An Thomas-Maria R., 22. Dezember 2009, Basel
Das mit der Traurigkeit ist nicht so schlimm. Ich hab's gestern eher als Köderwort (oder Codewort) benützt - vielleicht hab ich geahnt, dass es dich aufhorchen lässt ... Also voll manipulativ. Was mich zwischendurch betrübt ist meine Heimatlosigkeit - keine Familie, zu der ich "gehöre", keine Kirche, bei der ich mitmache, keine Arbeit, die mich erfüllt ... Die Betrübnis ist naiv, denn ich wähle ja meinen Weg immer wieder, und ich weiss auch, dass all dieses Dazugehören und Eingebundensein genauso seinen Preis hat wie meine "Heimatlosigkeit" auch ihre wunderbaren Seiten hat.
Das Thema ist zur Zeit wieder mal besonders akut, weil ich das ganze Jahr mit einer englischen Organisation im Gespräch über mögliche Einsätze in einem Drittweltland war. Ich denke, ich hab dir im Sommer davon erzählt. Der Prozess war mühsam. Viele Formulare ausfüllen. einen Tag nach London, mehr Formulare, vier oder fünf Tage Ausbildung in Holland und dann noch drei in Birmingham. Aber ich habe an die Projekte in Rwanda oder Ghana gedacht, die im Oktober und November aktuell wurden und war eigentlich guten Mutes, dass sehr bald - im Januar oder Februar - neuer Schwung in mein Leben kommen würde. Nicht, dass ich das Gefühl habe, als Westmensch in Afrika irgendwelche Karren aus irgendwelchen Sümpfen ziehen zu müssen, aber auf Begegnungen, Gespräche, Staunen, Fragen, Lachen und wieder Fragen hab ich mich gefreut. Auch auf ein Bisschen Abenteuer - mit dem alten Toijota wie eine Gazelle über miserable Wege preschen - in einem Einbaum aus dem 18. Jahrhundert übers Meer segeln ... Du erinnerst dich! Meine innern Fragen wären durch 6 oder 12 Monate Afrika sicher nicht vom Tisch, aber eine interessante Ablenkung wäre eine solche Zeit jedenfalls. Nun, so hab ich gedacht. Inzwischen hat mich die Englische Organisation jedoch aus dem Pool ihrer Volunteers gestrichen ... Während des letzten Ausbildungskurses in Birmingham haben sie gemerkt, dass ich dazu neige, andere zu dominieren und Diskussionen in Richtungen zu drängen, die nicht vorgesehen sind ... Laut der drei Trainerinnen in Birmingham hätte ich dadurch die Lernmöglichkeiten der anderen Kursteilnehmer limitiert ... Ich hätte einmal das f-Wort gebraucht (was stimmt und was unnötig theatralisch war) und ich hätte mich beklagt, dass der Kurs nicht mehr auf meine Bedürfnisse angepasst worden sei (was nicht stimmt und totaler Quatsch ist) ...
Was mich bei dem Ganzen vor allem ärgert ist die Tatsache, dass die drei Trainerinnen während des Kurses nie mit mir über ihre Wahrnehmung meines Verhaltens gesprochen und mich gebeten haben, mich doch ein wenig zurückzuhalten. Stattdessen liessen sie alles gehen, wie es eben ging. ich war manchmal ruhig, manchmal heftig und engagiert, manchmal ein guter Zuhörer und manchmal ein weniger guter Zuhörer ... So wie ich halt bin. Kein Heiliger, aber auch nicht ein total unerreichbarer Egomane ... Sie sprachen also nicht mit mir, sondern erstatteten der Zentrale in London Bericht. Danach gab's noch zwei Telefonate mit der dortigen Programmleiterin, in denen ich zu allen Aussagen und Beobachtungen der Kursleiterinnen Stellung nehmen konnte ... und dann - säuselnd und nett, die Verabschiedung.
