Die Ecole d‘Humanite, wirklich eine andere Schule?
7. August 2007, wieder da! Im Vergleich mit der damaligen Schule wirkt die Ecole heute geradezu luxueriös. Im obern Stock des zu Beginn der 1970erjahre erbauten Osthauses gab es damals keine Wohnung. Unsere aus 10 bis 12 Jugendlichen, Gertrud und mir bestehende Familie hatte keinen eigenen Familienraum und keine Küche. Während der warmen Monate begannen wir den Tag regelmässig mit 15 Minuten "Morgensport", danach wurde kalt geduscht. Natürlich gab es viele, die den Morgensport nicht mochten, und es gelang längst nicht allen MitarbeiterInnen, ihre Kids für dieses anachronistische Unternehmen zu begeistern, und auch darüber, wie kalt die kalte Dusche denn sein müsse wurde heftig gestritten, denn die Fraktion derer, welche vom Sinn solcher spartanischen Rituale überzeugt war, war schon damals nicht gross, aber immerhin: es gab noch "morgensport", und eine wirklich warme Dusche gab's nur am Samstag Abend oder nach einem Skitag oder einer Blaubeerenwanderung.
Ob es den Morgensport noch gibt, weiss ich nicht. Das kalte Duschen ist inzwischen jedoch endgültig aus dem Katalog der Dinge, die die Ecole ausmachen, gestrichen wie mir Sarah, eine der Leiterinnen der Schule, gestern erzählt hat. Dafür haben Maria und ich jetzt eine eigene kleine Wohnung mit kleiner Küche und privatem Bad. Vorbei also das gemeinsame Zähneputzen und das Duschen mit den Jungen undMädchen unserer Familie. Dafür haben wir jetzt was wir früher nicht hatten: einen Raum, in dem wir zusammensitzen und schwätzen oder spielen oder Aufgaben machen können.
Anfänglich waren wir etwas ratlos, wie wir aus der schlauchartigen Küche und dem offenen Eingangsbereich unserer Wohnung so etwas wie ein Wohnzimmer machen können, doch nach ein wenig überlegen, Kaffeetrinken und Möbelrücken haben wir eine, wie wir finden, ganz akzeptable Lösung gefunden. Auch in meinem Zimmer schaut's schon sehr wohnlich aus. Pièce de Résistence ist ein indischer Schlaftisch, den ein anderer Mitarbeiter dagelassen hat als er die Ecole verliess.
Ich bin ganz zufrieden mit dem, was wir in den letzten beiden Tagen geschafft haben. Maria ist ein umgänglicher, angenehmer Mensch. Wir waren wohl beide noch etwas schüchtern. Immerhin sollen wir schon bald sehr eng miteinander arbeiten und dies nicht nur von 8 bis 5, sondern so ziemlich rund um die Uhr ohne grössere Unterbrechungen bis Weihnachtn und darüber hinaus. Die zwei Tage waren also eine Art Ausprobieren. Maria war offenbar ganz froh, dass ich da war, denn als echte "Neue" ist sie hier oft etwas ratlos, während ich als Rückkehrer die Schule doch schon ziemlich gut kenne und weiss, wen ich fragen muss, wenn es um Bettwäsche oder einen Internetzugang oder um die Kurse geht, die wir unterrichten sollen.
17. August 2007, es wird ernst. Vor zwei Tagen bin ich mit 12 Umzugskartons, zwei grossen Teppichen aus dem Brockenhaus und meinem kleinen Schreibtisch in der Ecole angekommen. Seither habe ich ausgepakct und eingeräumt. Maria ist noch in Basel und auch sonst sind nur wenige Menschen in der Schule. Es wirkt alles sehr still und ausgestorben. Das Einrichten ist eine zähe Sache. Die Einteilung meiner vier Wandschränke ist doof: kleine Fächer, in die nichts reingeht unddaneben zuviel Platz für Kleider, die an einen Bügel gehören. Über meinem Arbeitstisch fehlt ein zweites Brett als Ablage und die Idee mit dem indischen Schlafpodest war vielleicht doch nicht so brillant, wie sie mir vor 10 Tagen erschien. Ich fühle mich wie ein Fremdling in irgendeiner Wüste. Ich ertrage die Stille und das Abwarten nicht sehr gut.
Ich müsste noch Walter und Marlies aufsuchen, um wegen der Schrankeinteilung, des Brettes über meinem Schreibtisch und das benamen meiner Wäsche zu sprechen, aber ich mag nicht. Ich fühle mich fremd. Obwohl ich die beiden im Grunde seit Jahren kenne, erkenne ich ihre Stimmen nicht und weiss auch nicht recht, wo ich sie finde. Marlies müsste in der "Wäschestube" im Untergeschoss des "Haupthauses" sein und Walter finde ich am ehesten in der Werkstatt, aber seit der Bauerei vor ein paar Jahren habe ich Mühe meinen Weg dorthin zu finden.
Ich erinnere mich daran, wie Gertrud mir damals das ganze Gelände der Ecole gezeigt hat: Das Haupthaus hier und auf derselben Achse mit ihm dort drüben das Turmhaus. Gegenüber von Turmhaus das Max Cassirer-Haus mit dem Esssaal und der "Gallerie". Zwischen Turmhaus und Max Cassirerhaus der "Platz" mit den Baskettballkörben und der Elefantentreppe vor dem Max Cassirer-Haus. Von dort aus sieht man quer über den Platz das Turmhaus, schräg links in der Ecke das alte Haupthaus und rechts vom Turmhaus das "Waldhaus". Links zur Strasse hin stehen die "Barakke" und das "Stöckli". Auf der gegenüberliegenden Seite von Barakke und Stöckli liegt die Blatterwiese ... so hat Gertrud mir alles 1975 erklärt und ich habe geübt: Vom Haupthaus zum Turmhaus, dann quer über den Platz zur Barakke und von dort aus in den Speisesaal im 1. Stock des Max Cassirer-Hauses. Mobilitätstraining pur! Bald kam der lange Weg und der Osthausweg hinzu. Dann folgten die Aussenhäuser – das "Haas-Haus" (eigentlich Haus Sandra), das Wilihaus und das Haus am Hang und so nach und nach Dorf auf und Dorf ab, bis ich ein einigermassen genaues Bild vor dem 'inneren Auge' hatte.
Das war damals, vor 32 Jahren. Barakke und Stöckli mussten Mitte der 1980erjahre dem Wagenscheinhaus weichen, so genannt nach dem bekannten Pädagogen Martin Wagenschein, einem Mitarbeiter der Geheebs in der Zeit vor ihrer Emigration aus Deutschland. 1990 oder 1991 verschwand das Turmhaus. Mit seinen rundum laufenden Balkonen, seinen vielen kleinen Zimmern, dem eigentümlichen Turm, dem es seinen Namen verdankte, dem grossen Saal in seinem Erdgeschoss mit dem alten knarrenden und vielfach gewölbten Boden war das Turmhaus bis Mitte der 1980erjahre das Herz der Ecole. Im Turmhaus zu leben galt als cool. Die "Turmhausfamilien" waren stets von einem besonderen Nimbus umgeben. Sie mussten auch bei Regen und Schnee zum Duschen rüber in den Keller des Haupthauses. Im Turmhaus gab es lediglich ein Badezimmer, welches aus unerfindlichen Gründen jedoch fast immer verschlossen war. Wenn der Mensch im Nachbarzimmer furzte, so hörte man es oft noch zwei Stockwerke tiefer. Die Wände waren so dünn, dass man einander durch zahllose Ritzen beobachten konnte und bei Föhn musste man aufpassen, dass man nicht samt seiner Habe einfach aus dem Haus gepustet wurde. Dieses Turmhaus also gibt's auch nicht mehr.
Das Turmhaus war schon da, als die Geheebs 1946 mit ihrer Schule auf den Hasliberg zogen, und ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass es nicht mehr da ist. Das Geheeb-Haus, welches damals an Stelle des feuerpolizeilich nicht mehr zugelassenen Hauses trat, wirkt wie ein Fremdkörper auf mich. Es steht da, vornehm und geräumig, doch es ist für mich nicht mehr oder noch nicht die Ecole. Ich habe in dem neuen "grossen Saal", in den neuen Schulzimmern, dem neuen Konferenzraum und dem "Aquarium" im Untergeschoss des Hauses noch nichts erlebt, jedenfalls noch nichts "wesentliches" – keine erhitzte Schulgemeinde mit Gesprächen davor und danach, keine Theaterprobe, kein Stühleaufräumen nach einer Andacht und keine müde Singgemeinde ...
