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Erster Brief: Geh ich oder geh ich nicht ...

Seltsam wie schwierig es heute ist per Schiff in die USA zu kommen. Alle diesbezüglichen Systeme und Traditionen sind ausgestorben. Ausser den grossen Luxusdampfern gibt's eigentlich nichts mehr. Auch die Redereien, die bisher noch Frachtschifftouristen mitgenommen haben, sind am Aussterben. Alles ist auf die Fliegerei konzentriert OZON-Loch hin oder her. So lange wir nur unsern Spass und unsern Kick haben! Ein Flügchen nach Tailand, um dort irgend einen Boy oder ein Girl auf meinen Schoss zu nehmen! Ein Flug in die Südsee, um dort wiedermal richtig Sonne zu tanken! Ein Flug nach Kenia, um mal richtige Natur zu sehen! Der Mensch von heute braucht das! Man muss doch mal aus dem grauen Alltag raus! Wollen sie ja auch, Herr Näf!

New York City, 19. Jan. 1997

Lieber Andres!

Ein melancholischer, langsamer Sonntag geht seinem Ende entgegen. Ich sitze im hintersten Zimmer von Cathrins "Railroad appartement" (vier Zimmer hintereinander, ohne Gang, wie ein Eisenbahnzug) auf einem wackligen Stuhl -, einen letzten Nachgeschmack der eben vertilgten Pizza im Mund und das Geräusch der Feuerwehr im Ohr, die den Broadway hinunterbraust, um irgendwo irgendwas in Ordnung zu bringen! Ich habe mir während der letzten Tage oft Ruhe gewünscht,und heute, als ich sie endlich hatte -, naja, da war's mir plötzlich so unheimlich und trübeim Herzen, und so sehr ich suche und forsche in den Kammern meines Innern: Aller Aufbruchsgeist, aller Sinn für das Neue und alle Sehnsucht nach dem Abenteuer scheinen verschwunden, haben sich aufgelöst in nichts! Wenn ich nur nie auf diese doofe Reise gegangen wäre! Ach, ich könnte jetzt bei mir zuhause sitzen, hinterm warmen Ofen, könnte vielleicht ein wenig mit Dir oder Helmar oder Hermann telefonieren, könnte mit Pina oder Yvonne in meiner Küche Wein trinken und über die Weltlage klönen ...! Statt dessen bin ich allein in dieser so fremden Fremde, in dieser so konfusen, überkomplizierten, konfliktbelasteten Welt, bin allein mit meinen Fragen und Zweifeln und Hoffnungen, ohne die vertrauten Freunde von zuhause, ohne gewohnten Trost!

O Du, der Du mir zwischen Lastwagen und Kranen entschwandest, der Du mir versankst im Getöse dieser Maschinen und im Jaulen der ewig warnenden Sirenen des Hafens von Laspezia! Wie viel Wasser ist seither die Thur hinuntergeflossen und wie viele Wellen haben die Gestade Frankreichs seither bespühlt? Wie viele Winde haben die Wasser des Atlantiks zerfurcht und wie viel Mal ist die Sonne hinabgetaucht in das blaugrünschwarze Dunkel des lichten Meeres, das zwischen mir und Dir sich seither erstreckt!

Ich weiss nicht, ob Du inzwischen von jemandem gehört hast, dass ich tatsächlich gut angekommen bin. Die Überfahrt war aussergewöhnlich ruhig, warm und sonnig!Nur zwei oder drei halbe Tage hatten wir etwas stärkeren Seegang, sodass ich direkt gespürt habe, dass da tatsächlich ein Meer war - unter uns und um uns! Die grösste Gefahrenquelle auf dieser Reise bildeten eindeutig die häufigen und sehr reichlichen Mahlzeiten. Hier galt es aufzupassen, um keine zu verpassen und sich zugleich nicht krank zu essen, zu überfüllen! Den sonstigen Luxus bis hin zum Lift hast Du ja gesehen!

Richard, der angekündigte Franzose, mein Begleiter, entpuppte sich als sehr umgägnlich, liebevoll, humoristisch, vielseitig interessiert und gesellig. Wir hatten's wirklich sehr gut miteinander, haben viel gelacht und geplaudert. Ich habe mein Französisch, er hat sein Deutsch und vor allem sein Englisch geübt. Wenn ich je wieder ein Jbegleiter brauche, so hat er gesagt, so solle ich anrufen. Er komme sofort! Ihm machen diese Frachtschiffahrten grossen Spass und er benützt jede Ausrede, um Weg zu kommen von seiner Arbeit und - zum Teil auch - von Weib und Kind. An diese denkt man mit viel mehr Inbrunst und Sehnsucht, wenn man irgendwo weit weg ist! Da geht's ihm ja gleich wie mir mit meiner Sehnsucht nach der Ramsteinerstrasse und Euch allen!

Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Marseille (von wo aus ich vergeblich versucht habe, Dich nochmals telefonisch zu erreichen, um Dir noch einmal für Deine so liebe Verabschiedung zu danken) und nach einem weiteren Tag in Valencia (Spanien) waren wir ca. 9 Tage auf dem Atlantik ohne irgend ein anderes Schiff oder sonst ein Zeichen der Zivilisation zu sehen. Erst einen halben Tag vor unserer Ankunft in New York haben wir ein kleines Vögelchen gesichtet, das uns von dem Nahen des festen Landes kündete. Einmal - morgens früh - hat Richard ein paar Delphine beobachtet, die eine Weile spielend neben unserem Schiff herschwammen. Sonst wie gesagt nur Wasser und Himmel, Wind und Wellen, und der Mikrokosmos unseres Schiffes: Die Besatzung, die Maschinenen, die Arbeitsbedingungen, die Computerprogramme, der Satelitenkontakt mit dem Reder, die Container etc.!

Diese kleine Welt war in vielem interessant, und ein Bisschen was haben wir im Laufe der zwei Wochen, die wir an Bord der DSR-Europe waren, doch mitgekriegt. Sehr romantisch oder sonst erfreulich war das, was wir miterlebt haben, allerdings nicht: Die Freude am Befahren der Meere, die Liebe zum Wasser, die Freude an der Weite des Himmels und der Frische der Luft oder die Faszination der Ferne -, all diese Dinge haben im Gedränge des Alltags der Mannschaft nur sehr wenig Platz. Frust und Stress oder Langeweile und das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, als dieses Schiff überwiegen! - Das war das Schiff und die Überfahrt. Ein kleineres Schiff und etwas bewegteres Wasser hätten meinem Seemannsherzen wohl getan! Aber auch hier heisst es wohl: Der Mensch denkt und Gott lenkt, und ich habe versucht, das zu geniessen, was da war, statt mir die Reise durch Betrachtungen dessen zu verderben, was nicht da war!

Jetzt bin ich also bald zwei Wochen in den Staaten; wir sind am 6. Januar Abends in New Jersey gelandet, vor meinem Fenster die Skyline von Manhattan. Am folgenden Tag haben Richard und ich einen kurzen Abstecher dorthin gemacht, sind dann auf das Schiff zurückgekehrt, haben unser Zeug gepackt und sind wieder in die Stadt hinüber: Ich zum Bahnhof, er zum Flughafen, denn seine Ferien waren damit zu Ende, während ich weiter wollte: per Zug nach Hudson, ca. zwei Stunden nördlich von New York, wo ich Mariann und ihren Mann Bill besucht habe. Mariann kenne ich von der Ecole, wo sie (.u.a. zu meiner Zeit) Mitarbeiterin war; später hat sie (nach meiner Zeit zwar, aber immerhin) für ca. ein Jahr in der WG in Jriehen gewohnt, die zu den legendären Kapiteln meines Lebens gehört. Mariann und Bill leben auf dem Land und die sieben Tage bei ihnen haben sich angefühlt wie sieben Tage mit Menschen, die ich inzwischen wirklich gut kenne -, sehr vertraut -, ein wirkliches Stück Heimat in Mitten dieser fremden Welt!

Vor fünf Tagen bin ich nach New York City zurückgekommen. Hier habe ich zuerst bei Rich gewohnt und seit Freitag Abend bin ich bei Cathrin. Rich und Cathrin sind beide Mitglieder von "Servas", einer Organisation von Reisenden und Gastgebern, der ich im Dezember ebenfalls beigetreten bin. Rich wohnt an der 11. Strase, mitten im "Village", dem Künstlerviertel New Yorks. Cathrin lebt viel weiter nördlich, in einer ärmeren, auch gefährlicheren Gegend -, nicht Harlem, aber doch nahe von Harlem.

Abgesehen von dem heutigen Sonntag war ich jeden Tag unterwegs, habe einige Dinge organisiert - z.B. meine Versorgung mit Kassetten-Büchern -, und bin einigermassen überschwemmt von New Yorker Eindrücken: Obdachlosigkeit, Vielfarbigkeit und Vielfältigkeit der Stadt, Reichtum und Armut, die Freundlichkeit und die Zuheit der New Yorker, die schnellen, oft herzlichen und angenehmen Kontakte auf der Strasse und die völlige Einsamkeit in der Masse all dieser Menschen mit ihren tausend Plänen und Zielen, die Freundlichkeit der (meist schwarzen) BusfahrerInnen - unvorstellbar gelassen und geduldig mitten im Chaos! - und die Hektik und Verängstigung vieler Taxifahrer ...

