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Abrüstung im Lager der Erwacksenen.Die Geheebs und deren Pädagogik

DIE Bunte spricht mit den Odenwaldschulgründern Paul und Edith Geheeb-Cassirer über ihr Leben, über Bildung und darüber, dass die Schule vom Kopf auf die Füsse gestellt werden muss. - Für Sie mitgelauscht und notiert hat das Gespräch Martin Näf, Basel. - Erstmals veröffentlicht in: "Abrüstung im Lager der Erwachsenen - Die Geheebs und ihre Pädagogik". In: Kaufmann, Margarita und Priebe, Alexander (Hrsg.), 100 Jahre Odenwaldschule. Der wechselvolle Weg einer Reformschule. Berlin 2010, S. 376-386

Die Bunte: Herr und Frau Geheeb. In diesen Tagen feiert die Odenwaldschule, die Sie im April 1910 eröffnet haben, ihr hundertjähriges Jubiläum. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

Edith Geheeb: Nun, es ist natürlich schön zu sehen, dass es die Odenwaldschule noch gibt, und ich staune darüber, wie viel ich doch noch immer wiedererkenne. Natürlich wurde viel gebaut – schon in den 1970erjahren als ich die Schule zum letzten mal gesehen habe. Aber das Goethehaus und die fünf Häuser, die wir ein oder zwei Jahre nach der Schuleröffnung gebaut haben – das ist doch alles noch da, und es erinnert mich sehr an die "alte Odenwaldschule" - sogar die Namen hat man gelassen.

Die Bunte: Und die Schule selbst? Der ganze Betrieb, der Unterricht, das Leben im Internat.

EDITH GEHEEB: Ach wissen Sie, ich kann das schwer beurteilen. Man müsste doch mitleben, um dazu etwas sagen zu können. Aber es scheint doch ein recht grosser Betrieb geworden zu sein, und mir war schon die alte Odenwaldschule - also die Schule zwischen 1910 und 1934 – zu gross. Nicht am Anfang, aber später nach dem Krieg, das war mir eigentlich immer zu viel. Wir hatten um 1920 ja bereits rund hundert Kinder und zu Beginn der 30erjahre waren es zeitweilig wohl über 200, und dazu natürlich die ganzen Lehrkräfte und die Angestellten im Büro und im Waschhaus und all die anderen, die in der Schule arbeiteten. Es war ja ein grosses Unternehmen – ein „wichtiger Wirtschaftsfaktor" wie man heute sagen würde. Inzwischen scheint die Schule noch grösser und komplizierter, und da wird es doch immer schwieriger, so mit den jungen Menschen zu leben, wie wir das wollten.

Die Bunte: Wie sehen Sie das, Herr Geheeb? Was für einen Eindruck haben sie von der heutigen Odenwaldschule?

PAUL GEHEEB: Nun, ich weiss es nicht. Es ist, wie meine Frau sagt: Man müsste mitleben, um einen Eindruck zu erhalten. Doch scheint die Schule ja mittlerweile sehr etabliert und das bedeutet doch immer auch eine gewisse Erstarrung. Die Odenwaldschule ist heute vielleicht in einer ähnlichen Situation wie die Philanthropine vor hundert Jahren. Als wir damals unsere Schulen gründeten, wiesen wir stets auf diese aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert stammenden Einrichtungen hin. Wir bezeichneten sie als unsere Vorläufer, Glieder in einer langen Kette, wenn sie sowollen, doch in Wirklichkeit waren diese Schulen - Marschlings, das Dessauer Philanthropin oder das Philanthropin im thüringischen Schnepfental und fwie sie alle hiessen - längst untergegangen oder zu mehr oder weniger gewöhnlichen Schulen geworden, und bei genauer Betrachtung stimmten auch die Programme der damaligen Gründer allenfalls in Teilen mit dem überein, was wir wollten. Doch ihr Ruhm war noch da, und - nun, man könnte sagen, wir benützten ihn als Fundament für unsere eigene Revolution, denn Revolution war das, was wir wollten. Inzwischen scheinen die Odenwaldschule und die ganzen Landerziehungsheime dieselbe Rolle zu spielen. Sie werden ehrenvoll behandelt und glauben zum Teil sicher auch daran, dass sie nach wi vor an vorderster Front des pädagogischen Fortschritts stehen und dort ganz ungeheuer wichtiges leisten, doch natürlich sind diese Zeiten längst vorüber. Sie waren schon vorüber, als wir uns in den 1920erjahren zu organisieren begannen. Ich weiss noch, wie schwer es mir fiel, mich damit abzufinden, dass es in unserer Vereinigung damals nur noch um die Sicherung unserer wirtschaftlichen Existenz und um das Durchsetzen irgendwelcher Ansprüche ging - nicht "geistige Ansprüche", sondern rein materielle.

Die Bunte: Ich erinnere mich, gelesen zu haben, wie enttäuscht sie von der Arbeit der Vereinigung der deutschen Landerzihungsheime waren. Sie standen damals ja auch weit links.

PAUL GEHEEB: Weit links, ja, so kann man es sagen, obschon ich nie in solchen parteipolitischen Kathegorien gedacht habe. Aber es war schon so. Wir waren, zusammen mit unserem Freund Bernhard Uffrecht und seiner Werkschule in Schloss Letzlingen immer das Enfant terrible der Vereinigung. Wenn wir über Pädagogik sprechen wollten, dann mussten wir uns einen langweiligen Vortrag über die in Vorbereitung befindlichen neuen Lehrpläne der preussischen Kultusverwaltung oder etwas derartiges anhören, und das war's dann. Eigentliche Diskussionen über Unsere Pädagogik gab es nie. Immer fehlte die Zeit, immer war anderes wichtiger, und nun - man muss auch sagen: Die meisten Menschen, die sich da in dieser Vereinigung trafen - Reisinger von Schondorf, Andreesen von den Lietz-Schulen, ingewisser Weise auch Hahn von Salem -, waren im Grunde relativ uninteressante, mehr oder weniger tüchtige Oberlehrer. Sie wollten vielleicht ein wenig mehr Sportunterricht in ihrer Schule oder sie wollten den normalen Untterricht mit irgendwelchen Projekten und dergleichen auflockern, aber mehr wollten sie nicht.

