An Renzo C., 2. April 1991
Nun. Liebes Politbüro. Was kann man denn da tun, wenn die Leute am Montag auf der Strasse aufmüpfige Parolen rufen und auch im düstern Regierungszimmer liberale Gedanken herumzuschwirren beginnen, wenn Erich mal nicht hinkuckt. Ach Erich. Du bist ein guter Kerl. Hast's ja wirklich gut gemeint! Gell. Reformvorschläge!
Z.B. (unter der Überschrift "allgemeines hineinfühlen und hineindenken in die Welt der Montagsdemonstranten"):
Mal bei Peter Tommen im Buchladen (Rheingasse) ein wenig herumstöbern nach Romanen und andern Büchern über's Schwulsein. Z.B: Baldwin, James: "Zum greifen nah". Supergutes Buch; viele Themen drin. Auch Schwulsein. Sehr human. Vielleicht etwas lang. Wenn viel andere Arbeit anliegt vielleicht und der Klappentext nicht vom Hocker reisst vielleicht besser was kürzeres. Kenne leider selbst nichts anderes. Doch wenn das Politbüro mal hingeht und kuckt taucht vielleicht interessantes auf.
Vielleicht auch mal Zeitschriften bekucken. Auch bei Tommen erhältlich? Oder am Bahnhofskiosk. Eine grosse deutsche Schwulenzeitung mit dem Titel "Magnus". Könnte auch durch Vertreter der Montagsdemonstranten ans Büro geliefert werden. - Lektüre grundsätzlich unverbindlich.
Kontakt aufnehmen mit anderen Regiemn in ähnlicher Lage. Über drohende Destabilisierung, mögliche Reaktionsweisen, machbare Reformen etc. diskutieren. Konkrete Möglichkeiten: Von der HABS (homosexuelle Arbeitsgruppen Basel Stadt) angebotene Gesprächsgruppen (ohne "fachkundige" Leitung; Typ Selbsthilfegruppe. Manchmal gibt's gut laufende Gruppen. Manchmal gibt's keine). Tel. HABS 692 66 55 (Beratungstelefon zu bestimmten Zeiten. Näheres im Telefonbuch). Ferner evtl. anrufen: Werner Jenzer: 61 23 35. Dieser wurde bereits von den Montagsdemonstranten kontaktiert. War nie zu Hause. Hat vor ca. einem Jahr per Inserat Interesse bekundet, eine Selbsterfahrungsgruppe für schwule oder vielleicht schwule Männer zu machen, um über gemeinsame Sorgen, áŽángste odr Hoffnungen etc. zu sprechen.
Regelmässige Gespräche über die Situation innerhalb des Politbüro's. Hinter verschlossenen Türen. Z.B. in einem Tagebuch: Dialog zwischen den konservativen und den liberalen Kräften. Immer wieder schreiben. Evtl. auch als Selbstgespräch. Evtl. angeregt durch oben genannte Lektüren oder Gespräche mi anderen, evtl. ohne solche Beeinflussung. Z.B.: Aufschreiben: Dialog mit den Eltern: Sohn kommt, sagt "ich bin Schwul". Eltern reagieren ??? Was sagt Vatern, was Muttern. Was sagt Sohn. Evtl. auch malen oder andere Mittel des Ausdrückens. Ziel Entdeckung und Auseinandersetzung mit vorhandenen Vorstellungen und Gefühlen. In ähnlicher Richtung, das heisst als Arbeit mit sich selbst (interne Arbeit) wären möglich: Erinnerungen der Politbüromitglieder an ent- und ermutigende Erlebnisse während der letzten 30 Jahre. Ziel: Klareres Verständnis für die heutige Situation. Aufarbeitung der Geschichte als Möglichkeit einer evtl. Weiterentwicklung. Versuch von Kontaktaufnahme mit alten Gefühlen in Gesprächen, im Selbstgespräch in der Badewanne: Thema "Der Andere Renzo-, die Geschichte seiner "Versklavung".