Fremdheit ist ohnehin das vorherrschende Gefühl in diesen Tagen. Der Übergang von meiner konfortablen Existenz als Privatgelehrter in eigener kleiner Wohnung in Basel mit allen dazugehörigen Freiheiten zu meinem neuen Leben in der Ecole macht mir zu schaffen. Das Packen und Aufräumen der letzten Tage war wie wenn ich mir meine eigene Heimaterde abgraben und meine Wurzeln blosslegen würde, um mich umzutopfen. Jetzt halte ich mich gewissermassen in der Hand, meine Wurzeln baumeln ungeschützt in der Luft. Gefühle, die ich lange mich mehr so intensiv gefühlt habe, werden wieder lebendig. Das Bedürfnis nach Kontakt und Geborgenheit ist gross. Es ist stärker als alle anderen Motive, die mich dazu gebracht haben, hierher zu kommen. Hinter der Fassade des Erziehungswissenschaftlers mit seinen vielen Büchern und seinem Wissen und hinter der Fassade des klugen, zurückhaltenden Beobachters breitet sich mein inneres Ich mit seinen vielen oft schlecht beleuchteten Gassen und Plätzen aus. Die Gestalten, die hier zuhause sind, sind mir fremd. Sie wirken scheu, manchmal haben sie etwas dreist freches, verschlagenes, manchmal ducken sie sich verschämt und versuchen möglichst ungesehen an mir vorüber zu kommen. Es ist mein inneres Hinterland, der Humus meiner Existenz mit seinen Sehnsüchten, seinen Fantasien, seinen heimlichen Freuden und Leiden ...
Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Hasliberg und spüre eine starke Sehnsucht nach damals ... Kindisch, unmöglich, denn damals war damals, ich weiss es! Und doch: ich spüre die Sehnsucht und kann mich nicht von all den Erinnerungen lösen: 13 und 14 jährige Jugenddiche, Eric auf dem selbst gebastelten Kistenbass im Turmhaus wie er während einer Aufführung unserer Jazzband mitten in seinem Solo von der Kiste fällt ... Hachi, der wütend zum grossen Saal hinaus stampft, weil ich es eine Woche vor der Aufführung eines Brechtstücks gewagt habe, ihn zu kritisieren ... Michi, der Tag für Tag den Stuhl neben sich besetzt, weil er mich während des Essens an seiner Seite will ... Helmar, der mir von seinem Heimweh nach Indien erzählt, wo er die ersten vierzehn Jahre seines Lebens zugebracht hat ... Alles vorbei. Tempi passati. Draussen scheint die Sonne und ich versinke in Schwermut!
Schluss damit. Ich raffe mich auf, um zu sehen, ob ich Walter oder Marlies irgendwo finde. Vor dem Haupthaus höre ich plötzlich eine vertraute Stimme, die hoch oben meinen Namen ruft. Es ist Cherard, der damals mit mir hier Lehrer war. Er ist bei Volker und Linde zu Besuch und hat zufällig zum Fenster raus geschaut und mich gesehen! Wir begrüssen uns freudig und bald sind wir in heftigsten Gesprächen über das damals erlebte, über die Ecole heute und die heutige Zeit insgesamt vertieft. Cherard scheint eben so froh, einen Menschen von damals zu treffen, wie ich es bin. Ich lade ihn zum Mittagessen ins Pöstli ein. Er nimmt gerne an und zwei Stunden später ist mein Anfall von Sehnsucht und Heimweh vorüber. Ich packe meinen Rucksack, um noch einmal für vier Tage wegzufahren: Abschiedsparty an der Ramsteinerstrasse in Basel und danach zweieinahlb Tage mit Joseph Chilton Pearce, Peter Levin und Felicitas Vogt am Bildungsfestival in Weggis. Am Montag Abend und vielleicht noch am Dienstag treffe ich mich dann mit "Tante Rosi" in Basel und danach geht's hier oben los!
9. September 2007, und, wie geht's jetzt weiter?
Vor bald drei Wochen haben wir angefangen: Zunächst zwei Tage mit Infos für die neuen MitarbeiterInnen. Dann "Mitarbeiterwoche", d.h. fünf Tage mit Gesprächen und Infoveranstaltungen rund um die Ecole: Wie funktioniert das 'Kurssystem'? Welches sind die Grundideen der Schule? Was ist ihre Geschichte? Was sind 'Morgen-' und 'Nachmittagskurse'? Stimmt es, dass es keine Noten gibt, auch nicht für die Morgenkurse, die ja die 'intellektuelleren' Fächer betreffen? Muss man auch Nachmittagskurse geben?Was für einen Stellenwert hat die "Arbeit in den Familien" in der Ecole und wie sieht sie konkret aus? Müssen die Lehrer und Lehererinnen normalerweise auch 'Familienhäupter' sein? - Ja, ja, ja! Ihr könnt aber wenigstens Skilaufen -, wenn es Schnee hat! Gelächter und wieder Fragen.
Unsere Familie ist noch klein: Drei "Interne" und zwei "Externe". Heute wird Ina, ein Mädchen aus Deutschland dazukommen, und in einigen Tagen erwarten wir noch Leonid aus Moskau, der wegen Visumproblemen noch nicht hier ist. Vorgestern fanden die ersten regulären Morgenkurse statt. Gestern gingen wir auf "Heidelbeerwanderung". Nando, mit noch nicht elf Jahren unser Jüngster, ein Externer aus Brienz, blieb zu hause, um sich von den strapaziösen Einführungstagen zu erholen. Wir übrigen, Maria und ich, David aus Küsnacht, Sarah aus Zürich oder Biermannsdorf, Vasco aus Bali und Anja (eine Externe) aus Goldern – wanderten von Käserstatt in Richtung Giebel, pflükcten Heidelbeeren, brieten Würste, Bananen, Käse und alles, was wir an Bratbarem in unseren Rucksäcken hatten. Es war sehr friedlich. Gegen drei Uhr nachmittags war ich mit David zurück. Wegen einer Druckstelle an seinem Fuss haben wir beide die Gondel runter genommen. Die anderen sind gelaufen. In der Ecole erfuhren wir, dass Ina erst morgen kommt.
Es geschieht so viel hier, dass ich unmöglich alles aufschreiben kann. David hat gestern nach der Wanderung beim Rumtollen auf dem Trampolin einen Zeh angeknackst. Jetzt trägt er einen Verband und hat Krücken. Ich sollte meine Kurse vorbereiten. Gleichzeitig will ich ein wenig von dem aufschreiben, was in den letzten zwei Wochen hier los war. Ich würde auch gern ein bisschen in der Weltgeschichte herumtelefonieren. Nach der Mittagspause müssen wir aber noch unser "Familienportrait" vorbereiten. Diese Portraits, kurze Darbietungen, werden am Abend im grossen Saal vorgeführt. Die Idee gehört zum Spezialprogramm der ersten Tage. Die Familien sollen auf diese Weise zusammenwachsen. Naja. Maria und ich sind nicht begeistert von der zusätzlichen sonntäglichen Aktivität, und unsere Familie tut sich gleichfalls etwas schwer mit dem Kreativen ... Aber what can you do. This is Ecole. Und dann trifft Nina mit ihren Eltern ein. Sie kommen aus Heidelberg. Nina ist scheu. Wir trinken Tee.
Ich spüre Druck und schlechte Laune, auch Traurigkeit und Verlorenheit. Der Druck hat mit dem Lehrersein zu tun. Obschon mein didaktisches Konzept ganz anders ausschaut quält und drückt mich doch das Gefühl, meinen SchülerInnen morgen etwas bieten zu müssen ... Unterricht als Show. Du kriegst eine Gelegenheit. Nütze sie gut oder das Publikum wendet sich ab, beginnt zu gähnen oder mit Papierkügelchen zu werfen oder andere Dinge zu treiben, die nichts mit dem Unterricht zu tun haben. Nütze die Chance, oder du bist bald der Einzige, der in deiner Stunde wirklich aufpasst und mitmacht! Das ist die Angstbrühe, die ich (und sicher nicht nur ich) regelmässig aus meinem Innern pumpen muss, um als Lehrer fit und funtionstüchtig zu bleiben. Dieser innere Druck und diese Angst machen mich unruhig, sodass ich Mühe habe, mich innerlich wirklich mit meinen Kursen zu beschäftigen.
