechen von «durch die Schule verursachter innerer Entwurzelung und Entmutigung», von «Beschädigung unseres Innern», von «Misere». Übertreiben Sie da nicht?

MARTIN NÄF: Man darf nicht verallgemeinern. Trotzdem ist mein Urteil pauschal. Wenn wir das Schulzimmer einer achten oder neunten Klasse betreten, ist es eine Tatsache, dass wir wenig Freude an der Schule vorfinden. Die Schüler sind aber noch durchaus lebendig; offensichtliche Symptome oder gar Schäden sind wenige festzustellen. Aus Untersuchungen, die in der Bundesrepublik Deutschland gemacht wurden und deren Ergebnisse sich sicher in einem bestimmten Mass auch auf die Schweiz übertragen lassen, wissen wir, dass viele Schüler Antidepressiva oder Beruhigungsmittel einnehmen. Das macht mich gegenüber diesem scheinbar intakten Bild misstrauisch. Wie viele dieser Schüler haben am Sonntagabend vor Schulbeginn, am Montag Magenschmerzen? Wie viele schlucken Pillen? Mehr Beschädigung braucht es nicht; der Prozentsatz wird völlig unwichtig. Wenn wir uns nun das Bild einer idealen Schule vorstellen, einer Schule, wie sie sein sollte, nämlich einer Schule, die dem grossen Teil der Schüler Spass macht und die der grosse Teil der Schüler gestärkt und bereichert verlässt, so sehen wir wieder, mit wie wenig wir uns zufriedengeben im Leben. Im Rahmen meiner Ausbildung habe ich auch Erfahrungen mit psychotherapeutisch orientierten Selbsterfahrungsgruppen gesammelt. Ich habe dort viele Erwachsene getroffen, die sagten: «Ich weiss nicht, was ich will», «Ich traue mir nichts zu»,«Ich habe Angst». Ich habe miterlebt, wieviel Kraft, Mut und Arbeit es für diese Menschen braucht, um nach und nach den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen, ihren eigenen Bedürfnissen, Träumen und Gedanken freizuschaufeln. Das waren keine Psychiatriepatienten, sondern ganz normal funktionierende Menschen aus dem Mittelstand. Wenn man sich dieser Beschädigung, dieser Entmutigung, dieser inneren Verlassenheit, die im Alltag ja meist nicht sichtbar ist, bewusst wird, so sieht man, glaube ich, bald, dass ich nicht übertreibe. Natürlich trifft die Schuld nicht nur die Schule. Die Schule ist ein Einfluss unter vielen. Ich möchte in bezug auf die Schule einen Anstoss zum Nachdenken geben.

AH: Eine Schule, die Sie in Ihrem Buch als «Missverständnis» bezeichnen. Wieso das?

MARTIN NÄF: Ich möchte damit ausdrücken, dass die Situation in unseren Schulen nicht auf Böswilligkeit der Eltern oder der Lehrer zurückzuführen ist, die die Kinder unterdrücken wollen, sondern eben auf einem Missverständnis beruht, das lautet: Je mehr vom selben, desto besser. Um ca. 1830, als man begann, die Schule wirklich ernst zu nehmen
, wurden die vier Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen und Geographie unterrichtet. Ein Kind besuchte damals insgesamt rund 3000 Schulstunden. Um 1900 waren es 7000-8000, heute sind es etwa 15 000. Zu den vier Fächern kam ein fünftes, dann ein sechstes usw. hinzu, in der Annahme, der Nutzen würde dadurch vervielfacht. Dem ist aber nicht so. Der Mensch hat einen gewissen «Wissensdurst» oder «Bildungshunger». Wenn er aber gezwungen wird, mehr an geistiger Nahrung in sich aufzunehmen, mehr zu lernen, als er von sich aus will, so ist das für ihn genauso ungesund und qualvoll, wie wenn er gezwungen wird, mehr zu essen, als er essen will. Dazu kommt ein Widerspruch. Für die meisten von uns ist heute klar: Nur was wir für uns selbst erleben und lernen, ist bedeutsames Lernen, ist Lernen, das uns bildet, uns grösser und stärker macht und uns innerlich Halt gibt. Die Schule geht aber immer noch davon aus, dass man dem Menschen etwas beibringen kann, dass er wie ein unbeschriebenes Blatt oder leeres Gefäss sei, das man beschreiben oder füllen könne. Sie hat ihre Methode seit 1830 nie grundsätzlich geändert. Man spricht zwar immer davon, dass die Interessen der Schüler, ihre Eigenaktivität, der Einbezug ihrer Fragen usw. wichtig seien. Den Unterricht wirklich danach zu richten, traut man sich dann aber doch nicht so recht. Zwar gibt es heute etwas weniger Frontal-Unterricht und etwas mehr Freiraum für freie Einzel- oder Gruppen-arbeiten. Der Stoff ist aber nach wie vor zum grössten Teil verplant. Ein Lernprozess ist aber etwas ganz Individuelles, ihn kann man nicht planen. Wenn man darauf beharrt, ist das nicht Lernen, sondern ein sich Anpassen, Indoktrination.

AH: Sie würden deshalb am liebsten das Schul Obligatorium abschaffen.

MARTIN NÄF: Das alles wäre nie zu einem Problem geworden, wenn man in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts nicht noch das Schulobligatorium geschaffen hätte. Ursprünglich eingeführt, damit das Kind einen Freiraum für seine eigene Entwicklung erhält und nicht sofort in den Arbeitsprozess eingespannt wird, hält das Obligatorium heute die Schule zusammen. Es dient nicht mehr dazu, den Kindern eine Chance zu geben, sondern um sie vom Davonlaufen abzuhalten.

