.

Widerstand!

Damals, vor 150 bis 200 Jahren, als man die zerstreuten Stücke und Ansätze früherer Epochen zu einem einheitlichen Bildungssystem zusammenfügte, mag das Ganze ja noch einen gewissen Sinn gehabt haben. Damals ging es um die Alphabetisierung eines Volkes, das noch kaum lesen und schreiben konnte. Damals ging es um elementare Bedürfnisse. Auch die Vermittlung von historischem oder geographischem Basiswissen hatte seine Berechtigung, da gedruckte Informationen - Zeitschriften, Lexika, Bücher - zumindest in den ländlichen Gegenden kaum zur Verfügung standen, sodass ein quasi natürliches Hineinwachsen in die Welt der Schrift und ein allmählicher, von den persönlichen Bedürfnissen und Fragen der Heranwachsenden geleiteter Erwerb von Kenntnissen, die ausserhalb des Alltags der eigenen Dorfgemeinschaft lagen, nur schwer möglich war.

Damals also, in einer Zeit der Informationsknappheit, ja des Informationsmangels, hatte die organisierte Vermittlung von Basiswissen durch eine staatliche Behörde einen gewissen sinn, aber heute, im Zeitalter der Zeitschriften und Heftchen, der Bücher und Broschüren? Heute im Zeitalter der sich ständig vermehrenden Fernseh- und Radioprogramme und der weltweit möglichen Kommunikation mittels Telefon, Telefax oder Internet? Was auch immer über die Flut, die Qualität und die Politik all dieser Medien gesagt werden kann: Das Zeitalter des Informationsmangels und der schriftlosen Umgebung ist, zumindest in den industrialisierten Ländern, längst vorbei. Wenn ein Kind in einer einigermassen durchschnittlichen Umgebung aufwächst, so würde es heute genauso selbstverständlich zu lesen und zu schreiben lernen, wie es früher lernte, eine Ziege zu melken oder ein Feuer anzuzünden. Sie würden es natürlich nicht alle im siebten oder achten Lebensjahr und auf ein und dieselbe Weise lernen, aber sie würden es lernen.

Aber eben: Anstatt die Alphabetisierungsprogramme nach ihrem erfolgreichen Abschluss einzustellen hat man sich ständig ausgebaut und perfektioniert. Damit, dass ein Kind lesen und schreiben konnte gab man sich plötzlich nicht mehr zufrieden: Plötzlich sollte es auch noch "richtig" und "schön" schreiben können, und zu den Künsten und Kenntnisse, die man zu Beginn der damaligen Bildungsoffensive für lebensnotwendig hielt, kamen ständig neue Dinge hinzu. Es war als ob die Lehrerschaft - früher ein ziemlich verachteter Stand - seine gesellschaftliche Chance gewittert hatte. Man wollte den Knochen, den man glücklich ergattert hatte, freiwillig nicht mehr hergeben, im Gegenteil: Man redete jetzt ständig von Ausbau, von notwendiger Weiterentwicklung und Differenzierung -, eine Entwicklung, die natürlich auch von den ExpertInnen in den Schulverwaltungen und den Fachleuten an den Universitäten kräftig unterstützt wurde, denn auch sie lebten ja vom Erhalt und vom Ausbau des bestehenden Systems. Wenn die VertreterInnen des Systems dieses kritisierten, dann nur, um mehr Mittel zur Verbesserung - und das hiess und immer auch zum erneuten Ausbau - dieses Systems zu erhalten. Dabei erwies sich die Tatsache, dass das System immer schlechter funktionierte, als sehr hilfreich, denn damit hatte man bald tausend Gründe, weshalb man sich nicht mit dem Bestehenden zufrieden geben konnte! Der zunehmende Misserfolg des sich mehr und mehr verselbstständigenden Bildungswesens war also paradoxerweise mit eine Grundlage für seinen zunehmenden Erfolg.