Die Bunte: Mehr?

PAUL GEHEEB: Nun ja. Als ich Hermann Lietz kennenlernte - 1892 in einem Seminar in Jena -, da wollten wir nicht einfach eine etwas andere Schule, sondern wir wollten eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft durch Erziehung, also nicht Schulreform, sondern Revolution von Grund auf. Man hat mich später ja gerne als etwas weltfremd und kauzig dargestellt, doch ich war während meiner Studienjahre in Jena und Berlin ja mitten drin in den damaligen Bewegungen. Und dasselbe galt für Lietz. Da wurde alles diskutiert. Die Herrschaft der Männer, die Ausbeutung der Frauen, die primitiven Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, der allgegenwärtige Militarismus, dieses ganz auf Gehorchen und Unterwerfung ausgehende System, die Heuchelei in sexuellen Dingen, und dann die satte Selbstzufridenheit der Kirche, die Isolation der akademischen Welt ... Es war ein unglaublich enges, schovinistisches Milieu, sehr Reaktionär und innerlich doch ganz hohl. Und natürlich war die Schule von all dem nicht frei: Gehorsam, schablonenhaftes Denken und Auswendiglernen, Klassendünkel ... all das hatten Lietz und ich während unserer eigenen Schulzeit erlebt. Dagegen traten wir an. Wir träumten von Schulen auf dem Land, die in bewusstem Gegensatz zu dieser kranken und krank machenden Zivilisation stehen und den Jugendlichen eine Möglichkeit geben sollten, frei von diesen Einflüssen heranzuwachsen. Wir wollten die Jugend zu "tapferen Kämpferscharen" erziehen", die gelernt haben, "gegen den Strom zu schwimmen" und jeden Augenblick "um eine immer vollkommenere Gestaltung ihres Menschentums zu kämpfen". Für heutige Menschen klingt diese Sprache natürlich ziemlich aufgesetzt, doch damals sprach man so - alles war Kampf und Ringen und immer ging es ums Ganze! Heute würde ich es anders sagen.

Die Bunte: Würden Sie sagen, dass Sie ein politischer Mensch waren?

PAUL GEHEEB: Ich war politisch interessiert, doch politisch im üblichen Sinn war ich nicht. Die Sozialdemokratie war damals ja die grosse oppositionelle Kraft. Während meiner Gymnasialzeit war sie verboten. Ihre Führer - soweit sie keine Abgeordneten waren - agitierten vom Ausland aus. Und in den 1890erjahren war man gebrandmarkt, wenn man dieser Partei beitrat. Ein paar meiner Bekannten haben es getan - Lily von Gizycki, die spätere Lily Braun oder Paul Göhre oder Theodor Wächter - und Lietz und ich dachten auch daran, aber wir haben es schliesslich nicht getan. Seine Gründe kenne ich nicht, doch ich konnte bei aller Sympathie nicht beitreten, weil man damit Stellung nahm - für die Arbeiter und gegen die kapitalistischen Ausbeuter - und gegen diese Aufteilung der Gesellschaft, diese Aufteilung in gut und böse, in Katholiken und Protestanten, Hindus und Muslime, Europäer und Nicht-Europäer und so weiter habe ich mein Leben lang einen instinktiven Widerwillen gehabt. Es schien mir immer, dass wir doch miteinander sprechen sollten, dass es möglich sein müsste über alle Grenzen hinweg eine Lösung zu finden, mit der alle zufrieden sind. Also dieses Aufteilen der Gesellschaft in verschiedene Gruppen mit entgegengesetzten Interessen, das gefiel mir nicht, und das spielt in der Politik doch eine grosse Rolle.

Die Bunte: Das wird ja auch bei Ihrer Konzeption der Schulgemeinde und ihrer ganzen Schulführung deutlich: Keine formal festgeschriebene Unterscheidung von Mitarbeiter/innen und Kamerad/innen, keine genau definierten Pflichten und Rechte für die einen und anderen ... immer nur die Hoffnung, dass man im Gespräch eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung findet.

PAUL GEHEEB: Ja, so war meine Vorstellung, und so habe ich es gesagt als wir 1910 die Odenwaldschule eröffneten: "Wir wollen, so oft das Bedürfnis Vorliegt, uns alle in diesem Raume als «Schulgemeinde» versammeln und unsere Meinungen über die Einrichtungen unseres hiesigen Lebens austauschen und in gemeinsamer Beratung uns über die Mittel und Wege verständigen, die am besten und in gleicher Weise dem Wohle des Einzelnen und unserer Gemeinschaft dienen." Also keine vorgegebenen Hierarchien, keine Aufgabbenteilung und andere feste Formen.

DIE BUNTE: Im Grunde ein urdemokratisches Vorgehen. Hat das denn auch funktioniert? - Frau Geheeb, sie lachen?

