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An Martin T., 25. Oktober 1992

Lieber Martin! Draussen regnet es inbrünstig und in mir ist's Herbst geworden, furchtbarer düsterer Herbst. Bleibt nur der Trost, dass meine inn'ren Herbste bis jetzt nie lange währten ... und warum soll es dies Mal anders sein!?

Als ich vor etwa 4 Wochen wieder einmal - es geschieht selten in letzter Zeit - in der Ecole war und mit meinem Akkordeon geholfen habe, Ruth Cohn's 80 Geburtstag zu feiern, da sprach Marie-Luise zufällig von Dir resp. von Deiner Andacht über die Ecole. Was Du damals gesagt hast, ist ihr in guter Erinnerung und beschäftigt sie noch immer. Die Verbürgerlichung der Ecole ... sie hat seit unserem Zusammentreffen dort oben, auf dem pädagogischen Berge, gewiss nicht abgenommen, umso mehr habe ich mich gefreut, bei Marie-Luise noch eine gewisse Bereitschaft zu Selbstzweifeln und Selbstkritik zu finden, eine Bereitschaft, die sonst nicht gerade verbreitet ist dort oben auf dem Berge. Interessant und sehr bezeichnend ist der Ausspruch einer frustrierten Schülerin, über den Marie-Luise in jenen Wochen mehrmals gestolpert ist, und den auch ich gehört habe: Die Mitarbeiter sollen mich nicht wegen meiner Offenheit loben, wenn ich etwas kritisiere, sondern sie sollen auf das eingehen, was ich sage!

Wie das Schicksal so spielt ... Ich habe den ganzen Tag damit zugebracht, an einem Text über die Ecole herum zu knorzen, den ich in den nächsten Tagen an den Stiftungsrat der Peter Hans Frey-Stiftung schicken muss. Die Ecole soll nämlich den diesjährigen Preis dieser Stiftung kriegen, und um die Stiftung und die Ecole wieder einmal ein wenig ins Licht der Welt zu rücken, soll eine Pressemappe verschickt werden, in der u.a. mein Artikel liegt. Ich habe schon die ganze Woche diverse Anläufe genommen, bin jedoch stets gescheitert und habe alles Geschriebene weggeschmissen. Jetzt der Zufall: Während ich nach erneut verlor'ner Schlacht deprimiert in meinem Stuhle sitze und die Wolken nach und nach aus meinem Gemüte weichen, habe ich plötzlich die Idee, wiedermal an Dich zu schreiben. Weshalb gerade an Dich? ... Ich habe mich das nicht gefragt, stelle nur jetzt fest, dass ich die Gelegenheit sehr zielstrebig benütze, um über unsere liebe Ecole zu schimpfen ... Vielleicht geht mir auch diese unglückliche Liebe näher als ich normalerweise meine.

Und Du? ... Dies ist eine Frage an Dich und zugleich ein Zitat aus einer Theaterproduktion, bei der ich mitgewirkt habe. Ich schicke Dir unsern Handzettel, damit Du wenigstens einen fernen Reflex von der Sache abkriegst ... Dass Du die Aufführungen verpasst hast, soll Dich weiter nicht schmerzen. Die Sache war sowohl vom Stück als auch von unserer Schauspielerei her eher mittelmässig, so fand jedenfalls ich mit meiner vielleicht etwas pathologischen Nörgelsucht ... Immerhin: Ich habe seit langem wiedermal erlebt, wie gerne ich Theater mache ... Jetzt will ich sehen, dass ich hier in Basel in eine Produktion komme oder selbst was auf die Beine stelle! ... Wenn solche Wünsche nur leichter in Erfüllung gingen und nicht immer (oder doch meistens) mit so viel Aufwand verbunden wären! Und Du? ... Was geschieht in Dir und um Dich herum? An was werkelst Du und mit wem? - Wohin geht sozusagen Deine Reise?

Wenn Du mir was zum Thema "Kinderrechte" schicken oder sagen würdest, was würdest Du schicken oder sagen? Hast Du dazu Gedanken, Texte, Witze, eine Kurzgeschichte? - Das nächste Heft von "endlich!", unsere liberalistisch-idealistischen "Zeitung für ein freies Bildungswesen" ist nämlich dem Thema "Kinderrechte" gewidmet. Natürlich bist Du auch sonst immer willkommen in den Spalten dieses reaktiobellischen Geblätters, wenn Du mal was über "Erziehung" "Nicht-Erziehung" "Entschulung" oder so ähnlich schreiben oder uns eine interessante Rezension schicken willst.

Inzwischen ist aus der schönen Lautenmusik an meinem Radio ein schreckliches Gequietsche geworden - irgendwas modernes von einer Frau, die jetzt eben gestanden hat, dass sie Musik nicht möge ... Ich glaube, ich muss den Sender wechseln! ...

Tat's und sank erneut darnieder in furchtbar tiefe Depression,

dachte, seufze, ächzte, stöhnte  -Leben, ach was für ein Hohn!

Raffte sich zu guter Letzt trotz aller Qualen auf

Und schrieb und schrieb und schrieb!

Plötzlich – oh was ein Wunder! - ist's geschafft!

Dank einer Flasche weissen Weines ist's vollbracht,

wär hätte dies vor ein paar Stunden noch gedacht!

O Martin, lass mich diesen Brief nun schliessen

und den Rest des Abends (es ist Viertel nach Vier!)

noch ganz auf meine Art geniessen!

In der Hoffnung bald einmal von Dir zu hören,

will ich Dich nicht mehr länger stören!

Ganz ganz herzliche Grüsse und viele gute Wünsche! Dein Laternenputzer in Despe