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INNENANSICHTEN EINES BLINDGÄNGERS

So anders als andere Menschen sind wir Blinden ja nicht. Wir haben unsere Hoffnungen und Ambitionen, unseren Frust, unsere grossen und kleinen Freuden, unseren täglichen Ärger und Stress. Je nach Typ und Situation überwiegen einmal die frohen und dann wieder die dunkeln Töne. Aber mit dem weissen Stock und "ohne zu kucken" durch den Verkehr einer Stadt wie Basel zu pilgern, das ist manchmal schon ein Erlebnis der besonderen Art! - Martin Näf, BAZ Beilage, 5 2003

 

Es gibt ja jetzt an vielen Orten diese piepsenden Ampeln, aber haben Sie schon einmal versucht, dem lockenden Piepsen einer Ampel am Bankenplatz zu lauschen, während die Luft erfüllt ist vom Dröhnen der über den Platz rumpelnden Trams und dem Gehämmer eines auf der anderen Strassenseite installierten Pressluftbohrers? Da stehe ich denn oft und denke hoffnungsfroh, wenn nur wer käme und mich nähme! Ja. Wenn nur wer käme, das denke ich auch oft an unserem schönen neuen Bahnhofplatz, wenn ich sozusagen mit angehaltenem Atem von der Traminsel in Richtung Bahnhof gehe über diese grosse weite Fläche ohne irgendwelche Anhaltspunkte! Ach so. Sie haben recht: Die taktilen Linien, von einer vermutlich hochkarätigen Kommission extra für die Blinden gemacht, damit wir uns auf der weiten Fläche nicht zu einsam fühlen. Ja, diese Linien. Ich habe auch schon von ihnen gehört, aber fühlen kann ich sie mit meinem weissen Stock ungefähr so gut wie ich die Markierungen auf den Banknoten spüre, also eigentlich so gut wie nicht. Sicher, wenn ich auf allen Vieren über den Bahnhofplatz kriechen würde, dann würde ich sie spüren, aber so ... So freue ich mich über einen Menschen, der mich schnell mit rübernimmt und mir vielleicht auch gerade noch sagt, auf welchem Gleis mein Zug nach X oder Y fährt, denn dort unten in der Unterführung, in dem Gewühl von Zeitungsständern, kreuz und quer durcheinander laufenden Menschen und dröhnenden Reinigungsmaschinen bin ich oft nicht mehr im Stande, jemanden so anzusprechen, dass er oder sie sich auch wirklich angesprochen fühlt. Da stehe ich dann und übe mich in der Kunst, loszulassen und dem Universum zu vertrauen. Das macht besonderen Spass, wenn ich weiss, dass mein Zug in zwei oder drei Minuten fährt, und wenn ich merke, dass ich wieder einmal zu schüchtern bin, um ungeniert und laut um Hilfe zu rufen! Oft ruft's dann doch noch in letzter Minute aus mir raus oder irgendwer hat die Not schliesslich gesehen und sich ein Herz gefasst und mich gefragt: "Kann ich helfen?" Und ich sage: "Ja, Sie können", und ich bin erlöst ... Besorgen Sie sich einmal eine Dunkelbrille und einen weissen Stock und Basel wird zum Abenteuerspielplatz. Abenteuer, wenn ich gelassen bleiben kann, sonst nennen wir's Stress und ärgern uns.

Sie haben es gemerkt. IN diesem Text geht's auch um Sie! Mit Ihnen, dem Publikum, einer grossen Zahl unbekannter Menschen, die hie und da einmal eingreifen und helfen gehe ich durch's Leben. Mit Ihnen bewege ich mich in irgend einer kleinen Stadt in Tanzania oder in New York. Sie sind da und schauen und greifen ein oder lassen es bleiben. Sie sind der lebendige Beweis dafür, dass wir als Menschheit noch funktionieren – nicht perfekt, aber doch gut genug, und manchmal gibt's Momente, da wird dieses Spiel beinahe magisch!
Da gehe ich, frisch in die Breite umgezogen, mit meinem Stock – tap tap tap – in Richtung Post. Ich muss die Zürcherstrasse überqueren. Zwei schnelle Spuren mit Tram und ohne Inseln in der Mitte. Bei durchschnittlichem Verkehr schon ein kleiner Fall für Bauchweh, denn ich steh nicht gerne in der Mitte einer Strasse, während hinter und vor mir der Verkehr rollt, und ich darauf warte, noch ganz rüber zu kommen. Wenn in der Mitte eine Insel wäre, wär's anders, dann wüsste ich, dass ich wirklich in der Mitte stehe, aber ohne Insel ... Ein kleiner Fall für Bauchweh, wie gesagt. Jetzt stehe ich am Strassenrand. Hier ist der Zebrastreifen, hier muss ich rüber. Und plötzlich – wie ein Wunder – Stille. Die Autos stehen. Vor mir ist eine breite Schneise. Ich stutze. So gut funktioniert die Menschheit in der Regel nicht; da muss was faul sein. Wie Moses mit dem Stab die Meere teilte, teile ich die Fluten des Verkehrs mit meinem Blindenstock. Ich kann das Wunder nicht verstehen, doch ich gehe wie ein König, wie ein Ehrengast durch die geteilte Flut – ich lächle nach links und winke nach rechts. Die Autos stehen und warten. Was ist geschehen und weshalb geschieht dieses Wunder seither fast jedes Mal sofort, wenn ich an diesem Zebrastreifen stehe, während ich an anderen Orten häufig lange stehe, ohne dass etwas derartiges geschieht.
Freunde von mir haben behauptet, die wunderbare Rücksichtnahme, die ich seit Jahren an diesem Fussgängerstreifen erlebe, rühre von dem kleinen Polizeiposten her, der sich unweit dieses magischen Ortes befinde. Dieser flösse den Menschen Respekt ein. Dann wären Sie also nur aus Angst vor einer Busse so rücksichtsvoll? Das ist ernüchternd, wie Liebe für Geld oder so ähnlich. Aber schön ist es doch, wie ein Lächeln, wie eine grosse Zärtlichkeit wenn ich zur Post gehe und die Autos stehen bleiben und ich die Strasse überquere und lächle und mich über die Aufmerksamkeit freue und glaube, es geschehe nur aus Menschlichkeit, aus Zartgefühl für das Zerbrechliche, denn zerbrechlich bin ich schon, so wie Sie auch, nur anders und doch auch wieder gleich.