EDITH GEHEEB: Ja, ich lache, denn diese Frage führt doch mitten ins Leben und mitten in die unterschiedliche Art und Weise, wie mein Mann und ich die Welt erlebten und über sie dachten. Er sah in allem stets das Positive, das, was funktionierte, den Ansatz des angestrebten Ideals, während ich oft ganz überwältigt von all dem war, was nicht funktionierte! Sie kennen vielleicht die dicke Biographie von Martin Näf, in der er unsere Arbeit zu beschreiben versucht. Im zweiten Band schildert er u.a. die ersten Jahre der Odenwaldschule, also die Zeit unmittelbar nach der Schulgründung. Damals wussten wir eigentlich noch nicht, was wir wollten. Mein Mann wusste vor allem, dass er alles schulmässige von unserer Anstalt fernhalten wollte, also keine festen Stundenpläne, nicht dieses durchorganisierte Leben und diese andauernde Belehrung, wie es an den Schulen üblich ist, sondern möglichst viel Gelegenheiten, den eigenen Interessen und Fragen nachzugehen. So gab es anfänglich also sehr wenig feste Strukturen und sehr viel Freiheit. Nun, ich musste lachen, als ich bei Martin Näf - er war ja übrigens eine Weile als Mitarbeiter in der Ecole - also als ich in seinem zweiten Band gelesen habe, wie mein Mann und ich diese Zeit rückblickend beurteilt haben: Ich fand es schrecklich. Ich sah die Unordnung, die Bummelei, die Kinder, die zu nichts Lust hatten und die ganzen Nachmittage nur so herumrutschten und nichts taten. Auch in den Schulgemeinden nur immer grosse Reden und danach wieder nichts ... In der Erinnerung meines Mannes war diese Zeit dagegen beinahe eine idylle! Nach und nach hätten sich alle Formen und Regeln ergeben, im Gespräch mit den Kindern, die bald begriffen, dass es ohne ein gewisses Mass von Ordnung nicht geht ... Man könnte meinen, wir hätten damals in zwei ganz verschiedenen Schulen gelebt, aber es war doch dieselbe kleine, neu gegründete Odenwaldschule!

Die Bunte: Gab das nicht manchmal Probleme zwischen Ihnen und Ihrem Mann?

EDITH GEHEEB: Nun zu Beginn unserer Arbeit sicher, doch später da wusste ich ja, wie er die Dinge sah. Und ich muss sagen, ich habe viel von ihm gelernt.

Die Bunte: Wie meinen Sie das?

EDITH GEHEEB: Nun, es gab ja immer wieder Menschen, die glaubten, die Schule funktioniere nur meinetwegen. Ich galt als die realistische Organisatorin, die alles zusammenhielt, während mein Mann zwar verehrt, aber manchmal doch nicht so recht ernst genommen wurde.

DIE BUNTE: Und?

EDITH GEHEEB: Nun, wenn er während längerer Zeit weg war, dann begann die Schule zu - nun, sagen wir, zu zerfallen. Äusserlich merkte man es zunächst vielleicht nicht, doch innerlich war kein Zug mehr drin, keine Energie, kein rechter Glaube, und mein Realismus, meine Genauigkeit in allen Details, mein kritischer Blick - all das half nicht mehr. ER musste wiederkommen und dann plötzlich ging's wieder. Plötzlich hatte die Schule wieder ein Zentrum, einen Sinn. - Ich meine, die Menschen hatten recht. Er war wirklich ein merkwürdiger Kerl, aber ohne ihn ... Vielleicht klingt es etwas zu frömmlerisch, doch er war so etwas wie der Hirte der Herde, eine Art Führer, nicht laut und befehlend, sondern durch seinen Glauben und seinen Mut wirksam. Das versteht man heute vielleicht nicht, doch es besteht ein grosser Unterschied zwischen einer reibungslos funktionierenden Organisation und einer lebendigen Gemeinschaft. Und dann, wissen Sie: Mein Mann war auch der zähere. Er hat die Schule in kritischen Momenten am Leben gehalten. Er sagte: Wir können doch jetzt nicht aufgeben! Zum Beispiel damals in der Schweiz wie wir nur noch 6 oder 7 Schüler/innen hatten und unser Geld höchstens noch für zwei oder drei Wochen reichte. Das war im Sommer 1940 als Hitler seine grossen Siege feierte. Wir sassen in Schwarzsee, einem winzigen Nest in den Schweizer Bergen, und die Schweiz war eingeschlossen von den Achsenmächten und rechnete täglich damit, von den Deutschen überfallen zu werden. Es war eine schreckliche Lage, ganz aussichtslos, doch mein Mann wollte nicht aufgeben! Er glaubte daran, dass irgend ein Wunder geschehen würde, und dann geschah etwas, nicht immer gleich ein Wunder, aber doch etwas, das uns half, weiterzumachen. Er war unglaublich zäh. ER hatte diesen tiefen Glauben an den Menschen, aber auch dieses Vertrauen in das Leben. Ich habe natürlich auch meinen Beitrag geleistet, aber der Glaube meines Mannes hat uns zusammengehalten.

DIE BUNTE: Sie haben sich gut ergänzt.

EDITH GEHEEB: Ja, das haben wir.

PAUL GEHEEB: Ich habe es vielleicht immer zu selbstverständlich genommen, dass Edith da war. Edith und natürlich auch ihre Eltern, der Stadtrat Max Cassirer und seine Frau Hedwig, geborene Freund.

DIE BUNTE: Ja, ihre grossen Mäzene: Max und Hedwig Cassirer. Was halten Sie übrigens von der Kritik ihres Biographen Näf, dass die Odenwaldschule ein Idyll auf Kosten Polnischer Arbeiter/innen gewesen sei?

EDITH GEHEEB: Nun, es hat mich etwas geärgert; es ist auch eine polemische Formulierung. Weshalb kann man die Grosszügigkeit meines Vaters, seine Freude an unserer Arbeit, sein Engagement für die Schule nicht einfach gut heissen? Er hat wirklich sein Herz hineingegeben, nicht nur sein Geld. Aber natürlich, wenn man ganz kritisch denkt, dann war es schon so. Er war ein Geschäftsmann. ER hatte diese Fabriken in Polen, und da gab's natürlich auch Auseinandersetzungen, vor allem 1917/18, als in Russland Revolution war und im OstenDeutschlands alles zusammenbrach. Aber mein Vater sprach kaum darüber, und ich habe ihn eigentlich nie von dieser Seite her betrachtet - als kapitalistischen Ausbeuter. Obwohl, das war er natürlich, und ich muss ehrlicherweise sagen, ich weiss nicht einmal, wie schlimm oder human er als Arbeitgeber war. Wir hatten die grosse Villa an der Kaiserallee und die Kutsche, die Hausangestellten.