Warum hat man damals, nach der gelungenen (Zwangs)‑Alphabetisierung nicht rechtzeitig auf Freiwilligkeit und auf Vielfalt umgestellt. Volksbildung durch ein reiches Angebot an Bildungsmöglichkeiten, angefangen mit billigen Buchausgaben oder Bildungsreisen für Minderbemittelte bis hin zu Leihbibliotheken mit angegliederten Bildungsprogrammen, Lesungen, Diskussionszirkeln und Vorträgen aller Art. Dazu Wanderausstellungen und Büchereien auf Rädern, um auch das Volk auf dem Lande zu erreichen? Auch die seither errichteten Schulen hätten in einer solchen, auf Vielfalt, auf individueller Entwicklung und Freiwilligkeit beruhenden Bildungslandschaft ihren Platz gehabt: Nicht als Orte einer immer systematischer betriebenen, das gesamte geistige Leben der Kinder mehr und mehr in den Griff nehmenden Zwangsbelehrung, sonder als Orte des Gesprächs, der Geselligkeit und des Erfahrungsaustauschs, als Zentren einer spezialisierten, an den konkreten Bedürfnis der Rat und Hilfe Suchenden orientierten Wissensvermittlung, als Zentren der intellektuellen Debatte und der künstlerischen Experimente -, Zentren, die man - als Kind oder Jugendlicher, aber auch als Erwachsener hätte aufsuchen können, wenn man etwas bestimmtes hätte wissen wollen oder wenn man ganz einfach Lust auf Anregungen gehabt hätte. ... Warum hat man damals nicht bewusst auf die Gestaltung einer entwicklungs- und bildungsfreundlichen Umgebung gesetzt? Das wäre doch auch ein Programm gewesen! Warum überliess man solche Unternehmungen damals weitestgehend privaten Initiativen? Warum steckte man damals fast alle für Bildungszwecke bestimmten (öffentlichen!) Mittel in den Auf- und Ausbau einer immer genauer definierten, von oben gelenkten Zwangsbildung des Volkes? Warum tat man dies trotz der sehr bald zu Tage tretenden, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von unzähligen Schulärzten, LehrerInnen und pädagogischen ExpertInnen wortreich beschriebenen und beklagten Probleme, welche diese Massenbildung ganz offenbar mit sich brachte?

Die Gründe für diese Entwicklung oder besser Fehlentwicklung lagen nicht nur in der Phantasielosigkeit oder dem Macht- und Geltungstrieb derer, welche von diesem im Grunde so unpädagogischen System profitierten. Denn auch die scheinbar so mächtigen BetreiberInnen und VerwalterInnen des Systems mussten allmählich lernen, dass sie mit ihrem ganzen ausgebauten Betrieb keineswegs so frei in ihren Entscheidungen waren, wie sie es manchmal gerne gewesen wären. Und Viele, die ihren Verstand oder ihr Herz nicht auf die Realität der modernen Schule zuschneiden konnten oder wollten, haben dieser Institution deshalb seither den Rücken gekehrt.

Natürlich sprach man im Zusammenhang mit der Schule schon vor 100 oder 200 Jahren offiziell nie von der "geistiger Verzwergung" der Heranwachsenden oder der "Zwangsbewirtschaftung der Ressource Mensch". Wer solche Dinge sagte und in schulpolitischen Debatten oder im konkreten schulischen Alltag zu sehr für die freie Entfaltung der Heranwachsenden einsetzte, wurde sehr schnell als lästiger Bremser, als ewiger Nörgler, als unrealistischer Spinner oder subversives Element abgestempelt und ausrangiert. Nur wenige dieser Schwerenöter und Versagerinnen hatten und haben bei diesem Selektionsverfahren das Glück, nachträglich als "prominente VertreterInnen der Schulkritik" in die Standardwerke der pädagogischen Geschichtsschreibung aufgenommen und dort für ihren Scharfblick und ihre "innovativen Impulse" gelobt zu werden.

Nein. Damals wie heute sprach man natürlich nicht von der Standardisierung der Menschen durch die Schule und dergleichen Dingen. Man sprach vielmehr von "Bildung". So wenig das unter diesem Begriff zusammengefasste Sammelsurium von Wissen und Kenntnissen den Einzelnen bedeuten mochte, so attraktiv wurde diese "Bildung" doch bald durch ihre immer engere Verknüpfung mit den späteren beruflichen Möglichkeiten und Aufstiegschancen. Man musste, nach einer ersten Phase der Gewöhnung, die Eltern kaum mehr dazu zwingen, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Jetzt schickte man die Kleinen freiwillig hin trotz ihres oft so gräulichen Geplärrs und trotz ihres manchmal so erbitterten Widerstandes. Man mochte seine Kinder so lieb haben, wie man wollte: man durfte sich von den Tränen der Kinder nicht erweichen lassen -, durfte ihren Bitten nicht nachgeben, auch wenn man der kindlichen Schulkritik im Grunde seines Herzens selbst zustimmte, denn damit würde man - das zumindest war die grosse, noch heute weit herum wirksame Furcht - die späteren Berufschancen seiner Kinder in unverantwortlicher Weise aufs Spiel setzen! Im Banne dieser durchaus verständlichen Furcht übersahen viele Eltern allerdings, dass der äussere Schulerfolg ihrer Kinder häufig parallel ging mit einem zunehmendem Verlust an Eigeninitiative, Selbstvertrauen, Lebenstüchtigkeit und Lebenslust. Solange das System funktionierte, und die Schule halten konnte, was sie versprach - eine gesicherte Existenz -, solange fiel und fällt diese Hemmung der individuellen Vitalität vielleicht nicht so sehr ins Gewicht. In Zeiten innerer oder äusserer Krisen aber wird sie oft sehr schmerzlich spürbar; da helfen auch die besten Schulzeugnisse nur wenig.