Die Tatsache, dass mein Internetzugang seit Tagen nicht mehr funktioniert und es offenbar nicht so einfach ist, hier oben eine Comm-Box einzurichten, da unsere privaten Telefonanschlüsse an der Zentrale der Ecole hängen und vom Computer der Swisscom deshalb nicht direkt angewählt werden können, verstärkt meine schlechte Laune. Ich möchte Vorbereiten, möchte das Internet nach Barockgedichten durchsuchen oder ein paar Mails schreiben und kämpfe dazu stundenlang mit dem PC ... Wenn ich heiter und ausgeglichen wäre, so würde ich flexibel um dieses Hindernis herumimprovisieren, würde es als belebende Herausforderung anlachen und mit ihm tanzen. Jetzt bin ich nur ärgerlich und verbeisse mich in die nichtfunktionierende Technik ... Das ist Ecole Life. Das ist Pädagogik life, das ist Martin Näf mit seinen Mustern und seinen Reaktionen.
11. 9. 2007, Morgenkurse
Die ersten beiden Kurse (deutsche Literatur und Geschichte) waren gestern und heute mein Lernfeld. In beiden Kursen wollte ich ursprünglich zunächst eine breite Übersicht über die Materie erarbeiten. Ich habe mir dabei angeregte und anregende Gespräche darüber vorgestellt, was Literatur oder Geschichte sei, habe auf viel zerstreute Einzelkenntnisse gehofft, die wir alle in einen Topf werfen und dann zu einem grossen Panorama zusammensetzen würden. Bei Jan, einem 16-jährigen Jungen aus Basel, würde so was wohl auch funktionieren. Er ist in meinem Geschichtskurs (2. Stunde, 09:50 bis 10:50). Er redet und diskutiert gerne und hat sofort mit Lust viele grosse Worte in unsern Topf geworfen: Kolonialismus, Hitler, Luther, Imperialismus ... Andere gaben eher lustlos ein paar Brocken von dem, was sie von ihrer früheren Schule her noch im Kopf hatten dazu: Die Griechen, die Römer ... Anja, die neben Jan am lebendigsten scheint, war an der Sammelei auch nicht besonders interessiert, sagte jedoch gleich zu Beginn des Kurses, dass sie sich gerne eingehender mit Jeanne d'Arc beschäftigen möchte.
In der deutschen Literatur war's ähnlich. Wir haben ein paar Gedichte gelesen: Brecht, Wiegenlied II, Hoffmann von Hoffmannswaldau, die Welt, Gryphius, Es ist alles eitel ... Wir haben ein wenig über die unterschiedliche Weltauffassung bei Hoffmann von Hoffmannswaldau und Brecht gesprochen: dort Weltverachtung und Zuwendung zu ewigen Werten, hier der Appell zur Weltverbesserung. Vielleicht wäre das Gespräch engagierter geworden, wenn ich in klassischer TZI-Manier - sie kennen die Themen-zentrierte Interaktion nicht, naja, Ruth Cohn ist gestorben und die Zeit ist über sie weggegangen! -, also, wenn ich in TZI-Manier gefragt hätte, "Was spricht dich an dem Gedicht an". Ein anfängliches "weiss nicht" kann dabei ja leicht zum Einstieg in eine ganz intensive Diskussion werden, wenn nur jeder und jede an dem Fadenende ziehen darf, welches für ihn oder sie relevant ist. Ich habe diese Gelegenheit ein Stück weit verspielt, weil ich die Frage weniger präzis gestellt und weniger Raum für die Suche nach der eigenen Antwort gegeben habe. Dadurch blieb die Diskussion eher oberflächlich und allgemein. Rückblickend würde ich sagen, ich habe die Jugendlichen mit meinem Ansatz überfordert. Ohne einen gewissen Vorrat an konkreten Erlebnissen und Eindrücken bleibt jede Übersicht für sie etwas abstraktes.
Das Gefühl, meinen SchülerInnen etwas "bieten" zu müssen und nicht zu wissen, was sie denn gerne hätten, hat mich bis heute früh bedrückt. Vorgestern Abend habe ich zwei Mitarbeitern davon erzählt. Für mich ist es wie eine Krankheit: Die tief sitzende Angst, dass sich meine Schüler von mir abwenden und Mist zu machen beginnen, wenn es mir nicht gelingt, sie gleich zu Beginn eines Kurses und zu Beginn jeder neuen Stunde zu packen und für das Thema zu interessieren. Erfahrene Lehrer beherrschen dies Spiel oder sie haben zumindest gelernt so zu tun als ob sie es beherrschen. Dabei weiss ich doch, dass ich gerade das eigentlich nicht will -, meine SchülerInnen "packen" und ihr Interesse "fesseln". Ihr Interesse soll sie vielmehr in die Welt führen indem sie hier und dort schnuppern, dieses und jenes versuchen und dort zu graben und zu wühlen beginnen, wo sie etwas interessantes wittern. Das möchte ich, das scheint mir das "normale" und das "gesunde", und doch gelingt es mir nicht oder nur schwer. Was selbstverständliche Haltung sein müsste ist bei mir krampfhaftes Bemühen. Ich will die Jugendlichen frei suchen und arbeiten lassen und greife doch immer wieder zu rasch ein. Mist!
20. Sebtember 2007, wieso kommt die Angst wieder und wieder?
Gestern früh spürte ich diese alt vertraute Angst wieder deutlich. In meiner Not begann ich gegen sie anzusingen und anzureden. Dabei merkte ich wieder einmal, dass ich nicht zu einem Lehrer im herkömmlichen Sinn degenerieren will, und dass ich als solcher auch nicht funktioniere. Mein Protest gegen die mir aufgenötigte Rolle – aufgenötigt durch die Situation und durch meine eigenen Reflexe – weckte meine Lebensgeister. Plötzlich war ich ganz heiter und guter Dinge. Ich wusste nicht nur, was ich nicht will, sondern auch, was ich will!
29. September 2007, Gehetze!
Wir sind dauernd am Rumrennen: Meetings, Präsenzzeit in der "Familie" über Mittag und am Abend, Unterrichten und Unterricht Vorbereiten, Wandergruppentreffen, Freitagsgruppentreffen, Putzpause, Ansagekonferenz, Mittagessen, Singgemeinde, Schulgemeinde, Nachtessen ... Die Zeit dazwischen reicht gerade mal für ein paar wichtige Telefonate oder Mails. Zeit für's Grosse Ganze, für philosophische Gespräche und grundsätzliche Überlegungen gibt's so gut wie nicht. Statt vom eigenen Rhythmus werden wir vom Rhythmus der Schule durch die Tage geschoben. Ich habe immer wieder das Bedürfnis zu schreiben, um den Kopf über Wasser zu halten und mich in dem Getriebe nicht zu verlieren, nicht im Treibsand der alltäglichen "Arbeit" zu versinken. Ich habe das Bedürfnis, doch die Zeit und Ruhe dazu fehlt. Ich habe schon daran gedacht, einen Club der toten Dichter oder so was ähnliches ins Leben zu rufen, um wenigstens einmal pro Woche eine Stunde zum Schreiben zu haben. Aber ich fürchte, ich mach's auch nicht, weil ich nicht will oder weil ich schon jetzt weiss, 'Unterrichten' ist für mich gestorben.
Meine Not mit dem Lehrersein hat nicht nur damit zu tun, dass ich die Freiheit der Heranwachsenden nicht unnötig beschneiden will, weil mir das Freisein an sich so wichtig wäre. Sie hat auch damit zu tun, dass ich nicht an die Wichtigkeit oder Richtigkeit all dessen glaube, was wir den Heranwachsenden beizubringen versuchen. Es gibt ethische Gebote, an die ich glaube, und die ich weiter vermitteln will. Eine Art ABC des menschlichen Miteinanders und der Sorge für sich selbst. Doch das ganze Allgemeinwissen ist mir so zweifelhaft, dass ich es niemandem gegen seinen Willen oder auch nur aus Gewohnheit verfüttern mag.