TÞ
-Ì
ÌSchreiben, sich Erinnern etc. evtl. schwierig, harzig. Hilfreich um in
Stimmung zu kommen evtl. lange Spaziergänge. Vielleicht in den Bergen: VonÜr[1]Ü
oben sehen unsere Angelegenheiten manchmal anders aus. Ziel nach wie vor:
innere Auseinandersetzung. Förderung des Meinungsaustausches innerhalb des
Politbüro's.Þ
TÞ
-Ì
ÌWenn schreiben nicht harzig, sondern ergiebig scheint, um mit sich in
näheren Kontakt zu kommen, vielleicht auch einfach mal Erinnerungen
aufschreiben: Erinnerung an diue Zeiten in Solothurn, an Zolikofen, an
Basel nach 1980 etc. etc.: nicht chronologisch; nicht stressig; nur
Schreiben was kommt. Versuchen, wenig zu denken. Die Bilder und das Herz
schreiben bzw. sprechen lassen.Þ
TÞ
Z.B.Ì
Ì(unter dem Titel "gezielte Auseinandersetzung / konkrete Schritte"):Þ
TÞ
-Ì
ÌEin Wochenende Selbsterfahrungsgruppe, evtl. Gesprächsbasis, evtl. auch
eher körperorientierter Ansatz (Bioenergetik). Keine Fixierung auf Thema
Schwul, aber grundsätzliches Interesse, sich evtl. auch darauf einzulassen,
wenn es hochkommt. Weitere Wochenendseminare können folgen, wenn sie
sinnvoll scheinen, sonst andere Wege suchen, z.B.:Þ
TÞ
-Ì
ÌGedanken an Therapie nochmals ernstlich prüfen: Politbüro müsste u.a.
klären, ob tatsächlich keine Zeit für Therapie da ist (Aufwand pro Woche
mit An- und Abreise ca. 2 bis 3 Stunden) oder ob andere Bedenken im
Vordergrund stehen. Suche nach geeignetem Therapeut (oder Therapeutin) kann
etwas mühsam sein: das Herz muss Ja zu einem Therapeuten sagen!
Kostenfrage evtl. über Krankenkasse lösbar. Manchmal wird reduziertes
Honorar verlangt. Diese Möglichkeit wird von den Montagsdemonstranten
befürwortet; könnte sehr hilfreich sein. Diskretion garantiert. Hilft
lediglich Entscheidungen vorzubereiten, zwingt zu nichts. Kann evtl. auch
die Konservativen Kräfte stärken, was für die kommenden
Auseinandersetzungen mit den Montäglern evtl. sehr wichtig sein könnte!
Weitere Möglichkeiten:Þ
TÞ
-Ì
ÌMit Ruth über das ganze Thema sprechen (Motto: dem mutigen gehört die Welt
/ Sprung ins kalte Wasser)Þ
TÞ
-Ì
ÌMit Pina sprechenÞ
TÞ
-Ì
ÌMit anderen Menschen sprechen: nachdenken, wer da in Frage käme (alle
Vorschläge "kein muss•!)Þ
TÞ
-Ì
ÌAn ein Seminar ins Waldschlösslein (BRD) gehen. Vorteil: weit weg.
Tendenziell gefahrlos. Evtl. zu heavy (= schwer), weil zu Schwul und weil zu viele fremde Menschen.
Z.B. (unter dem Titel: "Hallo wir leben noch"):
Dir jeden Tag bewusst irgendwas gutes tun: was gutes kaufen, ein Stück schöne Musik hören. 5 Minuten still auf den Balkon sitzen und dich dabei wenn möglich ganz fest mögen!
Die Mitgliedern des Politbüro's nach Dingen fragen, zu denen sie Lust hätten. Sie werden zuerst vielleicht nicht viel sagen, aber Lüste und Wünsche sind sicher da, z.B. Abendessen im Elsass; ein Theaterwochenende in der Villa Saperlott in Arlesheim; ein schönes Konzert; ein neues Bild für die Wohnung; einen Ausflug nach Solothurn; eine Fahrt auf's Jungfrau Joch; einen Abend im Bahnhofbüffet in Biel; ein Wochenende im Frack in Salzburg; einmal eine Ballonfahrt mitmachen; sich eine Gitarre kaufen; in einen guten, spannenden Chor eintreten trotz Semi und anderen Pflichten; sich bei der Baseldeutschen Bühne melden und fragen, ob sie eine Rolle für einem haben; an einem Sonntag Morgen mit dem Schiff nach Rheinfelden fahren (mit oder ohne Begleitung) und auf dem Schif frühstücken; einmal Reietn gehen oder sonst was sportliches tun (schwimmen? Tanzen); Gesangsstunden nehmen; ein Herbar anlegen (Buch mit gepressten Pflanzen) u.a.m. Ziel: merken, dass man nicht nur Probleme und Knörze, sondern auch viel Lebendigkeit in sich hat. Diese Lebendigkeit nicht vor lauter Kummer verkümmern lassen!!!!!! (wir von den Montäglern ebensfalls sehr empfohlen).
