An Reinhard A., 31. Januar 1992
Was mich angeht, so bin ich glücklicherweise (und natürlich auch altersgemäss) immer gesund und meistens auch fröhlich. Meine Arbeit ist zur Zeit zwar ein Chaos von kleinsten und kleinen Projekten, Plänen, Möglichkeiten, Träumen und Zweifeln, das nicht ganz dem entspricht, was man von einem Mann in meinem Alter erwartet. Ich habe mit der Herausgabe einer kleinen pädagogischen Zeitung begonnen, die sich in freiheitsliebender und rebellischer Weise mit unsern grossen Bildungssystemen anlegt und andere Schul-‑ und Bildungsideen unter das Volk und die Fachleute bringen will. Das ist eine ziemlich arbeitsintensive Sache und angesichts der ziemlich düsteren Weltgeschichte - düster trotz den unglaublichen Ereignissen in Osteuropa! - angesichts der Umweltprobleme etc. kommt mir dieses Unterfangen zwar immer wieder ziemlich kindisch vor, aber nun: wir haben diese Zeitung geboren, jetzt müssen wir sie auch aufpäppeln. - Daneben schreibe ich hie und da für irgendwelche Zeitungen oder werde engagiert, um über ein "alternativpädagogisches" Thema zu referieren oder eine Podiumsdiskussion zu leiten. So bin ich in einer Woche in Bern um über Eltern zu sprechen, die sich weigern, ihre Kinder in die staatliche Schule zu schicken, weil sie diese für kinderfeindlich oder sonst was halten. In drei Tagen soll ich mit Eltern in Zürich über die Wirkungen unterschiedlicher Schulen auf ihre Kinder sprechen und dazu auch etwas sagen etc. Diese Engagements freuen mich; sie bringen mich auch immer mit neuen Menschen zusammen, geben mir neue Impulse für die eigene Aufklärungsarbeit in Sachen Erziehung. Im Gegensatz zu vielen andern Dingen die ich tue -Arbeit für unsere kleine Zeitung, Mitarbeit in diversen Vereinen etc. - werde ich für diese Auftritte auch bezahlt. ... Zweifel kommen dennoch immer wieder, wenn ich mir anschaue, mit welchem Eifer wir unsern Planeten kaputt wirtschaften nur um ein wenig - ein paar Jährchen oder Jahrzehnte - in Saus und Braus gelebt zu haben ... Dazu kommt noch, dass ich im Grunde zu alleine Arbeite, dass ich gerade für so was wie unsere Zeitungsarbeit ein Büro haben möchte mit ein oder zwei MitarbeiterInnen, damit man sich gegenseitig immer wieder ermuntern und ermutigen kann. Dies ist jedoch zumindest im Augenblick nicht möglich. - Musik, Theater und liebe Freunde sind ein wichtiger Ausgleich für all diese ernsten Dinge und das viele stille arbeiten für mich allein. Seit kurzem gebe ich auch wieder ein wenig Musikunterricht - etwas, was ich sehr gerne tue - und habe meine Kasse auch durch Auftritte an irgendwelchen Tanzanlässen aufgebessert -, etwas, was ich schon jahrelang tue.
Nun meine Segelpläne und das, was Du mir dazu geschrieben hast. Du rätst also ab, da so ein Turn zu lange und langweilig sei. Dazu warnst Du (vielleicht in Erinnerung an unsern Mittelmeerturn 1984?) vor dem allgemeinen Bordkoller! Könnte sein, dass Du recht hast -, ich müsste mich entsprechend auf Langeweile etc. einstellen, reichliche und gute Lektüre oder andere Dinge mitnehmen. Dann ginge es vielleicht. Prinzipiell käme nur eine Überfahrt in Frage, für die ich (ausser Verpflegung u.ä.) nichts bezahlen müsste, wo ich aber mithelfen würde, soweit ich dies kann. Für einen gewöhnlichen, bezahlten Turn fehlt mir zur Zeit ganz einfach das Geld.