1. Oktober 2007, einer rettet mich, ein wenig.
In fünf Minuten muss ich schon wieder weg: Meinen Rucksack mit Wandersachen zur Metallwerkstatt bringen, dann Frühstücken. Anschliessend brechen wir zur Viertagewanderung auf. Ich freue mich und gleichzeitig ... Im Deutschkurs haben wir ein Gedicht von Hoffmann von Hoffmannswaldau gelesen, in dem die Welt als "schön Spital so voller Krankheit steckt" und als "Sklavenhaus, darin Menschen dienen" beschrieben wird. Das trifft meine Stimmung. Die Kraft zur Rebellion und zum mutigen "dennoch" ist klein. Die Melancholie und die Sehnsucht, mich einfach auszuklinken und zurückzuziehen ist gross. Immerhin: Eben hat Herr Weber, der Betreuer unseres Leonid geschrieben, dass Leonid es sehr genossen hat, dass ich die letzten Tage ein, zwei mal in seinem Zimmer gesessen sei und mit ihm geredet habe. So bin ich denn nicht ganz nutzlos -, denn nutzlos und vom holen Weltgetriebe angeekelt fühle ich mich sonst ziemlich. ... Of we go. Die Wanderung beginnt.
6. Oktober 2007, Wanderung!
Nachdem ich die ersten zweieinhalb Tage ziemlich lustlos mitgewandert bin – wir fuhren mit der Gondel nach Planplatte, wanderten von dort via Tannalpsee zum Ängstlensee und (am 2. Tag) via Baumgartenalp zurück nach Reuti und die Ecole. Hier pakcten wir die zweite Hälfte unserer Lebensmittel sowie Pfeile und Bogen ein und zogen dann weiter zu einem Bogenschiessgelände unterhalb des Brünigpasses, wo wir die zweite Hälfte der Wanderung in Tipis lebten, kochten, Bogen schiessen übten und das Leben und die prächtige Sonne genossen.
Nachdem meine Stimmung anfänglich ziemlich schlecht war und mir meine Unbeholfenheit wegen meinem Blindsein auf den schmalen und steinigen Bergwegen und die Unübersichtlichkeit des Tipigeländes ziemlich zu schaffen gemacht hatten, kamen meine Kräfte am 3. Tag allmählich wieder zurück. Nach dem Abendessen setzte ich mich denn auch pflichtgemäss mit Blaze, Mario und Luka, drei Jugendlichen von 13 bis 17 Jahren, zusammen, weil wir für "Entertainment and Activities" zuständig waren. Ich wollte mit ihnen überlegen, wie wir den Abend gestalten könnten, damit er etwas interessanter und harmonischer würde als der ziemlich chaotische und öde Vorabend. Luka, der in der Nacht zuvor von Hellen in unser Tipi geholt worden war, weil er nach zwei Mahnungen um 12:00 immer noch so laut war, dass man ihn über das ganze Gelände hörte, meinte, er wolle an dem Abend eine Gerichtsverhandlung über die Frage, ob er wieder im anderen Zelt schlafen dürfe, denn er wolle keine weitere Nacht mehr bei den 'Erwachsenen' oben sein.
Wir waren uns nicht einig, und wir beschlossen, die Meute zu Fragen. Luka sagte erneut, er wolle Gericht spielen. Man solle über seinen Fall verhandeln. Hellen, eine Mitarbeiterin, reagierte zunächst ähnlich wie ich fünf Minuten zuvor. Sie forderte Luka auf, den Quatsch sein zu lassen und entweder still zu sein oder einen Vorschlag zu machen, der der ganzen Gruppe etwas bringen würde. Ich war mittlerweile etwas entspannter und sagte, Lukas Vorschlag wäre immerhin eine Möglichkeit. Wir könnten Gericht spielen, allerdings wisse ich nicht recht, wie das gehen könne. Daraufhin schwenkte Hellen ein und schlug vor, dass alle Anwesenden als Zeugen zur Frage Stellung nehmen sollten, wie sie den Angeklagten während der letzten Tage erlebt hätten und ob und unter welchen Bedingungen sie ihm die Rückkehr in das andere Zelt erlauben würden. Luka griff die Idee sofort auf und setzte sich selbst als Richter ein. Die anderen schienen einverstanden und Luka rief umgehend den ersten Zeugen auf.
Plötzlich war aus dem assozialen Haufen von vor fünf Minuten eine konzentriert zuhörende Gruppe geworden. Luka posierte als Richter, liess sich mit "euer Ehren" anreden, verbat sich im Namen des hohen Gerichts unpassende Zwischenrufe und liess im Verlauf einer guten Stunde jedes Mitglied unserer Wanderung (ohne ihn 8 Jugendliche und 3 Erwachsene) zu Wort kommen und seine Meinung zum Fall Luka formulieren. Es war, als ob die Möglichkeit, sich hinter der Rolle des Richters zu verstecken, ihm half, sich alles, was da über ihn und sein Verhalten gesagt wurde, ruhig anzuhören. Er unterbrach die Redenden jedenfalls höchstens zwei oder drei Mal, auch wenn das, was sie sagten, für ihn nicht immer schmeichelhaft war.
Am Ende der Runde bat ich den Richter, dass nun auch noch der Angeklagte gehört werden und zu seinem Fall Stellung beziehen solle. Daraufhin wechselte Luka die Rolle und ging jetzt differenziert und ruhig auf das ein, was er während der letzten Stunde gehört hatte. Dabei war er durchaus auch selbstkritisch. Schliesslich sagte er, dass er bereit sei, die Bedingungen, welche das Gericht an seine Freilassung knüpfe, zu akzeptieren.
Als Zeuge hatte ich das Gericht bereits zuvor darauf hingewiesen, dass im Grunde nicht nur Luka der Laute, sondern auch diejenigen anzuklagen seien, die nicht dafür gesorgt hätten, dass er mit seinem lauten Getue aufhöre. "Weshalb, so frage ich das hohe Gericht, bleiben die straflos, die durch ihre Passivität und ihre Bequemlichkeit uns arme, ermattete Erwachsenen nötigen, zu nächtlicher Stunde unsere warmen Schlafsäcke zu verlassen und uns mit letzter Kraft zu einem fremden Zelt zu schleppen, nur um dort eine Arbeit zu tun, die genauso gut von der dortigen Jugend getan werden kann, ja muss!'
Mein Vorschlag, im Falle einer nächsten Ruhestörung nicht den Ruhestörer, sondern diejenigen zu bestrafen, die den Ruehstörer die Ruhe stören lassen ohne sich ernsthaft gegen diese Untat zur Wehr zu setzen, wurde vom hohen Gericht zwar nicht akzeptiert, doch führte er immerhin zur Einsicht, dass man tatsächlich selbst Verantwortung für die Ruhe übernehmen könne und müsse. Schliesslich wurde der Vorschlag des 14-jährigen Blaze akzeptiert, dass ab 22:30 Flüsterzeit sei, wobei alle für die Einhaltung dieser Abmachung verantwortlich seien. Vor 22:30 könnten alle so laut sein, wie sie wollten. Diesen Vorschlag akzeptierte am Ende auch der Angeklagte, der damit in allen Ehren in die Freiheit entlassen wurde.
Der ganze Prozess war nicht nur menschlich ergiebig, sondern über weite Strecken auch durchaus amüsant und unterhaltend gewesen. Er hatte ungefähr anderthalb Stunden gedauert, wobei die Gruppe bis zum Schluss so konzentriert und wach war, wie ich sie bis dahin nie erlebt hatte.
Die Verhandlung hatte schliesslich noch zwei Nachspiele: Simon, ein nicht sehr beliebter 16-jähriger Junge aus der Gruppe, schlug nach Schluss der Gerichtsverhandlung vor, dass wir noch eine generelle Feedbackrunde machen sollten, denn er denke, er könne den letzten Tag der Wanderung vielleicht besser geniessen, wenn er wisse, was die anderen über ihn denken. Wir einigten uns schliesslich darauf, dass er noch Feedback bekommen solle. Für eine ganze Runde seien wir zu müde! Er akzeptierte und hörte still zu als die andern reihum schilderten, wie sie ihn während der letzten drei Tage erlebt hatten. Während mich bei Luka auch die Rafinesse, mit der er die Gerichtsverhandlung inszeniert hatte, beeindruckt hatte, berührte mich bei Simon vor allem der Mut, mit dem er um Rückmeldungen bat, musste er doch annehmen, dass er dabei auch einige unangenehme Dinge hören würde.