Ganz ganz lieber Renzo!
Es ist wirklich kalt hier, und mit meinen steifen Fingern schreibt sich's immer schlechter. Ich habe mal schnell ein wenig von dem aufgeschrieben, was ich so denke, wenn ich mir überlege, wie du dich konkret mit den Themen, die ich dir in gewissem Sinn aufdränge, auseinandersetzen kannst. Ich denke jetzt ich hätte es ordentlicher machen müssen, ernsthafter, weniger stichwortartig, damit keine Unklarheiten bleiben. Doch ich lasse es mal so. Ganz wichtig scheint mir einfach, dass Du versuchst, irgendwie mit den diversen Stimmen in deinem Innern, also den verschiedenen Kräften im Politbüro, im Gespräch zu bleiben oder ins Gespräch zu kommen. Gespräche mit andern Menschen, Schreiben, Anschauen von Photoalben, Aufsuchen alter Orte, Versuchen, Dich wieder mehr an Deine Träume zu erinnern ... vieles ist möglich. Du musst ein wenig spüren, was für Dich funktioniert. Therapie fände ich gut, auch um dem Druck der Demonstranten da wo es für Dich richtig und nötig ist, leichter Stand halten zu könne, denn: viellleicht ist Veränderung wirklich nicht das richtige, und vielleicht drängen diese Demonstranten, d.h. z.Z. vor allem ich, dich wirklich immer wieder zu mehr als für Dich gut ist. Ich weiss nicht, ob ich Dir da wirklich richtig helfen kann, denn ich bin Partei. Ich würde mich sehr freuen, wenn die liberalen Tendenzen in der Regierung nach und nach mehr Einfluss hätten, und ich fürchte, dass ich nicht immer froh und wirklich offen mit den konservativeren und vielleicht ängstlicheren Menschen im Politbüro sprechen kann, auch wenn ich mir wirklich Mühe geben will, auch sie zu verstehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch sehr wichtig ist immer wieder mal die ganzen Probleme zu vergessen und nach dem Motto "wir leben noch) einmal einfach Dinge zu tun, die dir Spass machen. Das können ganz kleine, banale Dinge oder grosse Unternehmungen. Vielleicht Dinge, die du schon lange mal ausprobieren wolltest oder Dinge, die Du früher einmal gerne getan hast ... Auch hier musst du dir ein wenig Zeit nehmen, um dies und das zu finden. Der Besuch bei deiner Grossmutter in der weise, wir wir letzte Woche davon geredet haben, könnte eines dieser "Experimente" zur Belebung des allgemeinen Lebens sein, und natürlich noch ganz viel anderes.
Jetzt klingt mir dies alles ein wenig belehrend. Vielleicht auch ein wenig theoretisch. Es sind halt mal Ideen.
Dank meinen insgesamt doch guten (ja ich finde sogar sehr guten) Kontakten zum Politbüro wage ich es, diesem meine Vorschläge auf so formlose Weise zu unterbreiten. Ich stehe zu weiteren Auskünften oder auch ein ausfürhlichen Gespräch selbverständlich jeder Zeit gerne zur Verfügung, ja würde ein solches um der Sache willen sehr begrüssen. Gerne erlaube ich mir deshalb, diesbezüglich in den nächsten Tagen mit ihrem Sekretär, Herrn Renzo C., Kontakt aufzunehmen und einen entsprechenden Termin zu vereinbaren.
Mit grosser, grosser Zuneigung,