Schon wenige Jahrzehnte nach den oben beschriebenen Alphabetisierungskampagnen der beginnenden Industrialisierung hatte die Schule ihre ursprüngliche Unschuld endgültig verloren. Sie war von einem tendenziell emanzipatorisch wirkenden Instrument der Aufklärung zum Zulieferbetrieb für die Industrie geworden. Ihre Abhängigkeit von den Wünschen und Bedürfnissen der Industrie wurde und wird etwas gemildert durch den dazwischen gestalteten "Staat", der im übrigen jedoch vor allem die Funktion zu haben scheint, gerade diese Abhängigkeit zu verschleiern und die Schule mit dem Schein überparteilicher Neutralität und allgemeiner Nützlichkeit zu umgeben.

Ganz egal, ob wir zwei, zwanzig oder achtzig Jahre alt sind: Wir lernen da, wo wir selbst aktiv sind, wo wir uns mit einem Menschen, einer Sache, einer Idee oder Meinung Auseinandersetzung, weil wir etwas verstehen, etwas können oder wissen wollen. Da wo wir uns aus Angst vor Strafe, vor schlechten Noten oder sozialem Abstieg oder in der Hoffnung auf Belohnung und sozialen Aufstieg mit einer Sache beschäftigen - und dies ist in der Schule der Normalfall -, da geht es nicht mehr primär um Sternkunde oder um mittelalterliche Osterbräuche oder Gleichungen mit zwei Unbekannten. Nein da lernen wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, vorallem, uns den gegebenen Machtverhältnissen unterzuordnen, auch da Interesse und Anteilnahme zu heucheln, wo wir dieses nicht empfinden, und überhaupt gute Miene zum bösen oder langweiligen oder sinnlosen Spiel zu machen, um unnötige Scherereien zu vermeiden und unser privates Glück und die anvisierte Karriere nicht zu gefährden. Die kognitiven Fähigkeiten und "Erkenntnisse", die wir unter diesen Umständen scheinbar erwerben, erweisen sich bei näherem Hinsehen fast durchweg als nutzloses mentales Gerümpel, als oberflächlich angeeignetes, hastig irgendwo in unserem Kopf verstautes Halb- oder Scheinwissen, welches uns den unvoreingenommenen Blick auf die Dinge der äusseren Welt und den Zugang zu unserer inneren Welt in der Regel so verstellt und verbaut, dass wir in der Schule, die imgrunde ganz um diese Art des Lernens herum aufgebaut ist, in gewissem Sinne tatsächlich dümmer anstatt gescheiter werden. Auch dies entspricht dem tieferen Sinn oder dem "heimlichen Lehrplan" der Schule, wie man das in den 1970er Jahren nannte. Wir sollen dort nicht eigentlich selbständig Denken lernen (wenn wir es sollten, dann wäre die Schule dazu ganz falsch konzipiert). Nein, es reicht vollkommen, wenn wir lernen, so mit den halb verstandenen Weisheiten der Schule herumzuhantieren, dass es nach eigenständiger und kritischer Gedankenarbeit aussieht. Ja dieses unverbindliche "Maulbrauchen", wie Pestalozzi dies nannte, entspricht den Zielen des heimlichen Lehrplans letztlich viel mehr als ein den Schulbetrieb nur unnötig störendes, allzu hartnäckiges Beharren auf Gründlichkeit des Nachdenkens und ähnliche Zeichen eines übertriebenen Engagiertseins in dieser Welt. Auch bei scheinbar noch so kindzentrierter Arbeitsweise und trotz aller gegenläufigen Bemühungen von Seiten der Beteiligten ist die Schule heute nur noch sehr bedingt ein Ort der Emanzipation oder der "Volksbefreiung", wie man noch vor 150 Jahren sagte.

Nun, wir haben den Absprung damals nicht geschafft. Dazu war das technisch-naturwissenschaftliche Paradigma zu mächtig und die auf seinen Erkenntnissen aufbauende Industrie zu erfolgreich. Aber heute, wo wir an allen Ecken und Enden mit den "Nebenwirkungen" dieses Erfolges konfrontiert sind - Nebenwirkungen, vor denen der offizielle Beipackzettel uns damals nicht oder doch nicht deutlich genug gewarnt hat! -, ist heute die Zeit für einen auf pädagogischer Einsicht und Erfahrung beruhenden Kurswechsel im Bereich der Schule nicht endgültig gekommen? Ein Kurswechsel, bei dem es um Strukturfragen, aber - vielleicht zu aller erst - um unsere Haltung gegenüber den Wesen geht, die wir unser "Kinder" nennen.

©1998 Martin Näf