Das zweite Nachspiel ereignete sich eine halbe Stunde später als Jurina, Hellen, Simon und ich gespannt im Zelt sassen und – die Uhr vor uns – dem Gebrüll und Lachen aus dem unteren Tipi lauschten bis der Lärm plötzlich verstummte ... 22:32, Flüsterzeit! Das Wunder war eingetreten ... Eine Viertelstunde später waren auch wir in unseren Schlafsäcken und schliefen ohne weitere Ruhestörungen bis zum nächsten Morgen!
8. 10. 2007, Montag früh ...
Wenn mein Hiersein ein Versuch sein sollte, die glücklichen Zeiten von damals zu rekonstruieren, so gelingt er offensichtlich nur bedingt. Die Wanderung, ja, dass war gut, aber sonst?
Die Einsicht, dass es mir 1. nicht gelingt, mit den Jugendlichen in Kontakt zu kommen und dass die Ecole 2. eine im Grunde tief langweilige Schule ist beunruhigt mich. Kein Enthusiasmus, kein lebendiger pädagogischer Geist, keine Aufbruchsstimmung, nur Rutine und Müdigkeit und ein paar reformpädagogische Reste, die konserviert und mitgeschleppt werden ohne dass wir wirklich wissen, ob sie heute noch bringen, was sie ursprünglich bringen sollten. Es gibt keine für uns Erwachsene interessante Projekte an der Schule. Im Alltag gibt's zwar schöne Momente, durch welche die Rutine versüsst und lebbar gemacht wird, aber ein übergeordnetes Ziel oder ein tieferes Gefühl dafür, was wir hier wollen fehlt. Paul und Edith Geheeb kannten das Gefühl: Sie hatten die "Odenwaldschule" 1910 gegründet, weil sie genau das vermeiden wollten: Keine Schule, sondern Freiheit zu tun was die Jugendlichen tun wollten! Die einen "spielten" im Wald, sie wollten nicht in die "Schule". Die anderen lasen stundenlang im Garten, und nochmal andere kuckten dem Paul Geheeb zu, wie er in der Werkstatt ein Möbel machte. Edith Geheeb hatte realistischere Vorstellungen, aber auch nach 1934, wie sie in die Schweiz gingen und die "Ecole d'Humanité" zum zweiten Mal "gründeten", hatte die Schule noch nicht die Form angenommen, wie sie mir jetzt vorkam. - Ich bin also der Gefangene einer eher langweiligen Schule, in welcher ich menschlich noch nicht angekommen bin oder nie ankonnen werde.
Kurz nach neun. Die Mitglieder des Deutschkurses arbeiten an ihren individuellen Projekten: Gina hat das Tagebuch der Anna Frank gelesen und wird es uns am kommenden Samstag präsentieren. Saskia hat sich mit Gedichten beschäftigt. Sie erzählt uns davon am kommenden Freitag. Am Montag stellt Seilesch uns den Siddharta vor und am Dienstag ist Kilian mit "im Westen nichts Neues" dran. Vera wird mir eine schriftliche Arbeit über "unterm Rad" abgeben.
Ich weiss nicht, wie intensiv die einzelnen wirklich an ihren Projekten arbeiten. Ich habe ihnen in letzter Zeit viel Raum dafür gegeben. Als wir uns heute trennten habe ich ihnen gesagt, dass es für mich ganz ungewöhnlich sei, nicht zu wissen, was sie da vorbereiteten. Als trainierter Lehrer bin ich leider ziemlich misstrauisch und fürchte, sie benützen die ihnen gegebenen Stunden vor allem dafür, nichts zu tun. Ich fürchte dies, obwohl ich glauben möchte, dass sie ihre Zeit gut anwenden und verstehen, dass diese Arbeit eine Gelegenheit für sie ist, etwas zu üben, was sie üben möchten oder müssen: Lesen, denken, zusammenfassen ... "Geistig arbeiten". Kilian nickt. Natürlich kennt er die Rhethorik, aber spürt er auch, was sie für ihn bedeutet, ist er von ihr auch berührt? Ich weiss es nicht. - Am Mittwoch treffen wir uns, um eine Debatte über deutsche Literatur von 1800 bis 1900 zu haben, ähnlich wie die Diskussion am vergangenen Samstag über "Sturm und Drang" und Aufklärung. Morgen ist individuelle Arbeit angesagt, was mir eine "freie Stunde" beschehrt, die ich gut gebrauchen kann.
Dienstag, 9. 10. 2007, nochmal Morgenkurs.
Am Morgen, bevor ich die letzten Zeilen schrieb, habe ich Peter, einen 18 oder 19-jährigen "Helfer" aus den USA getroffen. Er ist bei Micha und mir im Französisch. Er ist sehr still und freundlich; dabei geht er in dem lebendigen und unruhigen Haufen leider oft unter. "Privat" habe ich schon zwei dreimal mit ihm musiziert. Er spielt ganz wundervoll Geige, ist ein grosser Improvisator, wird aber sofort still, wenn andere Instrumente zu dominant sind. Ich hab ihn gefragt, ob er heute zu ehren von Nando und David im Esssaal Happy Birthday spielen würde. Er war verlegen, sagte dann aber, er würde es lieber nicht tun. Daran knüpfte sich ein Gespräch über seine Angst, wieder als Streber zu gelten so wie in seiner Highschoolzeit. Dort sei er als der komische Geigen- und Naturfreak abgestempelt gewesen und er wolle nicht wieder in diese Schublade getan werden. Er würde sehr gern mit mir Klezmer spielen, das auf jedenfall, bei Gelegenheit auch öffentlich, aber morgen ... Es war ihm peinlich, so kompliziert zu sein. Ich versuchte ihn zu beruhigen. Danach fragte er mich, wie's mir selber in der Ecole gehe. Wir sprachen über unseren Französischkurs und über meine Vorstellungen eines reifen, verantwortungsbewussten Schülers. Nach zwanzig Minuten musste er gehen. Er wirkte erleichtert und dankte mir für das Gespräch ...
Jan: Im "Martin-Wagenschein-Haus", wo wir Geschichte haben, sprach ich dann einzeln mit Jan, Anja und Keti, während die anderen das Büchlein Hitlers Weg zur Macht weiter bearbeiteten. Jan präsentierte mir das Konzept seiner Semesterarbeit, ein von Gandhi über Martin Luther King bis zur Globalisierung sich hinziehendes Opus Maximum, gut gegliedert, aber sehr ambitiös. Mal sehen, wie sich's entwickelt. Mit ihm zu reden ist erfreulich: ein intelligenter, sehr neugieriger und diskussionsfreudiger Junge, dessen vom hundertsten ins tausendste geratender Forscherdrang mir ja nicht fremd ist!
Anja: Nach Jan setzte sich Anja zu mir auf die Treppe, während die andern im Schulzimmer arbeiteten oder lachten. Anja hat vor 5 Wochen deutlich gesagt, sie wolle über Jeanne d'Arc schreiben. Seither habe ich sie öfter gefragt, wie's vorangehe. Sie sagte immer "gut", und es schien, dass sie weiter keine Hilfe brauchte und wollte. Diesmal erzählte sie, dass ihre Motivation etwas nachgelassen habe. Sie merke jetzt, dass der Druck, den sie in der bisherigen Schule stets gefühlt und geschätzt habe, ihr fehle. Es falle ihr schwer, sich selber zu disziplinieren und zu motivieren. Sie liebe es, nach klaren Vorgaben zu arbeiten. Sie sei darin auch immer gut gewesen, wobei sie von ihren MitschülerInnen deshalb auch stets heruntergemacht und ausgegrenzt worden sei. Ja, sie habe halt als Streberin gegolten.
Nach einem kurzen Gespräch über die Freude am Funktionieren und über das in dieser Freude steckende Risiko, am Ende jedem Herrn zu dienen ohne über den Sinn und die ethische Vertretbarkeit dessen, was man dabei tut, nachzudenken, kamen wir auf ihre Arbeit zu sprechen. Sie lachte als ich sagte, dass Jeanne d'Arc sie vielleicht gerade deshalb so fasziniert, weil dieses Mädchen sich überhaupt nicht darum gekümmert habe, was man von ihr erwarte. Stattdessen hörte sie nur auf ihre eigene, innere stimme und tat das, was sie für recht hielt, ganz egal, was die Welt um sie herum darüber dachte! Dieser Gedanke gefiel Anja: Ja, da könne was dran sein. Jeanne d'Arc als ihre andere Seite ... Schliesslich vereinbarten wir, dass sie von jetzt an jeden Tag einen Abschnitt schreiben würde -, direct auf PC, damit ich ihr fortwährend Feedback geben könne und sie eine gewisse verpflichtende Struktur habe.