Die Einführungskurse, welche die englische Organisation anbietet, bevor ihre Freiwilligen ins Feld gehen sind Teil der Selektion. Das wurde uns deutlich gesagt. Es wurde jedoch auch gesagt, dass es sehr sehr selten sei, dass jemand in dieser Phase des Prozesses noch rausgenommen würde. Da ich meine Gruppenfähigkeit nicht als so katastrophal einschätze, wie dies gesagt wurde, muss der eigentliche Grund für meine Exkommunikation ein anderer sein. Franck Wolf aus Paris, der viel in Drittweltländern arbeitet und auch die dort tätigen Organisationen ziemlich gut kennt, meint, ich sei für diese Organisation zu wenig kontrollierbar. Sie wollen gutmütige Menschen, die irgendwo ihren Einsatz machen ohne zu viele Fragen zu stellen. - Seine Einschätzung der Lage hat mich völlig verblüfft: Ich als gefärhlicher Mensch, als subversives Element? Nein. Ich frag doch nur ... Doch der Gedanke verscheucht den Trübsinn, der über dieser ganzen Sache hängt. Vielleicht bin ich auf meine simple Weise tatsächlich subversiv ... Das ist ein schöner Gedanke, aus meiner Sicht etwas lächerlich, aber why not! Möglich ist's ja. Vielleicht hat meine Art zu denken und zu fragen wirklich etwas beunruhigendes ... Einen Rausschmiss aus diesem Grund würde ich leicht verdauen, denn in ihm läge ja auch eine Auszeichnung. Allerdings nagt ein Zweifel in mir, ein elender, stinkender Wurm, der vielleicht auch gemacht hat, dass ich dich gestern mit dem Wort Traurig angekitzelt habe. Der Wurm sagt, sie wollen dich nicht, weil du blind bist. Es ist keine bewusste Ablehnung, es sind Vorgänge irgendwo in den anderen, denen ich ziemlich wherlos ausgeliefert bin. Es ist ein unbehagen, über welches man als moderner mensch auch nicht mehr sprechen darf, weil man damit gegen das Gesetz der politischen Correctness verstossen würde. Dem entsprechend wurde ich während des ganzen Selektionsprozesses auch nie gefragt, ob ich irgendwelche Vorstellungen darüber habe, wie ich als blinder Mensch eine afrikanische oder asiatische Stadt überlebe. Dabei wären solche Fragen die ersten, die eine Organisation stellen müsste, die mich als Volunteer aufnimmt. Aber nein. Man ist politisch korrekt, unterdrückt seine Neugier und seine Skepsis, benimmt sich als ob nichts wäre und im Hintergrund ist Panik und Ablehnung ...
Ich habe die Frau von der zentrale gefragt, ob man auch wegen meiner Blindheit Bedenken habe, vielleicht auch versicherungstechnische Probleme. Nein nein sagt sie, aber als ich mit drei anderen Kursteilnehmern am Ende des Kurses in birmingham auf den Zug ging, blieb einer von ihnen, ein netter junger Mann, der seit zehn Jahren in der Aids-Beratung arbeitet (also kein Küken, welches eben erst aus seiner Kartonschachtel gekrochen ist!) vor der Treppe zu meinem Gleis stehen und fragte ganz zaghaft, ob er vielleicht meinen Rucksack tragen solle, weil jetzt eine Treppe käme ... Er war nur ein Kursteilnehmer, doch seine Frage ist symptomatisch für den Sumpf difuser Gefühle und Unsicherheiten, mit dem ich es in dieser Richtung immer wieder zu tun habe. - Mein Verstand sagt mir, dass diese hinter viel lächeln verborgene Ablehnung verständlich sei; mein Verstand sagt mir auch, dass ich das Thema noch deutlicher hätte auf den Tisch legen müssen, dass ich vielleicht auch ein besonderes Gespräch in der Richtung hätte verlangen müssen. Im übrigen, so sagt mein Verstand, können ich ja nicht wissen, ob meine Vermutung überhaupt zutrifft und mein rücksichtsvolles Über-Ich mahnt mich zur Mässigung, da es nicht anständig sei, der Gesellschaft solche Vorwürfe zu machen. Wer weiss denn, ob ich den Menschen dieser englischen Organisation nicht Unrecht tue
Ich merke erst jetzt, wo ich dir so ausfürhlich über all dies schreibe, wie traurig und müde mich diese Geschichte macht. Das Wort von der Traurigkeit war also doch mehr als blosse Koketterie. Ich fühle eine Mauer. Ich weiss nicht ob sie da ist. Ich fühle sie. Eine Mauer - zäh, gummig ... Ich kann nicht wissen ob sie tatsächlich da ist, oder ob ich sie als Albtraum in mir drin produziere mit dem Material alter Erfahrungen. Ich kann's nicht wissen, dabei will ich doch immer alles Wissen!
Uff, Thomas. Was für ein Mail. Du hast gestern vielleicht mehr gespürt als ich selber, und ich hab deine Nachfrage dazu benützt, mir alles von der Seele zu schreiben. IN diesem Sinn ganz herzlichen Dank für dein immer wieder offenes Herz und Ohr.
Eigentlich wollte ich dir nur ganz kurz schreiben, und dir die angehängte Datei schicken. Es ist ein Stück aus einem Album von Pete Seeger und Arlo Guthrie, an welches ich gestern beim Heimgehen fest gedacht habe! Na, und jetzt ist aus dem kurzen Mail so ein Bandwurm geworden! Hast doch den Finger auf die Wunde gelegt! - Wäää - so viel Eiter!
Damit aber wirklich Schluss! Anbei die Datei als kleines Leckerli!
Natürlich freut's mich immer, mit dir zu telefonieren, doch nötig ist's jetzt nimmer, denn der Himmel hat sich doch beträchtlich aufgehellt!
Bis denn,
Martin