DIE BUNTE: Den goldenen Käfig ihrer Mädchenzeit.

EDITH GEHEEB: Ja. Und ... Nun, diese Geldsache macht mich verlegen.

DIE BUNTE: Es gibt ja auch Menschen, die die damalige Odenwaldschule als Schule für Reiche bezeichnen.Haben sie sich in der Schule darüber je Gedanken gemacht?

EDITH GEHEEB: Wissen Sie, ich glaube, es war wirklich so wie unser Biograph das dargestellt hat: Wir wollten eine Schule für alle sein, doch da gab's diese Bevölkerungsschichten, die Tagelöhner im Odenwald oder die Fabrikarbeiter in der Ebene, Zugschaffner oder Kellnerinnnen oder die Massen von Arbeitslosen Menschen, die sich durchhungerten nach dem Krieg und während der grossen Wirtschaftskrise zu Beginn der 30erjahre. Von ihnen waren wir doch sehr weit entfernt. Dass wir ihre Kinder aufnehmen würden, wirkliche Proletarierkinder, daran dachten wir nicht. Wir hatten ja auch immer Angestellte in der Schule - Hilfen in der Küche und im Haushalt und so -, doch gehörten sie nie zur eigentlichen Schulgemeinde. Es war da doch eine Klassenschranke, die wir aber gar nicht wahrnahmen. Wir waren sozial eingestellt, aber nicht kommunistisch oder wirklich konsequent. Aber das war eigentlich bei allen Schulen, mit denen wir damals in Verbindung standen, auch bei den englischen oder schweizerischen oder nordamerikanischen Heimen, die wir an den grossen Kongressen der New Education Fellowship kennen gelernt haben. Einige waren wirklich elitär. Sie wollten nur "bestes Kindermaterial" aus "besten Häusern". Andere, wie die Odenwaldschule, waren offen. Wir hatten auch immer Freiplätze. Die Eltern unserer Schüler waren nicht unbedingt reich, aber sie waren natürlich dennoch eine Elite. Künstler, Theaterleute ... Dann hatten wir auch Kinder, die sonst nirgends hin konnten. Kinder aus geschiedenen Ehen, auch Kinder, deren Eltern tot waren. Also in der Richtung waren wir nicht elitär. Wir hatten begabte und sozial reife Jugendliche und ganz schwierige, gehemmte. Später in der Schweiz sowieso. Die ganzen Kriegskinder, solche, die schon 8 oder 10 Jahre von Land zu Land geflüchtet waren. Solche, deren Eltern und Familien vermisst waren, und man hörte immer die Gerüchte über die Todeslager, und dann, als die KZs befreit wurden - so von Januar oder Februar 1945 an - hatten wir auch Kinder aus den Lagern. Ganz verängstigt, verstört, manche wie Tiere. Ganz schrecklich. Doch für uns waren es immer Kinder oder junge Menschen. Wo sie herkamen spielte für uns keine Rolle.

DIE BUNTE: Minna Specht war ja Sozialistin.

EDITH GEHEEB: Ja. Sie hatte ja mit Leonhard Nelson gearbeitet und vor 1933 hat sie die Walkemühle geleitet. Das war ein sozialistisches Heim. Auch Bernhard Uffrecht wollte seine Schule ganz öffnen, für alle Schichten. Die beiden waren sicher klarer in dieser Sache als wir. Und als wir Minna Specht im Herbst 1945 fragten, ob sie die Odenwaldschule übernehmen würde, da zögerte sie zuerst, weil sie kein Interesse hatte, ein Internat für reiche Eliten zu leiten. Das war also der Ruf der alten Odenwaldschule bei politischen Menschen wie Minna.

DIE BUNTE: Sie hat dann ja Kontakt mit den Gewerkschaften gesucht, um die Schule zu öffnen.

EDITH GEHEEB: Ja, das hat sie, doch ich weiss nicht, was daraus geworden ist. Heute spielen Sozialämter und ähnliche Behörden ja eine grosse Rolle, aber man lebt doch noch immer sehr isoliert voneinander.

DIE BUNTE: Führte die Haltung von Minna Specht zu Spannungen zwischen ihnen und der neuen Odenwaldschule? Sie sind ja nach dem Krieg nicht nach Deutschland zurückgekehrt, sondern blieben in der Schweiz?

EDITH GEHEEB: Ja, wir blieben in der Schweiz. Ich hätte nicht nach Deutschland zurückgewollt, nach all dem, was passiert ist.

DIE BUNTE: Sie kommen aus einer jüdischen Familie?

