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An Marthe B., 23. August 1991

Liebe Marthe! Ob Du diesen Brief gleich wegschmeissen, von wegen das "Beleidigtsein"? - Nein: Du tust es nicht! ... Dass ich auch Dir keine Nummer unserer kleinen Alternativschulzeitung geschickt habe, tut mir Leid. Erst nachdem ich zu meiner grossen Überraschung im Gespräch mit Rose vor einigen Wochen feststellte, dass sie von dem ganzen Unternehmen noch gar nichts gewusst hat, habe ich gemerkt, dass ich im April, als ich die Nummer 1 an alle Freunde und Bekannte, die sich eventuell interessieren könnten, verschickte, mein altes Adressbuch ganz übersehen und nur die in meinem P.C. gespeicherten Adressen berücksichtigt habe. ... Nun schau Dir diesen Satz an! Wenn ich als Journalist ähnlich band­würmle, dann wird die Zeitung vermutlich nicht lange leben, ganz nach dem Motto: je länger die Sätze, desto kurzle­biger die Zeitung! Ich hätte Dich natürlich auch beschickt, denn ich kann mir schon vorstellen, dass Dich die Sache interessiert: einmal aus "verwandtschaftlichem Interesse", dann aber doch auch aus Interesse an der Sache. Die Nummer 3, die in ca. 20 Tagen fertig sein wird, sollst Du jedenfalls kriegen! Also, das wäre jetzt so weit geklärt

Lass mich Dir jetzt vor Allem für Deinen so ausführlichen Brief zu meinem Geburtstag danken. Ich fand ihn hier vor als ich - um den 20. Juli herum - von einer 2-wöchigen Fahrt durch Deutschland - Hessen, Thüringen, Sachsen, Vor­pommern, Rügen, Hamburg - zurückkehrte. Ich habe mich sehr gefreut, so viel über Dich und Dein Ergehen zu erfahren, und möchte eigentlich mit einem ähnlich ausgiebigen Erzählbrief antworten. Im Augenblick allerdings drückt die Zeit. Um 6 Uhr treffe ich mich in der Stadt mit Freund Renzo, um zusammen nach Birsfelden (Vorort von Basel) zu fahren, wo wir zum Abendbrot eingeladen sind. Vorher möchte ich noch auf die Post, um ein paar Briefe und ein dickes Paket mit Kassetten wegzuschicken - Frucht meines heutigen Arbeitens und Aufräumens! - Ja Aufräumen, das ist die Beschäftigung, der ich mich heute vor allem gewidmet habe. Kassetten-Bücher, die ich nicht mehr brauche, ein­packen und nach Zürich zurückschicken, Material in Blinden- und in gewöhnlicher Schrift, das sich im Laufe der letz­ten Wochen auf meinem Schreibtisch gestapelt hat, ablegen oder wegwerfen, sodass ich wieder etwas Platz habe, neue Unordnungen entstehen zu lassen, das war der Hauptinhalt des heutigen Tages. Dabei bin ich den ganzen Tag hundemü­de, habe - seit langem wieder einmal - richtig unruhig und schlecht geschlafen. Ansonsten ziert seit ein paar Wo­chen ein in Werner's Werkstatt gebautes Hochbett mein Zimmer: zwei Matratzen auf einem Bretterboden, der in der Höhe von 1,80 Meter in mein Zimmer eingezogen ist. Weil ich darauf so himmlisch schlafe (kein Wunder bei dieser Höhe!) und es auch sehr gemütlich ist dort oben, und weil das Leben im Übrigen so ein rauer Kampfplatz ist, haben ich dem neuen Bett vor kurzem den Ehrentitel "Friedensinsel" verliehen. ... Jetzt muss ich mich mal umsehen nach ein paar ordentlichen Kleidern und dann muss ich aufbrechen. Darum lebe wohl für den Augenblick.

Samstag. Gegessen, geschlafen - diesmal wieder sehr gut und sehr lang -, gefrühstückt. Hier bin ich wieder. Der Abend ge­stern war schön. Wir ausgesprochen gut gegessen, uns gut unterhalten und gespielt.