Jeff, ein ca. 30-järhiger Schwarzer, obdachlos, seit fünf Jahren hier, seit einiger Zeit "trocken", vorher Alki, sucht jetzt Arbeit, bittet mich um Hilfe, um Geld. Geld, um sich für die nächsten Wochen ein Zimmer mieten zu können, und um sich einen Ausweis (Non-drivers-Licence) ausstellen zu lassen. Jeff, der von seinem Wunsch spricht, es in dieser Stadt zu schaffen, einen Job zu finden, eine Wohnung, vielleicht irgendwann einmal eineFrau! Jeff, der Angst hat, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will jetzt, wo ich weiss, dass er Schwarz ist ... und ich, der ich in meinem Schweizer Kopf hin und her überlege, ob ich ihm Geld geben soll und wie viel, während es hier seit Tagen minus 10 Grad oder kälter ist -, dazu ständig ein eisiger Wind. Morgen treffen wir uns noch einmal - zum dritten Mal -, und ich rechne noch immer, rechne erneut, nachdem er heute am Telefon erstmals etwas unangenehm grob wurde, weil ich ihn heute nicht sehen, ihm kein Geld zum Essen kaufen geben wollte. Scheiss Geiz, Scheiss Berechnung, Scheiss Vorsicht und Misstrauen etc.! Am liebsten würde ich weglaufen und mich hinter irgend einem breiten Rücken verstecken, um nichts von diesen Dingen - Armut, Kälte, Elend! Ungerechtigkeit, Obdachlosigkeit, Kriminalität! - spüren und mitkriegen zu müssen. Sollen die Menschen doch in den Zeitungen hungern und erfrieren, nicht hier, vor mir und neben mir! Und dann wieder Jeff, der gestern so froh war, als ich doch auftauchte - etwas zu spät, wegen der saulangen Busfahrt von hier oben runter zu der 11. Strasse wo wir uns verabredet haben. Jeff, der sagt, jetzt habe ich einen Bruder! He! Ich schaffe es! Gott und ich habe gedacht, Du kommst nicht mehr! - Und ich, der ich denke, spüre: Ja, wenn man, wenn ich helfen könnte -, ein gutes Gefühl -, Gönner sein ... Scheisse! Weshalb dieses Misstrauen ihm gegenüber und gegenüber meinen Motiven zu helfen? Auch wenn er mich übers Ohr haut: Er tut es auf eine in sich ehrliche und sehr anstrengende Weise und wird dabei viel weniger reich als die vielen Andern, die mich gewissermassen von Amtes wegen und mit modernsten Mitteln betrügen! Soll er mich doch übers Ohr hauen, und warum muss er immer lieb und nett sein, wenn er um sein Leben kämpft, um eine Mahlzeit, ein Zimmer während dieser so beschissen kalten Zeit! Ich habe so viel Geld, dass ich gemütlich kreuz und quer durch die Welt kutschieren kann, und da überlege ich mir noch, ob ich ihm wirklich mehr als 10 Dollar geben soll: Er könnte das Geld ja im Puff verplempern oder sich Drogen kaufen oder sonst etwas unsinniges ... als ob mich das letztlich etwas angeht! ... Und das alles umrandet von Verkehr, Strassen, Autos, Bussen, Menschen ...

Irgendwann während dieser Tage habe ich auch Ruth getroffen -, eine Cousine meines Vaters -, vor 35 Jahren wegen Liebeskummer oder aus einem anderen, niemals recht klar gemachten Grund aus der Schweiz entflohen oder ausgewandert! Eine alte Jungesellin -, das schwarze Schaf -, die geheimnis umwitterte unglückliche Ruth - die so unglücklich nicht scheint während der drei Stunden, die wir zusammen reden und lachen ! O die Schweiz! Zu langweilig! Hier - die Museen, die Oper, die Pferderennen ... Nein! Was soll ich in der Schweiz! - Dann geheimnisvolle Andeutungen von einem Mann, aber eben: so lange man nicht viel Geld hat, ist man immer in Gefahr, des Geldes wegen, zu dem falschen Mann ja zu sagen, zu einem, den man, wenn man nicht müsste, nie nehmen würde ... Also lieber arm und ungebunden als reich und abhängig ... Andeutungen ohne Zusammenhang, verloren zwischen immer neuen Geschichten von Töchtern von Freundinnen, die damals ja bereits in Wien gewesen waren, während der Mann ja nicht konnte wegen der Kranken Mutter und sie hat doch so gut Violine gespielt und war auch in Buenos Aires - nein, nicht die die Mutter, die Freundin natürlich, deren Tochter jetzt Krebs hat - nein, nicht in Wien, sondern hier, in New York! ... Und dann, ganz plötzlich - hart, aber auch zutreffend: Ja. Wenn Du es Alles sehen könntest! Die Met (die Metropolitan Opera)! Gott! So schön! Die Farben im Treppenhaus, die Kronleuchter - von Österreich gespendet! - Und die ganzen Häuser!Die Radio-City und die Museen! Du kannst es halt nicht sehen! Wunderschön! So schön! ...

Copy 1997 Martin Näf