EDITH GEHEEB: Ja und da hab ich natürlich viel erlebt! Viele Verwandte, auch mein Bruder Kurt und seine Frau und mein Vater, sind ausgewandert. Andere konnten sich dazu nicht entschliessen oder waren zu alt. Nun. Sie wurden alle umgebracht und natürlich viele Freunde. Und dann nach 1945 plötzlich diese Heuchelei. niemand wollte es gewesen sein. Es war unglaublich! Als mein Mann 1950 erstmals nach Deutschland zurückkehrte - ich war zwischen 1934 und 1938 ja jedes Jahr zwei, dreimal in Deutschland gewesen, um für unsere Ecole d'Humanité Reklame zu machen und um in Oberhambach nach den Häusern zu sehen und meinem Vater, der damals immer noch in Berlin war, zu helfen - nun, als wir 1950 in der Odenwaldschule waren und den 40. Geburstag der Schule und den 80. Geburtstag meines Mannes feierten, da kamen die Bauern an einem Abend und sangen und der Bürgermeister hielt eine Rede zu Ehren meines Mannes. Das war so schrecklich, denn natürlich waren viele von ihnen bei den Nazis gewesen. Man hat die Odenwaldschule im März 1933 ja zweimal überfallen und als ich 1936/37 zu Besuch war, da war der Hass mit Händen zu greifen. Viele dieser Nazis waren ganz einfache Menschen, gar nicht besonders wild, aber man hatte ihnen doch jahrelang eingeredet, dass die ganze Arbeitslosigkeit und all das von den Juden käme und da ging der Hass plötzlich auch gegen uns und meinen Vater, der ja noch bis nach der Reichskristallnacht in Deutschland war. Plötzlich war der ganze Respekt von früher weg. Und dann, fünf Jahre nach dem Krieg, kommen sie alle an und tun so als ob nichts gewesen wäre. Und man darf ja nichts sagen, muss das alles mitmachen, diese Heuchelei. Also ich wäre zurückgekehrt, wenn mein Mann es gewollt hätte, aber er wollte auch nicht. Er wollte seine geliebten Schweizer Berge nicht verlassen und dann hatten wir ja auch unsere eigene Schule, die Ecole d'Humanité, die konnten wir ja auch nicht einfach aufgeben.

DIE BUNTE: Und wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen den beiden Schulen nach 1945?

EDITH GEHEEB: Nun, wir hatten uns ja sehr dafür eingesetzt, dass Minna Specht die Schule neu aufbauen würde. Und sie hat dies dann in ganz wunderbarer Weise getan. Es gab allerdings Schwierigkeiten wegen des Geldes. Mein Bruder Kurt und ich waren ja die Erben der ganzen Häuser und des gesamten Grundstücks der Odenwaldschule, und natürlich gab es viele Menschen, die es für selbstverständlich hielten, dass ich keinen Anspruch auf mein Erbteil erheben, sondern alles der Schule überlassen würde. Es war in gewissem Sinn ja das Kind von Paulus und mir. Doch wir hatten in der Schweiz überhaupt nichts! Ganz einfache, grossenteils unheizbare Häuser in den Bergen! Kein Umschwung für Gärten oder zum Spielen. Keine ordentlichen Duschen, kein Bad. Also alles unsagbar primitiv. Und natürlich auch fast kein Geld für Löhne. Alles junge Menschen, die aus Idealismus ein wenig mitarbeiteten oder ein paar verkrachte Existenzen -, sympathische Menschen, aber keine richtigen Lehrer. Und da wollte ich denn einen Teil meines Erbes ausbezahlt bekommen, aber in der Odenwaldschule sagten sie, sie hätten kein Geld. Dabei baute man gerade eine Turnhalle! Wissen sie. Wir hatten ein einziges Badezimmer für hundert Menschen ... Also das gab dann kämpfe. Mein Bruder Kurt Cassirer war damals im Vorstand der Odenwaldschule oder wie diese Trägerschaft hiess, sodass ich auch mit ihm zu kämpfen hatte. Das hat die Beziehungen zwischen uns lange belastet. Ich würde sagen bis Ende der 1960erjahre. Da gab's endlich eine Einigung mit der Odenwaldschule und dem Land Hessen, und zu dem Zeitpunkt ging's uns in der Schweiz auch besser.

DIE BUNTE: Und wie verstand man sich auf pädagogischem Gebiet, Herr Geheeb?

PAUL GEHEEB: Das vermag ich nicht so einfach zu sagen. Was mich persönlich angeht, so war es mir damals, als ob sich ein Schiff auf den Weg macht. Ich stand am Pier und winkte. Die Menschen auf dem Schiff winkten, man war sich freundlich gesinnt, doch ich blieb zurück ... Das war ganz deutlich, als meine Frau und ich im Sommer 1950 zur 40jahrfeier der Odenwaldschule in Oberhambach waren. Ich sprach von meinem pädagogischen Credo. Man hörte mir höflich zu, doch von einem Verständnis odr Einverständnis war nichts zu spüren. Meine Sprache erreichte die Menschen, die sich in der neuen Odenwaldschule engagierten, nicht. Natürlich pflegten wir weiterhin freundliche Beziehungen, doch ein Gespräch über den eigentlichen Kern unserer Arbeit gab es nicht. Nehmen sie das Beispiel von Walter Schäfer. Er hat sich sehr für die Geschichte der Odenwaldschule interessiert. Dabei hat er - 1958/1959 auch mehrere lange Gespräche mit mir geführt, doch ging es dabei nur um meine Biographie und um die Geschichte der Odenwaldschule. Über Pädagogik sprachen wir nicht. Es war, als ob es keinen Boden für ein solches Gespräch gab.

DIE BUNTE: Eine tiefe Fremdheit?

PAUL GEHEEB: Ja, eine tiefe Fremdheit. Man kann es in der Abschrift jener Interviews nachlesen: Walter Schäfer sagte nette Dinge über meinen Erfolg als Pädagoge, während ich ihm zu erklären versuchte, dass ich das Gefühl habe, im Grunde meinen Beruf verfehlt zu haben. Er ging auf meine Zweifel überhaupt nicht ein, als ob es sich dabei bloss um eitles Geschwätz handelte.

DIE BUNTE: Und Sie haben tatsächlich an der Richtigkeit Ihres Weges gezweifelt - trotz Ihres Erfolges?