Du rätst also ab und empfiehlst mir dagegen einen billigen Flug mit anschliessender Rundreise durch die USA. Du denkst auch, dass wir evtl. über die Schiffergilde-Nachrichten jemanden finden könnten, der mit mir durch die USA reist. Nun ist es aber so, dass ich mir vor ein paar Jahren vorgenommen habe, nicht mehr zu fliegen. Nicht weil ich Angst davor hätte oder weil es mir zu teuer wäre (es ist ja perverserweise die billigste Transportart für weite Distanzen). Nein. Ich will aus umweltschützerischen Gründen nicht mehr fliegen. Zugleich habe ich jedoch eine ziemliche Liebe zu den USA. Nun denke ich also über Möglichkeiten nach, wieder einmal dorthin zu kommen, ohne fliegen zu müssen. Segeln schien mir dabei eine spannende Möglichkeit, eine, die meinem Sinn für Romantik und Abenteuer sehr entspricht. Realistischer ist vielleicht (auch nach dem, was Du mir geschrieben hast) die Überfahrt per Frachter oder Personenschiff. Allerdings sind reguläre Passagen auf einem Personendampfer ja ebenfalls sau teuer, da sie als Luxus verstanden und aufgezogen sind. Mir würde ein billiger Platz im "Zwischendeck" (im Stile der Auswanderer vor hundert Jahren) oder auch ein Wind geschütztes Plätzchen auf Deck ausreichen. Da sehe ich mich zufrieden mit meinem dicken Schlafsack, einer Plastikplache gegen die Feuchtigkeit, einem Rucksack, in dem etwas Essen, eine Zahnbürste, eine Flöte und etwas Lektüre drin ist. Falls eine nördliche Route gefahren würde, so würde ich mich sicherlich über einen Winkel unter Deck freuen! - Ich würde den Atlantik auch dann am liebsten auf diese Weise überqueren, wenn ich das Geld hätte, mir eine Passage auf irgendeinem Luxus-Liner zu kaufen! Ich habe halt wirklich so einen unbefriedigten Teil Abenteuerblut in mir! - Eine solche Überfahrt lässt sich vielleicht auftreiben, obwohl natürlich auch hier alle Leute sagen: "flieg doch! Ist doch viel einfacher und billiger!" - Aber wie gesagt: ich habe beschlossen nicht mehr zu fliegen, wenn nicht ein wirklicher Notfall vorliegt. ...
Was eine Begleitperson für eine Reise durch die USA angeht, so hast du schon recht. Wenn ich schon mal drüben bin, so lockt mich natürlich gerade das alleine Unterwegssein. Im Übrigen kenne ich ja relativ viele Menschen in den USA aus der Zeit meines Studiums dort und auch von später, sodass ich wohl vor allem diese alten Freunde besuchen würde. Wenn ich länger bleiben könnte, würde ich zudem evtl. auch einige alternative Schulen anschauen gehen, dort vielleicht auch etwas mitarbeiten etc. ... Allerdings ist all dies eher ein Luftschlösschen, das immer wiedermal vor mir auftaucht. Konkrete Pläne habe ich zur Zeit überhaupt nicht. Könnte mich für längere Zeit im Augenblick hier auch gar nicht frei machen. - Wenn allerdings plötzlich jemand käme und sagen würde: "wir segeln in 4 Wochen los, kommst du mit?", dann würde ich mitsegeln. Irgendwie müsste es dann einfach gehen!
Konkretes Interesse habe ich also nach wie vor an einer Crew, die mich (trotz Blindheit) auf eine Atlantiküberquerung mitnehmen würde. Dazu auch an billigen, primitiven Passagen auf irgendeinem Frachter, bzw an Informationen über solche Fahrgelegenheiten. Konkrete Termine etc. bestehen jedoch nicht, weder für die Segelidee noch für die Frachtschifferei!
Lieber Reinhard! Der Brief ist unerwartet lang geworden! Wenn Du zufällig irgendwelche weiteren Tipps für mich hast, so bin ich daran natürlich interessiert. Um aktiv zu recherchieren oder zu inserieren scheinen mir die Pläne noch zu unsicher. Aber vielleicht hältst auch Du Deine Ohren und Augen etwas offen, und wer weiss: plätzlich taucht eine Gelegenheit auf!
Ich muss jetzt los, übern Rhein, um (ein weiteres Element meines Kampfes ums Dasein!) einem sehbehinderten Freund noch zwei Einführungslektionen in seinen Computer zu erteilen. Während ich geschrieben (und dabei selig vor mich hingeträumt habe von frischem Wind und hoch spritzendem Gischt!) ist's kalt geworden in meinem Zimmer! Wenn ich zurückkomme, am Mittag, werde ich erstmal ordentlich einheizen (Holz und Kohle -, ganz altertümlich noch und sehr gemütlich und nach meinem Geschmack!).
Ich würde mich freuen, auch dann wiedermal von Dir zu hören, wenn Du keine weiteren Tipps und Informationen hast. Ich wüsste gerne ein wenig mehr von Dir -, davon, was Du so treibst wenn Du nicht in Bregens oder sonst wo am oder auf dem Wasser bist. Ich wüsste auch gerne, wie's Dir gesundheitlich und überhaupt geht ... - Wenn Du magst, dann schreib! Und solltest Du mal in die Nähe von Basel kommen, dann melde Dich! Ich würde gerne wiedermal direkt und von Angesicht zu Angesicht Dir gegenübersitzen!
Ich danke Dir noch einmal für Deinen lieben Brief und grüsse Dich ganz herzlich!