Käti: Nach Anja kam als letzte Käti. Käti hat vor ungefähr zwei Wochen eine eigene Lektüre begonnen, da sie mit dem abstrakten Stoff in Bächingers "Hitlers Weg in den Krieg" offenbar nichts anfangen konnte. Ich gab ihr stattdessen Miriam Presslers "Malka", in dem die Geschichte eines 7-jährigen jüdischen Mädchens erzählt wird, welches auf der Flucht von Polen nach Ungarn von seiner Mutter zurückgelassen wird. Jetzt sitzt Käti neben mir auf der Treppe mit ihren fast 17 Jahren, etwas unbeholfen im Reden, zutraulich, noch voller Lachen von eben, als sie drinn bei Viktoria war und ... arbeitete? Zwei oder drei Tage zuvor hatte sie mir gesagt, das Buch sei ganz okay, allerdings kenne sie das Ende ja. Deshalb sei es nicht mehr so interessant. Jetzt sagt sie, nein, das Buch sei wieder interessant geworden. Sie lerne auch einiges. Ja. Sie werde in der Gruppe über das Buch berichten.
Sie liest mir ihre Notizen vor, ein paar spärliche Sätze, in denen der Kern der Handlung festgehalten ist – keine Details, keine Fragen oder Ergänzungen. Als ich sie frage, ob das Mädchen im Buch ihr zu jung sei – sie sei doch immerhin beinah zehn Jahre älter als Malka – sagte sie ohne weiteres: Nein. Sie könne sich gut in dieses Mädchen versetzen, denn sie habe mit sieben Jahren im Grunde genau dasselbe erlebt. Nicht genau dasselbe, korrigiert sie, aber doch auch so etwas. Sie sei in dem Alter aus Kosowo geflohen. Ihr Vater sei bereits in der Schweiz gewesen. Sie seien ganz plötzlich aufgebrochen. Sie und zwei Geschwister mit ihrer Mutter. Sie seien auch nach Ungarn gefahren – ja, Ungarn, wie Malka! Dort hätten sie in einem Haus warten müssen, bis ein Freund ihres Vaters sie abgeholt und nach Basel gebracht habe. Sie seien so plötzlich weggefahren, dass sie niemandem hätte Ciao sagen können und danach, bald danach, sei ihr Grossvater gestorben. Ja. Den habe sie sehr gerne gehabt. Ja, in Kosowo. Nein. Der Grossvater sei nicht geflohen. Er sei auch nicht getötet worden. Einfach wegen des Krieges. Zuviel Sorgen. Das Leben genommen? Nein, nein – das glaube sie nicht. Ja, sie hätten sich auch verstecken müssen, im Wald. Nein, Tote habe sie keine gesehen. Aber davon gehört, dass dieser und jener tot seien, das habe sie schon. Kugeln im Kopf oder so. Ja. Das habe es gegeben, ja, auch in ihrer Familie. Nein. Mit der Mutter rede sie nicht darüber. Wahrscheinlich wolle sie nicht, dass die Mutter traurig wird. Auch in der Ecole habe sie bis jetzt noch niemandem davon erzählt. Sie habe bis jetzt auch kaum daran gedacht oder darüber gesprochen, aber jetzt, wo sie diese Geschichte lese, komme ihr alles wieder in den Sinn. Ja, traurig sei es schon, aber sie wolle das Buch weiterlesen. Ja, wenn es zu traurig würde, würde sie aufhören oder auch zu mir kommen. Nein, in der Klasse habe sie davon nicht erzählen wollen -, sie wisse eigentlich nicht warum. Ja, vielleicht würde sie mal versuchen, die eigenen Erinnerungen aufzuschreiben. Doch, sie wolle es versuchen. Versuchen – sie wisse nicht, ob sie es könne.
Ich sass neben ihr, hörte zu, fragte hie und da und hörte wieder zu. Unglaublich, was da so aus einem Mädchenmund kommt an einem gewöhnlichen Montag morgen zwischen 10:40 und 10:50 auf der Treppe vor dem Musikraum im Martin Wagenschein-Haus. Ob sie bisher wirklich niemandem hier in der Ecole von diesen Erlebnissen erzählt hat? Ich weiss es nicht, doch es könnte sein. Ich bin berührt. - Das war eine ergiebige Geschichtsstunde, wenn es mit den abstrakten Zahlen und Fakten, welche die Geschichte der Nazizeit ausmachen, auch noch sehr hapert, Käti weiss auf jedenfall, worum es bei der ganzen Sache geht.
Franziska und Viktoria: Bei Franziska und Viktoria stehe ich nach wie vor vor einem Rätsel. Franziska wirkt sehr eingeschüchtert. Sie spricht kaum je von sich aus. Wenn ich sie frage, antwortet sie stets. Sie versucht auch mitzuarbeiten, doch entweder kann sie das, was sie versteht, nicht in Worte fassen, oder sie versteht wirklich kaum, was sie liest. Ich habe sie bis jetzt nicht von der Lektüre des Textes, den ich vor ein paar Wochen als Leitfaden für unseren Kurs ausgesucht habe, entbunden, weil sie mit ihren 16 Jahren einen solchen Text eigentlich verstehen müsste. Viktoria ist lebendiger. Ich habe den Eindruck, dass sie gerne in den Kurs kommt – nicht so sehr wegen des Themas, dieses ist ihr eigentlich egal, sondern weil Käti da ist und weil wir eine nette Gruppe sind. Die Nazizeit scheint für sie jedoch genauso weit weg wie für Franziska, und obwohl auch sie sich bemüht zu verstehen, bleibt bei ihr so wenig hängen wie bei dieser, wobei sie einmal eine erstaunlich gute schriftliche Zusammenfassung eines teils des fraglichen Büchleins vorgelegt hat.
Für mich sind beide Mädel ein Rätsel: Können sie nicht? Wollen sie nicht oder können sie nicht wollen? Tobi, unser ältester Kursteilnehmer, meinte, mit ein wenig Fantasie könne man sich schon vorstellen, wovon in dem Text die Rede sei. Doch genau diese Fantasie scheint zu fehlen oder, wenn sie nicht fehlt, so ist sie doch so blockiert oder stumpf, dass sie kaum mehr auf das reagiert, was wir im Kurs tun. Es ist wie eine innere Schwerhörigkeit. Man könnte vor den beiden eine Kanone abfeuern, sie würden vielleicht nichts hören. Ob die Fantasie durch die Angst gelähmt ist, etwas verkehrtes zu sagen, oder ob sie sich wegen der andauernden medialen Überflutung von aussen nicht entwickelt hat, weiss ich nicht. Ich empfinde den Mangel an Vorstellungskraft jedenfalls als etwas ähnlich gravierendes wie jede andere Organschwäche.
Als ich Megan am Dienstag nach unserem Spektakel-Spektakel-Kurs von meinem Erstaunen in der Sache erzählte, meinte sie, die beiden bräuchten vielleicht eine andere Art von Zugang zu dem Stoff. Einstieg durch ein geeignetes Jugendbuch oder mittels eines Films ... - Obwohl Megan pragmatisch gesehen recht haben mag, sträubt sich in mir doch alles gegen dieses scheinbar vernünftige Vorgehen, denn die Arbeit muss doch letztlich von innen nach Aussen geschehen. Wenn ich die taube Fantasie durch immer heftigere Reize für kurze Momente zum Leben zu erwecken versuche, so wird sie dadurch unterm Strich sicher eher geschwächt als gestärkt. Geführte Imaginationen, Rollenspiele oder das Kreieren einer Geschichte ist da sicher der bessere Weg. Ein peppiger Film mag kurzfristig einen ganz guten, ja vielleicht einen besseren Effekt haben. Mittel- und langfristig trägt er jedoch wahrscheinlich vor allem dazu bei, dass die innere Taubheit noch zunimmt. Ich hab mich inzwischen dennoch entschlossen, im Kurs in den nächsten Tagen einmal "die weisse Rose" anzuschauen. Die Bekanntgabe dieses Entschlusses löste ein begeistertes "jeee" aus.