PAUL GEHEEB: Ja. Ich empfand da zumindest immer ein grosses Unbehagen. Ich habe mein Leben lang das Gefühl gehabt, nicht verstanden zu werden. Es war ein wenig, als ob ich Kardinal in Rom wäre nur um dort immer und immer wieder zu sagen, dass ich die Vereinnahmung der Religion durch eine Kirche falsch finde. Unser Biograph hat ja versucht, diesen Konflikt in mir und meiner Arbeit freizulegen: Ich habe im Grunde nie an Erziehung geglaubt und doch habe ich eine Schule eröffnet. Verstehen Sie mich richtig: Ich wollte, dass junge Menschen lernen und viel in sich aufnehmen, während sie heranwachsen. Ich war begeistert von dem Potential, welches in jedem Menschen steckt, von der Neugier, dem Drang, zu Verstehen und Nützlich zu sein, von dem Wunsch, als Teil einer Gemeinschaft anerkannt zu werden. Diese Sehnsucht, die in jedem Menschen steckt, die war und ist für mich das höchste Gut, das ich kenne -, etwas heiliges, ein Keim, der sich entfalten will undsoll. Diese Entfaltung zu ermöglichen und den Keim vor zu früher Verstümmelung und Deformation zu schützen - dafür habe ich gelebt! "Werde, der du bist", das war für mich die höchste pädagogische Weisheit, das oberste Ziel, an dem wir unser Tun ausrichten sollten. Mir war es immer klar, dass man Bildung nicht nach einem bestimmten Schema vermitteln kann. Doch genau das geschieht in unseren Schulen. Was dabei heraus kommt sind mehr oder weniger gleichartige und langweilige Menschen, kümmerliche Karikaturen dessen, was sie ihrer individuellen Bestimmung nach hätten sein können und werden sollen. Es sind Schablonenmenschen, die meist keine Ahnung mehr davon haben, was sie in ihrem tiefsten eigentlich sind, was sie wollen und woran sie glauben. Ellen Key, einige der wenigen Pädagoginnen, mit denen ich mich innerlich wirklich verbunden fühlte, sprach in ihrem Buch "das Jahrhundert des Kindes" von den Seelenmorden in der Schule. Und sie nannte als Resultate der modernen Schule "Abgenützte Hirnkraft, schwache Nerven, gehemmte Originalität, erschlaffte Initiative, abgestumpfter Blick für die umgebenden Wirklichkeiten, erstickte Idealität unter dem fieberhaften Eifer, es zu einem Posten zu bringen". Das war vor mehr als hundert Jahren, und die Situation ist noch immer dieselbe. Ich habe es oft gesagt, es ist eine Situation, bei der nur eine Revolution von Grund auf helfen kann! Bildung ist das Ergebnis unserer Erfahrungen, unserer Versuche, zu verstehen, teilzunehmen, mitzugestalten. Durch diese Versuche, auch durch unser Scheitern, wachsen wir und entwickeln unsere technischen Fertigkeiten und unser Verständnis für die komplexen Zusammenhänge, von denen unser Leben bestimmt ist. Fichte hat dies sehr klar formuliert, und ich habe ihn deshalb immer gerne zitiert: "Niemand wird kultiviert; jeder hat sich selbst zu kultivieren. Alles bloss leidende Verhalten ist das gerade Gegenteil von Kultur. Bildung geschieht durch Selbsttätigkeit und zweckt auf Selbsttätigkeit ab."

DIE BUNTE: Sie sprachen 1936 in Utrecht ja auch davon, dass Sie die Begriffe Erziehung und Erziehen am liebsten ganz abschaffen und nur noch von Entwicklung sprechen würden, da Sie im Laufe ihres Lebens zur immer entschiedeneren Ablehnung der Herkömmlichen Auffassung von Erziehung gekommen seien. Sie plädierten damals für eine umfassende "Abrüstung im Lager der Erwachsenen" zu gunsten der Kinder, die sie als die bildsamsten und unterdrückbarsten Geschöpfe auf Gottes verschandelter Erde bezeichneten. Auch die Figur des Lehrers gehöre ins pädagogische Museum. Stattdessen sollen wir Erwachsenen mit den Kindern leben, all ihre kleinen und grossen Sorgen und Freuden mit ihnen Teilen und sie auch an unserem Leben anteilnehmen lassen. So oder ähnlich sagten Sie damals.

PAUL GEHEEB: Ja, darum geht es. Wir müssen die Schule gewissermassen vom Kopf auf die Füsse stellen: die Lernenden müssen vorausgehen und die Lehrer sollten sie nur begleiten, sollten ihnen folgen und bei Bedarf beistehen. Das wollte ich und zwar nicht nur in dem, was wir als schulisches Lernen begreifen, sondern auch in der ganzen Gestaltung der Schule. Die Schule soll von den Kindern und Jugendlichen gestaltet und verwaltet werden, und ihre Interessen und Fragen sollten ihnen als Kompass bei der Erschliessung der Welt dienen. Wir Erwachsene sollten diesen Prozess so wenig als möglich stören. Unsere Verantwortung liegt vor allem in der Schaffung einer vielfältigen und anregenden Umgebung zu der, wie gesagt, auch erwachsene Menschen gehören, aber keine Lehrer/innen, sondern geistig oder künstlerisch tätige Menschen, deren Interesse über die Schule hinaus geht und von dieser unabhängig ist. Solche versuchten wir stets für die Odenwaldschule und unsere Ecole zu gewinnen. "Ruhig und langsam die Natur sich selbst helfen lassen und nur sehen, dass die umgebenden Verhältnisse die Arbeit der Natur unterstützen", so umschrieb Ellen Key meine Vorstellung von Erziehung.