Ja, liebe Marthe-(li), mein Leben! In Bezug auf Arbeit bin ich seit einigen Monaten gewissermassen ein wenig entgleist. Habe sehr viel für das Zustandekommen und die Entwicklung unserer Zeitung getan: recherchiert, Artikel geschrieben, Zusammenfassungen gemacht, Werbeaktionen durchgeführt, Übersetzer und Übersetzerinnen gesucht, Men­schen ermuntert für uns zu schreiben, Artikel und Beiträge redigiert etc. etc. Dabei hatte ich mir dieses Jahr ja eigentlich "frei genommen" um die Geheeb-Biographie zu schreiben. Aber es wie ich sozusagen eben damit beginnen wollte, wie ich mein Schiffchen mit allen notwendigen Unterlagen eben hinaussteuerte aufs offene Meer einer schö­pferischen Zeit, da rief man mich heran an den Strand, winkte, ich solle kommen und sehen, und ich – unglückseli­ger - liess mich verleiten, wich ab vom Kurs und band mein Boot an am Ufer, um zu sehen.

Nun liegt es seit Monaten vergessen am Strand, nur hin und wieder denke ich zurück an das Schiff und alles, was ich säuberlich an Bord genom­men hatte, um auf das Meer zu segeln und das Buch zu schreiben, ich denke daran, während ich umzingelt bin von Menschen, die was wollen, von Papieren, von Telefonnummern, die angerufen werden sollten. Es schien, als ob die Menschen, die mich ans Ufer winkten, eine dringliche Sache im Sinne hätten, eine Art Rebellion oder Aufstand. In­zwischen scheint die Aktion stecken geblieben, seit einigen Wochen lagern wir vor irgendeinem kleinen Städtchen und niemand scheint zu wissen, was geschehen soll und was geschah. Seit Wochen gab's keine Kämpfe mehr, keine Sie­ge, nur tägliche Rutine, Lagerleben. - Dieses bild mit dem Boot, das ich rüstete, um das Geheeb-Buch zu schreiben, begleitet mich seit einer Weile. Und ich überlege immer wieder, wie ich zurück auf mein kleines Schiff komme, wie ich dem Trubel entfliehen kann, in den ich seit einem halben Jahr mehr denn je geraten bin.

Konkret heisst das, das ich z.B. überlege, ob ich mich Anfang September für 14 Tage auf den Hasliberg zurückziehen will, um einmal unge­stört an dem Geheeb-Buch zu arbeiten. Hier in Basel bin ich durch Telefonate und durch Post im Grunde dauernd ab­gelenkt. Nur eben: kann ich s mir "leisten", muss ich nicht dies und jenes tun, organisieren etc., und, vor allem auch: habe ich überhaupt die innere Ruhe, mich für 14 Tage ganz aus allem zurückzuziehen und in eine solche Sache hinein zu graben? Im Vergleich zu den aktuellen Dingen, die mich in den vergangenen Monaten so sehr beschäftigt ha­ben, scheint diese Geheeb-Geschichte so belanglos, so alt und vorbei ...

Doch ich muss wieder aufbrechen. Ich werde heute Nachmittag ein paar Stunden mit David arbeiten, ihn in sein neues Textverarbeitungsprogramm einführen. Danach treffe ich mich mit dem Menschen, der mir vor mehr als 20 Jahren die französische Blindenkurzschrift beigebracht hat, um mit ihm noch zwei kurze Texte für die Zeitung zu übersetzen (nachdem die regulären Übersetzer alle überlastet sind). Wenn wir tüchtig arbeiten, sollte es auch noch für ein gemütliches Abendessen reichen, vielleicht wieder einmal in dem nahe gelegenen italienischen Restaurant.

Ich will auch diesen Brief jetzt beenden, denn ich werde in nächster Zeit kaum mehr wirkliche Ruhe haben, ihn wei­ter zu schreiben, und ich möchte doch nicht, dass er wochenlang hier bei mir liegen bleibt. Sein chaotisches Hin und Her entspricht so ziemlich genau meinem jetzigen Leben. Voll ist es und spannend, zuweilen fluche ich, weil es alles zu viel scheint, weil sich der Erfolg nicht so schnell zeigen will, wie er sollte, weil ich in irgendeiner Sache nicht vorankomme etc.; aber immerhin, ich fluche eher als dass ich mich bedrücken und beelenden lasse und lebe also ganz dem Ausspruch Goethes gemäss: Mensch sein heisst ein Kämpfer sein! - Das gilt natürlich nicht nur in Bezug auf die Arbeit, sondern in Bezug auf das ganze Leben, bei dem ja an allen Ecken und Enden die Möglichkeit besteht, unterzugehen, weniger physisch, sondern vor allem psychisch oder "geistig".