23. Oktober 2007, materielle Hindernisse?
Im Rückblick auf den Kurs merke ich., dass ich mich nicht gründlich genug mit den materiellen Hindernissen auseinandergesetzt habe, auf die wir im Laufe unserer Arbeit gestossen sind. Ich meine damit zuerst einmal die Bibliothek. Wir hätten gleich zu Beginn eine Stunde vereinbaren müssen, in welcher Fränzi uns in die Bibliothek allgemein einführt und uns zeigt, was es dort an Nachschlagewerken zur "deutschen Literatur" gibt. Wir hätten auch mit Cathleen darüber reden müssen, ob und wie wir die Bibliothek in der 1. Stunde benützen können ohne ihren Kurs zu stören. Dann hätten wir uns auch um unser Schulzimmer kümmern müssen, denn im Grunde sitzen wir dort in einem kleinen, oft kalten, sehr ungemütlich eingerichteten Raum, der überhaupt nicht zum gemütlichen stillen Lesen animiert. Wenn wir an unseren einzelnen Projektn gearbeitet haben, haben wir uns deshalb oft in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Das öffnet nicht nur Tür und Tor für allerlei Ablenkungen, es ist auch schlecht für das "Wir-Gefühl" der Gruppe, denn ruhige, gemeinsame Lesestunden in einem gemütlichen Raum können genauso viel zum Zusammenhalt der Gruppe beitragen, wie die Arbeit an einem gemeinsamen Thema. Solange es in unserem Klassenzimmer jedoch weder eine gemütliche Sitzecke noch einen Duden oder ein Nachschlagewerk zur deutschen Literatur und einige Bücher gibt lädt es zu einem solchen Zusammensein nicht ein.
Zu den "materiellen Hindernissen" gehört auch der Mangel an leicht verfügbarem Unterrichtsmaterial. Ich habe keine Ahnung, was es an Lesebüchern oder grammatischen Übungsbüchern gibt – hier in der Schule, aber auch in der Welt generell. Ich habe keine Ahnung, auf welchen Webseiten ich Lesetips oder Übungsmaterial finde, und unter meinen eigenen Büchern gibt's nichts, was ich im Deutschkurs brauchen könnte. Zu den "materiellen Hindernissen" gehört auch die Tatsache, dass mein Zugang zu allen theoretisch vorhandenen Resoursen erschwert ist, weil ich nicht einfach kurz in die Bibliothek gehen und mir dies oder jenes holen kann und weil ich auch bei der Nutzung mir unbekannter Webseiten stark verlangsamt bin, weil ich Blind bin. Vielleicht bin ich auch so hilflos, weil ich nicht "Lehrer" bin.
16. 11. 2007, nach dem verlängerten Wochenende.
Meine Stimmung war in den letzten Tagen etwas besser. Als ich vor einer Woche zwei Tage wegfuhr, hörte ich mich einige male sagen, "wenn ich wieder heim komme ...". Die Veränderung hat nicht zuletzt damit zu tun, dass David, ein 12-jähriger, tief in der "Pubertät" steckender Junge, die Ecole nach langem Kampf am Mittwoch vor dem verlängerten Wochenende verlassen hat. Sein Kampf hat viele Kräfte absorbiert, und mit seinen Problemen, aber auch seinem heftigen und energischen Wesen hat er unsere "Familie" sehr dominiert. Er war der Mittelpunkt unseres familiären Netzes, alle Energien, alle Gespräche und alle Aufmerksamkeit ging zu ihm hin und von ihm aus. Seit er weg ist sind wir ein Netz mit vielen kleineren Knotenpunkten. Die Energien gehen über viele Wege. Die Kids beginnen untereinander zu sprechen, und Maria und ich haben mehr freie Kapazitäten für den Rest der Familie.
Das Ergebnis ist ein allgemeines Tauwetter. Leonid hängt bei mir im Zimmer rum, wenn ihm langweilig ist. Am vergangenen Samstag Abend haben wir Schach gespielt. Vasco hat lange zugeschaut, entspannt und freundlich, nicht von oben herab, wie er sonst oft ist. Sara kommt mit ihren Englischaufgaben zu mir ... Einzig Ina ist nach wie vor relativ still und zurückhaltend. Alles in allem aber eine sehr angenehme Entwicklung. Zumindest bei Leonid entsteht sowas wie eine warme freundschaftliche Beziehung. Er hat einen schrägen Humor und wir lachen viel mit und übereinander. Mit Maria, der Mitarbeiterin, geht's nach wie vor gut. Sie sagt, dass sie sich innerlich oft sehr unsicher fühle, etwas, was ich von aussen kaum bemerke. Sie wirkt ruhig und überlegen, und ist auch dann freundlich, wenn sie müde und krank ist.
16. November 2007, Konflikte.
Im Französischkurs - der Kurs ist auch ein Morgenkurs, der dritte, dann gibt's Mittagessen - sind wir daran, "les Carbonara" einzustudieren. Der Text ist fertig, braucht aber noch hie und da etwas Finetuning. Auch die Arbeit auf der Bühne ist noch in Entwicklung begriffen. Bei komplizierten Regiefragen spreche ich seit einigen Tagen immer deutsch. Das Widerspricht zwar meinem ursprünglichen, bis dahin relativ konsequent durchgehaltenen Vorsatz, doch sehe ich nicht, wie ich diese Dinge auf Französisch diskutieren und klären könnte.
Nach einer ziemlich anstrengenden Probe heute früh fand ich im Schulzimmer eine weinende Gina. Matteo und Zsolt haben sie genervt. Sie rufen zuerst Va und danach Gina. Es sei vor allem Matteo, schon seit einiger Zeit. Sie habe es ihm ein paar Mal gesagt, einmal habe sie ihm auch eine geknallt, doch habe er nicht aufgehört. Nachdem Matteo und Zsolt bereits seit Tagen wieder ziemlich unkonzentriert und mühsam waren – etwas, womit sich vor allem Micha, auch ein Mitarbeiter, herumschlagen musste, da ich meist mit anderen am Proben war – haben wir sie nach dem Mittagessen zu einem Krisengespräch bestellt. Dabei haben sie mich innerhalb von drei Minuten so auf die Palme gebracht, dass ich mit der Feststellung weggegangen bin, dass sie nicht mehr in dem Kurs seien, wenn sie nicht zu Micha und mir kämen und sich noch einmal um ein vernünftiges Gespräch bemühen würden. Inzwischen tut mir diese heftige Reaktion leid, denn ich mag die beiden und ich glaub ihnen auch, dass sie im grunde in dem Kurs sein wollen, und dass ihnen das Theater Spass macht. Doch ich selber kann jetzt nicht mehr zurück. Sie müssen das Gespräch suchen. Abgesehen von dem Zwischenfall mit Gina sind sie auch sonst schwierig und dies vor allem, wenn sie zusammen sind.
Nach der "Schulgemeinde" kam Zsolt zu mir. Wir hatten schon vor zwei Tagen ein Gespräch vereinbart. Dabei ging es mir eher um ihn, seine Entmutigung und seine Situation in unserem Kurs und in der Schule im allgemeinen. Zsolt ist ein sympathischer Junge. Er wirkt bedrückter als Matteo, weniger verspielt und kindlich. Doch ob ich die beiden nun mag oder nicht: wenn sie in einer Gruppe nicht wenigstens einigermassen funktionieren, so können wir sie nicht im Kurs behalten. - Irgendwann löste sich das "Problem", wie, das weiss ich nicht mehr ... Aber hätte ich eine andere Lösung gefunden, dann hätte es vielleicht eine wirgliche Verwandlung gegeben, wenn ich zum Beispiel Gina mit einbezogen hätte.
Sonntag, 2. Dezember 2007, Müde oder mehr.
Vor einer Woche sollten wir unsere neuen Morgenkurse Ausschreiben. Meine drei bisherigen Kurse gehen nicht weiter. Ich musste mir also neue Projekte ausdenken. Dabei habe ich gemerkt, dass ich im Grunde keine Lust mehr auf's Unterrichten habe. Damit existiere ich in der Ecole jedoch gewissermassen nur noch als Fassade, denn das Unterrichten ist doch unser hiesiges Kerngeschäft.