DIE BUNTE: Martin Näf hat ihren pädagogischen Ansatz in jüngster Zeit ja mehrfach beschrieben und auf eine ganze Reihe pädagogischer Bewegungen und Denker/innen hingewiesen, die heute im Kern genau das sagen und wollen, was sie bereits vor hundert Jahren wollten. Ihre pädagogische Position sei damit alles andere als veraltet. Sie sei hoch modern und dazu äusserst brisant. Ihr konsequentes Festhalten an der Einsicht, dass echte Bildung nicht vermittelt werden könne, entspreche nicht nur den Erkenntnissen der humanistischen Psychologie, wie sie etwa von Maslow oder Rogers vertreten wurde. Sie entspreche auch dem, was Neurobiologen oder empirisch forschende Mediziner wie Gerarld Hüter oder Remo Largo über das Lernen sagen. Damit stehen sie, so behauptet ihr Biograph, jüngeren Pädagog/innen wie John Holt, Rebeca und Maurizio Wild oder den demokratischen Schulen im Stile der Sudburry-School weit näher als der gesamten Reformpädagogik ihrer eigenen Zeit. Auch ihr politischer Appell zur Abrüstung im Lager der Erwachsenen klinge heute weniger exotisch als in den 1930er- und 1940erjahren, bilde er heute doch die Basis einer weltweiten Kinderrechtsbewegung mit ganz ähnlichen Anliegen und Hoffnungen, wie Sie sie damals geäussert haben. Glauben Sie, dass diese Interpretation Ihrer Pädagogik zutrifft, und dass sie wirklich so brisant ist, wie Ihr Biograph behauptet?

PAUL GEHEEB: In welchem Mass diese Interpretation zutrifft vermag ich nicht zu sagen. Es klingt jedoch hoffnungsvoll, dass diese Bewegungen und Menschen da sind und für einen anderen Umgang mit unserer Jugend kämpfen. Dass meine Position brisant ist, habe ich lange nicht verstanden. Doch allmählich begreife ich, dass es so ist, und ich verstehe, weshalb man sich immer nur für das Kurssystem oder die Koedukation interessiert hat ohne mein grundlegendes Anliegen ernst zu nehmen. "Gute" und engagierte Lehrer/innen und Bildungsfachleute fühlen sich verständlicherweise gekränkt, wenn jemand sagt, all ihre Arbeit sei sinnlos oder gar destruktiv. Sie wollen dies nicht hören, denn wie stünden sie vor sich selbst da, wenn es tatsächlich so wäre? Und was würde es für ihre gut bezahlten Arbeitsplätze und ihre beruflichen Karrieren bedeuten, wenn diese Aussagen von den Menschen plötzlich begriffen und ernst genommen würden? Die Reaktionen gleichen denen der Kirche vor hundert und zweihundert Jharen. Selbst wenn man privatim an der eigenen Arbeit zweifelt, so kämpft man doch für den Erhalt der Privilegien. Es ist hier ein tiefer kultureller Konflikt, den ich damals nicht begriff, und über den ich auch heute nur sagen kann, dass er gelöst werden muss - nicht nur den Kindern zu liebe, sondern auch um unser aller Zukunft willen, denn unser Umgang mit der Jugend, diese Zwangsbildung von oben her, ist nicht nur ein moralisches Problem; sie ist ein kulturelles Problem, denn in dem frei sich entfaltenden Geist der Jugend, in ihrem neuen, frischen Wollen, ihrem Empfinden und fühlen liegt die Erneuerungskraft jeder Kultur. Wenn wir diese Kräfte zu früh in ein System einbinden, welches nur noch auf diese oder jene berufliche Verwertbarkeit zielt, dann fehlen uns diese Kräfte, und die Kultur wird zu einer gefährlichen Maschine ohne Sinn für Gerechtigkeit und menschliches Mass. Ich habe vor 80 Jahren davor gewarnt. Seither haben sich die Probleme verschärft. Ich sagte damals, "das Heil kommt von den Kindern aus". Das ist kein Plädoyer gegen jede Art der Führung. Es ist ein Plädoyer für Vielfalt und eine dringende Warnung vor einem Zuviel an Dressur.

Die Bunte: Sind Sie optimistisch?

PAUL GEHEEB: Die Probleme haben sich verschärft, doch auch die Kritik an der heute üblichen Art von Bildung - die Kritik und das Wissen um Alternativen - hat zugenommen. Ich habe damals nach etwas gesucht, von dem ich kaum wusste, was es war. Heute wissen die Menschen mehr und sehen klarer. Darin liegt eine grosse Chance. Und hat Hölderlin nicht gesagt: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch!

Die Bunte: Und Sie, Frau Geheeb, sind Sie optimistisch?

Edith Geheeb: Ich bin auch diesmal skeptischer. Ich sehe mehr Schwierigkeiten. Schwierigkeiten im Kleinen, wo man etwas zu verändern versucht, und Schwierigkeiten im Grossen. Mein Mann sieht das Rettende, ich sehe die Gefahr. Doch spielt dies letztlich keine Rolle. Was zählt ist, dass wir im Leben das tun, was uns richtig scheint. Der Erfolg unseres Tuns liegt nicht in unsern Händen.

Die Bunte: Frau Geheeb, Herr Geheeb. Vielen Dank für dieses Gespräch.