AH: Können Sie sich eine Abschaffung des Obligatoriums vorstellen ?

MARTIN NÄF: Zumindest eine Lockerung oder eine Reduktion, vielleicht auch eine Umwandlung der Schulpflicht in ein Recht auf Bildung. Die Veränderungen könnten ganz unspektakulär und allmählich einsetzen. Weshalb sollte nicht ein Kind, das glaubhaft den Schulverleider hat, einmal ein halbes Jahr auf einem Bauernhof oder sonst irgendwo verbringen können, bevor es vielleicht krank wird oder es in der Schule zu einer grossen Krise kommt? Vielleicht könnte das Kind danach wieder in dieselbe Klasse zurück; man müsste halt darüber reden. Warum soll der Staat aus seinen Steuergeldern nicht auch eine Schule unterstützen, die von Eltern ins Leben gerufen wurde und geführt wird? Warum ist es nicht möglich, dass jemand nur hin und wieder zur Schule geht und sonst vor allem für sich lernt? Ich würde mich freuen, wenn unsere Bildungslandschaft auf diese Weise, also durch die Umwandlung der Schulpflicht in ein Recht auf Bildung, allmählich wieder zum Leben erwachen würde.
Solange allerdings die Berufschancen weiterhin fast völlig von den absolvierten Schulen abhängen, würde dieser «inoffizielle Schulzwang» nach wie vor bestehen. Deshalb müssten wir wohl einen weiteren Schritt in Erwägung ziehen: die Abschaffung oder das Verbot aller Schulzeugnisse und Diplome. Damit würden die ausserhalb der Schule gemachten Erfahrungen vielleicht endlich wieder «konkurrenzfähig». Wo, wann oder wie jemand etwas gelernt hat, würde plötzlich weniger wichtig, wenn er oder sie die Sache nur kann. Das Lernen würde gewissermassen aus dem Ghetto befreit, in das es im Laufe der letzten 200 Jahre hineingeraten ist. Lernen, Fragen, Herumgucken und Ausprobieren würden plötzlich wieder allgemein verbreitete Dinge. Wenn wir neugierig und wach wie kleine Kinder wären - und wir würden es dann vielleicht allmählich wieder -, dann könnten wir auf Bauplätzen, in Supermärkten, an Strassenkreuzungen, auf Dachböden und Müll-halden, vor Zeitungsständen und an tausend andern Orten - manchmal vielleicht sogar in sogenannten «Schulen» - alles lernen, was wir uns nur vorstellen können! Ich sage nicht: Das muss so sein. Wie ich schon erwähnte, möchte ich mit meinen Überlegungen zum Nachdenken anregen. Zum Nachdenken darüber, ob wir uns nicht zu früh mit einer Schule abfinden, die uns vielleicht nicht gerecht wird.

AH: Glauben Sie, bei den alternativen Schulformen wie die Montessori-Schule, die Rudolf- Steiner-Schule, die Freien Volksschulen, die in Ihrem Buch vorgestellt werden, sei das eher der Fall?

MARTIN NÄF: Es gibt überall Schulen und Lehrer, die es versuchen; manche Lehrer bis an die Grenze ihrer Kräfte. Für mich sind die alternativen Schulen nur ein Schritt einer Entwicklung, die weiter gehen müsste. Die alternativen Schulen sind noch sehr stark Schulen. Sie stehen unter ähnlichen Zwängen wie alle andern Schulen. Im allgemeinen ist es aber für die Erwachsenen dort von der Struktur her einfacher, die Kinder zu spüren, wahrzunehmen, mit ihnen zu arbeiten und zu lernen, statt sie zu «unterrichten».

AH: Sie haben gesagt, die Schule sei ein Einfluss unter vielen. Weshalb beschäftigt Sie gerade die Schule so sehr?

MARTIN NÄF: Wir leiden alle darunter, dass wir eine Konsumgesellschaft sind. Wir leiden darunter, dass wir eine Konkurrenzgesellschaft sind, dass wir eine Gesellschaft sind, die sich selbst und die ganze Welt mit blindwütiger Energie zu zerstören scheint. Ich denke, unsere Schulen sind ein Teil dieser Gesellschaft; in ihnen werden, verallgemeinert gesehen, genau die Verhaltensweisen und Einstellungen produziert, von denen heute viele Menschen wegkommen wollen und von denen wir wohl auch wegkommen müssen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen. Wie wollen wir aber beispielsweise von einer an äussern Werten, an Geld, schönen Kleidern, dem teuren Auto und ähnlichen Dingen orientierten Lebenshaltung wegkommen, wenn wir keine anderen Werte kennen? Die berühmten inneren Werte müssen wachsen und sich entfalten können. Lust an geistiger Auseinandersetzung scheint an unsern Schulen aber eher zu verkümmern als zu wachsen. Neugierig und wach zu sein, eigene Interessen zu haben und zu verfolgen, auch menschliche Anteilnahme oder die Fähigkeit zu träumen und ähnliche Dinge stören unsern Schulbetrieb jedoch eher, als dass sie dort Platz hätten und willkommen wären. Damit verödet der Mensch innerlich. Es stirbt etwas ab, das nicht so schnell wieder lebendig wird, auch wenn wir später noch so sehr danach rufen. - Ich befasse mich mit der Schule also nicht nur deshalb, weil mir die vielen Menschen, die jeden Tag in und an ihr leiden - darunter nicht zuletzt viele Lehrer - leid tun. Ich befasse mich mit der Schule auch, weil es mir für die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft wichtig scheint, dass wir auch in diesem Bereich endlich lernen, kritisch und gründlich zu denken und den Mut entwickeln, Altes aufzugeben und Neues zu erproben.

Copy 1989 Martin Näf