Die Feststellung hat mich bedrückt und erschreckt, denn als Betrüger will ich nicht leben, zugleich habe ich aber auch keine Lust mehr auf die Herausforderung, die mich vor 4 Monaten noch gereizt hat. Ich habe hier ja schon öfter über meine ambivalenten Gefühle gegenüber meiner Lehrertätigkeit gesprochen und einer Mitarbeiterin,Sarah, auch bereits einmal halb im Scherz gesagt, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre. Nachdem ich aber gemerkt habe, wie sehr ich Sarah und mehr noch Maria mit solchen Bemerkungen treffe, habe ich beschlossen, nichts mehr in dieser Richtung zu sagen. Die Krise vor einer Woche war dann allerdings so, dass ich zu Sarah ging und ihr erzählt habe, dass ich ernstlich daran denke, mich umgehend durch einen anderen Menschen ersetzen zu lassen, falls ein solcher verfügbar wäre.
Sarah, die Internatsleiterin, war wie immer sehr verständnisvoll und geduldig. Sie möchte gerne, dass ich bleibe, nicht nur, weil es nicht so einfach wäre, mich zu ersetzen, sondern auch, weil sie mich als Menschen hier haben möchten. Ich möchte im Grunde ja auch selber bleiben, möchte, dass die Arbeit hier für mich zu einer "fruchtbaren Erfahrung" wird, und ich meinen Platz hier finde ... Ich möchte es und möchte es nicht, je nach augenblicklicher Verfassung. "Soll er gehen, soll er kommen -, der Entschluss ist ihm genommen! Tastend wankt er halbe Schritte ...". – Wir haben uns schliesslich darauf geeinigt, dass ich Sarah im Laufe des Wintertrimesters wieder auf meinen innern Zustand hinweisen werde -, dies vor allem dann, wenn es mir nicht deutlich besser zu gehen beginnt. Eventuell lässt sich dann ein Ersatz für das Frühjahrstrimester finden.
Meine Situation ist verwickelt. Ich weiss nicht, ob ich mich wegen der Arbeit hier oben so freud- und lustlos fühle, oder ob ich keine Freude an der Arbeit habe, weil es mir insgesamt "nicht gut" geht. Möglicherweise bin ich ganz einfach ein mensch, der kein Talent zur Freude und zum "positiven Denken" hat. Vielleicht reagiere ich aber auch auf die hier herrschende Atmosphäre, auf die in der ganzen Schule mangelnde Freude an der Arbeit, an die vorherrschende Kleinlichkeit und Ängstlichkeit, mit der wir den Jugendlichen hier begegnen.
Wir reden die ganze Zeit davon, wie viel Verantwortung wir ihnen übergeben und wie anders wir gerade in dieser Hinsicht gegenüber allen anderen Schulen seien. Tatsächlich trauen wir ihnen so gut wie nichts zu. Überall sehen wir die Möglichkeit von Missbrauch und Chaos. Überall müssen wir dafür sorgen, dass "nichts passiert". Alles ist geregelt, wobei man sich stets nach den schwächsten Jugendlichen richtet: Weil es ein paar Jugendliche gibt, die in Meiringen stehlen oder Zigaretten kaufen könnten, darf kein unter 17-Jähriger allein nach Meiringen. Dabei geschieht mit den Jugendlichen etwas ähnliches wie mit mir: Innere Emigration, Gleichültigkeit, Müdigkeit. Die Identifikation mit der Ecole ist erschreckend gering. Ob geringer als früher weiss ich nicht, aber hoch ist sie aus meiner Sicht keinesfalls.
Es kommt oft vor, dass Alain oder Ernst, zwei Mitarbeiter, wenn sie drei vier Freiwillige für's Stühleaufstellen vor der Andacht oder vor der Singgemeinde brauchen, eine Minute im Esssaal stehen und auf die sich hebenden Hände warten müssen! Mag sein, dass das für die Mehrheit der MitarbeiterInnen hier normal ist. Ich finde es deprimierend, und alles andere als "normal". Da müsste doch mehr Hilfsbereitschaft vorhanden sein.
Als Maria und ich hier begannen, hat man uns absichtlich nur "neue" KameradInnen in die Familie gegeben, um – so die Begründung von Sarah - zu vermeiden, dass Jugendliche, die die Ecole schon kennen, unsere Unerfahrenheit ausnützen und die Familie in negativer Weise beeinflussen würden. Vorgestern wurden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aufgefordert, bei der Advenzandacht schon möglichst früh im Grossen Saal zu sein und uns "strategisch" zu setzen, um zu viel Unruhe während der Lesung von Lagerlöff's "Christrose" zu vermeiden. Vor zwei Wochen haben wir in der Schulgemeinde darüber diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen 17-järhige die Gondelbahn nach Meiringen benützen dürfen. Im Augenblick ist es ihnen nicht erlaubt, da vor zwei Monaten irgendeine diesbezügliche Regel gebrochen wurde. In der Schulgemeinde hat eine seither mit der Sache betraute "Kommission" mit den eigenartigsten Argumenten dafür plädiert, diese Regelung ganz aufzuheben. Der Antrag wurde nur diskutiert und dann an die Kommission zurückgegeben. Er steckt jetzt irgendwo im Bermudadreieck zwischen 17-jährigenkommission, Polygon - fünf bis sieben Schülerinnen und Schülern mit einem Mitarbeiter - und Konferenz. Diese findet, das Geschäft sei schlecht vorbereitet gewesen und die vorgebrachten Gründe hätten nicht überzeugt. Beides stimmt. Aber woher nehmen wir überhaupt das Recht, 17-jährigen Jugendlichen in dieser Richtung irgendwelche Vorschriften zu machen. Ist das nicht mentale Käfighaltung?
Die restriktive Gondelbahnpolitik wird u.a. damit begründet, dass der Fussweg nach Meiringen der im Leitbild festgeschriebenen Naturnähe der Schule entspreche. Der Zwang, mindestens einen Weg nach oder von Meiringen zu Fuss zu gehen, könne deshalb nicht so leicht über Bord geworfen werden ... Nun gefällt mir der Meiringer Weg ja persönlich sehr gut, und ich finde, dass wir eigentlich immer zu Fuss nach Meiringen könnten, und zwar sowohl runter als auch rauf. Mir gefallen solche "altmodischen" Ideen, aber dafür das Leitbild zu bemühen ist doch eher lächerlich. Im Leitbild steht ja auch etwas darüber, dass wir unsere eigenen "Chair-Personen" sein und lernen sollen, unser Leben in unsere eigenen Hände zu nehmen. Dass EcolianerInnen hier um ein solches "Recht" betteln müssen empfinde ich als sehr demütigend. Dass sie sich selber überhaupt auf derlei Debatten einlassen zeigt entweder, wie geduldig sie mit uns und dieser Schule trotz allem noch immer sind, oder wie wenig Gefühl für ihre eigene Würde ihnen hier oben noch geblieben ist.
Fazit
Ich blieb noch zwei Trimester, obwohl ich geradesogut an Weihnachten hätte gehen können. Ja, ich war kein "Lehrer", nicht einmal ein einigermassen schlechter oder langweiliger. Ich war einfach ...
Was war ich eigentlich? Ein Mensch, der Interessen hatte, gerne Klavier spielte, unendich lange diskuttierte, fragte und auch ... Segeln kommt mir noch in den Sinn, auch Töpfern und wandern! Aber einen Beruf? - In der Ecole habe ich stundenlang mit den Jugendlichen diskutiert, Heidelbeeren gesammelt, abgewaschen oder Verstecken gespielt. Wenn ein Mensch - klein oder gross - gefragt hätte, was ist Mathematik, dann hätte ich wahrscheinlich nicht viel erhellendes gesagt, wenn er gefragt hätte, was ist Philosophie, dann wäre vielleicht ein Gespräch oder ein Vortrag aus dem ganzen entstanden. Wenn er nichts gesagt hätte, vielleicht bedrückt wäre, dann hätte ich vermutlich gesagt, was beschäftigt dich eigentlich. - Kleine Babys oder 10, 20 und 80-jährige sind normalerweise neugierige Geschöfpe; sie fragen unendlich viel, wenn man sie nur lässt! Aber in der Schule dressiert man die Menschen zu Robottern und Sklaven. Wenn sie Erwachsen sind, dann tun sie das, was sie tun müssen, gerne. Sie ähneln sich vielleicht noch weniger dem Menschen, die sie im Grunde sind und es nicht mehr sein können.
Copy Martin Näf 2008, 2018