Quellen:
Büschel, Judith: Edith Geheeb. Eine Reformpädagogin zwischen
pädagogischem Ideal und praktischem Schulmanagement. Berlin 2004
ISBN 3-89693-401-5
Hanusa, Barbara: Die religiöse Dimension der Reformpädagogik Paul Geheebs. Die Frage nach der Religion in der Reformpädagogik. Leipzig 2006
ISBN 3-374-02430-0
Näf, Martin: Paul Geheeb. Seine Entwicklung bis zur Gründung der Odenwaldschule. Weinheim u.a. 1998
ISBN 3-89271-730-3
Näf, Martin: Paul und Edith Geheeb-Cassirer. Gründer der Odenwaldschule und der Ecole d'Humanité. Deutsche, Schweizerische und Internationale Reformpädagogik 1910 – 1961. Weinheim und Basel 2006
ISBN 340732071X
Näf, Martin: Paul Geheeb (1870-1961). In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.): Klassiker der Pädagogik Bd. 2, von John Dewey zu Paolo Freyre. München 2003, S. 89-98
ISBN 3-406-49441-2
Näf, Martin: Wyneken und Geheeb: Gemeinsame Anfänge - getrennte Wege - konträre Ziele. Von Wynekens Freier Schulgemeinde Wickersdorf zu Geheebs Odenwaldschule Oberhambach und zur Ecole d'Humanite in Goldern CH, in: Jahrbuch des Archivs der Deutschen Jugendbewegung 3/2006, Schwalbach/Ts 2007, S. 119-146
Näf, Martin: Die Befreiung der Kinder. Paul Geheebs pädagogische Ideen in unserer Zeit. Ein fiktiver Brief, in: Näf, Hans (Hrsg.): EINE MENSCHLICHE SCHULE. Die Ecole d'Humanite von innen gesehen. Ecole d'Humanité 1934-2009 - 75 Jahre in der Schweiz. Zytglogge 2009, S. 291-303
Schäfer, Walter: Die Odenwaldschule 1910 bis 1960. Der Weg einer freien Schule. Oberhambach bei Heppenheim 1960a
Schäfer, Walter: Paul Geheeb. Mensch und Erzieher. H. 4 der Reihe "Aus den deutschen Landerziehungsheimen". Stuttgart o.J. (1960b)
Schäfer, Walter (Hrsg.): Quellen zur Vereinigung der Freien Schulen und Landerziehungsheime Deutschlands, zusammengestellt und kommentiert von Walter Schäfer, in: Berichte aus der Odenwaldschule, 6. Jg., Heft 2, Juli 1960c, S. 70-84
Schwitalski, Ellen: "Werde, die du bist" - Pionierinnen der Reformpädagogik. Die Odenwaldschule im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Bielefeld 2004
ISBN 3-89942-206-6
Shirley, Dennis: The Politics of progressive Education. The Odenwaldschule in Nazi Germany. Cambridge Mass. 1992
ISBN 0-674-68759-0

Quellen im Internet:
Tonaufnahmen von Paul und Edith Geheeb-Cassirer, Minna Specht, Beatrice Ensor und anderen Menschen aus dem Umfeld der Geheebs auf http://www.martinnaef.ch/index.php?menuid=35
Texte zu Geschichte und Gegenwart der Odenwaldschule auf http://www.odenwaldschule.de

Geheeb-Zitate 1910 bis 1955
"Absichtlich und in vollem Bewußtsein der Konsequenzen habe ich in unserem hiesigen Leben den Zwang auf ein äußerst geringes Maß beschränkt, die zweite und größere Hälfte des Tages steht zu eurer freien Verfügung. Ich tat dies, weil ihr auf das wirkliche Leben vorbereitet werden sollt, ihr dort aber nur dann euern Man'n zu stellen vermögt, wenn ihr geübt seid, voller Initiative selbständig und frei zu denken und zu handeln. Das aber läßt sich nur in der Freiheit üben - wie man schwimmen nur im Wasser lernen kann." – Geheeb 1910

"man erzieht zur moralischen Selbständigkeit dadurch, daß man auf die Gewissenhaftigkeit der Kinder vertraut, ihren Gemeinschaften eine weitgehende Selbstverwaltung zugesteht und dahin wirkt, daß die Disziplin sich aus den Kindern selbst entwickele, anstatt durch Vorgesetzte und Autorität von außen erzwungen zu werden." Geheeb 1930

"Die Jugend soll zu tapferen Kämpferscharen erzogen werden, die sich nicht feige in die Welt, die in vielen Hinsichten immer verderbt ist, hineinfügen, sondern gelernt haben, gegen den Strom zu schwimmen (...). So soll die neue Jugend weit über den Rahmen ihrer Heime hinaus wirken zur völligen Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft!" Geheeb 1930

"Bei zu häufigen Gelegenheiten noch steht die Welt der Erwachsenen mit ihren vom grauen Altertume her "geheiligten" vermeintlichen Vorrechten, Verboten und Despotismen als solidarische Macht der Kinderwelt gegenüber. Völlig ausrotten muss der Mensch in sich den Dünkel, in irgend einer Hinsicht mehr zu sein, als ein Kind. "Es sei denn, dass ihr umkehrt und werdet wie die Kinder!" Eine gewaltige und restlose Abrüstung muss im Lager der Erwachsenen stattfinden, eine Abrüstung der riesengrossen physischen und intellektuellen, wirtschaftlichen und technischen Übermacht, die der Erwachsene gegenüber dem Kinde dem bildsamsten und unterdrückbarsten Geschöpf auf Gottes verschandelter Erde mit Selbstverständlichkeit bisher zu gebrauchen, also zu missbrauchen pflegte." Geheeb 1936

"Wohin wir treiben? darüber herrscht heillose Verwirrung. Anscheinend unlösbare politische, wirtschaftliche, kulturelle Probleme überall; von allen Seiten drohen neue Katastrophen; soweit die verantwortlichen Staatenlenker, die Politiker und Volkswirtschaftler, die Generäle und selbst die Philosophen noch ehrlich sind, bekennen sie, am Ende ihrer Weisheit zu sein." Geheeb 1939

"So gewiss eine Organisation an und für sich nicht imstande ist, geistiges Leben zu erzeugen, so gewiss vermag eine schlechte Organisation es zu schädigen, ja zu zerstören." - Geheeb 1955

"Wie ein Fluch lasten die für ganze Schulen, für Hunderte, ja Tausende von Kindern geltenden, also auf Nivellierung ausgehenden, daher kulturwidrig wirkenden Lehrpläne auf Kindern und Lehrern, die amtlich verpflichtet sind, mit allen Schülern innerhalb einer bestimmten Zeit ein gewisses Pensum zu erledigen und die Ziele der Lehrpläne zu erreichen." - Geheeb 1955