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An Daniel C., 19. März 2003

Hoi Dänu, nachfolgendes habe ich gestern, Dienstag Nachmittag geschrieben, doch blieb's dann irgendwie hängen.

Ich habe schon gestern abend einen Brief begonnen, doch hat er eine Richtung genommen, die mir nicht gefällt. Und jetzt sitze ich bereits wieder eine viertel Stunde und versuche Anfang nach Anfang. Ich bin unruhig, schon den ganzen Tag. Am Radio immer Krieg und wieder Krieg, und unter meinen Mails einen weiteren Aufruf von MoveOn. Ich wasche ab, frühstücke nebenher, beginne ein wenig aufzuräumen – zuerst in der Küche, dann auf dem Balkon. Die Morgensonne ist angenehm. Ich freue mich auf die Zeit, wo ich wieder ganze Tage lesend, arbeitend, redend auf diesem Balkon zubringen werde. Allerdings – das fällt mir plötzlich ein -, diese Zeit kommt vielleicht nicht wieder, denn wenn ich im Mai tatsächlich für ein paar Monate verreise verpasse ich diesen Sommer und im nächsten Sommer will ich eigentlich nicht mehr hier sein!

Ich bin unruhig. Ich habe zu wenig zu tun. Arbeit würde mich in Form bringen, würde meine Unruhe bändigen, aber als "selbstständig Erwerbender" ist mann aufgeschmissen. Da knallt  niemand mit der Peitsche, niemand lenkt meine Gedanken in eine andere Richtung. Vielleicht wenn jemand anrufen würde, wenn das Initiativkommittee "ja zum Zugang für Alle" endlich den Werbetext für die Mailingliste verschicken würde, welche Lorenz und ich auf den Weg bringen wollen, um etwas für diese Initiative und einen guten, effektiven Wahlkampf zu tun – vielleicht, wenn sie diesen Text endlich durch ihren Verteiler in die Welt entlassen würden, dann gäb's wieder Imput von Aussen: Mails, Anrufe ... Dann wär Mann wieder wer, oder wenn Alexander wegen der Bilder aus dem Archiv der Odenwaldschule anrufen würde oder Herr Kalb vom deutschen Studienverlag, aber heute ist's ruhig – Ruhe vor dem Sturm. In Kontext brachten sie (ja wer eigentlich?) eine Sendung über Bush ... Nach dem Mittagessen rief Frank (Freund aus alter Zeit, hetero aber Freund nichts desto trotz!) an. Er ist zurück aus Afrika, hat wieder einmal zwei Wochen als Kommunikationshelfer in irgendeinem katholischen Kurszentrum zugebracht. Katholisch ist Zufall, seine Aufträge sind weltlicher Art, im Dienst des Kapitals könnte man sagen, aber abgefedert durch die Staatlichkeit des Auftraggebers. Wir sprechen lange über die letzten Nachrichten, diese ganze Kriegsscheisse. Am Sonntag bei Johanna haben wir (Johanna, mein ebenfalls eingeladener Vater, seine Freundin und Ich) ein paar Kerzen vors Fenster gestellt und vor einem Monat war ich in Bern an der Demo. Sonst bleibt nur das Gefühl von Hilflosigkeit und ein gewisses distanziertes Interesse an der Mechanik der Dummheit. Ich bin unruhig, mache noch mal ein paar Telefonate, erkundige mich, ob die Stereoanlage, die meine Mutter kaufen möchte, über eine Fernbedienung verfügt und versuch es bei Lorenz. Der ist nicht da. Lukas, ein junger spunt (mittlerweile 33!) aus meiner letzten Zeit in der Ecole (d'Humanité),  ruft an: Sein Grossvater ist überraschend gestorben ... Ich bin unruhig, und keine äussere Pflicht lenkt mich von meiner Unruhe ab. Ich denke an Deinen gestrigen Brief und das Gedicht. Das Gedicht beunruhigt mich. ...

Soweit bin ich gestern gekommen. Statt diesen habe ich Dir gegen Abend schliesslich doch den Brief geschickt, dessen Richtung mir nicht gefiel und den ich deshalb ursprünglich wegzensurieren wollte.

Dein Gedicht beunruhigt mich, es erschreckt mich. Zuerst und vorweg (Dir zur Entlastung und mir zur Entschuldigung) bin ich wohl kein besonders gedichtlüsterner Mensch, insbesondere die Moderne wird mir schnell zu abstrus. So was wie "Die Liebe kam ihnen abhanden wie anderen Menschen ihr Stock oder Hut ..." (sachliche Romanze von Kästner) oder auch "Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht ..." (Stufen, Hesse) oder "Im Garten steht ein Plaumenbaum ..." (Plaumenbaum, Brecht) entspricht meinem diesbezüglich vielleicht wirklich etwas einfachen, wenig entwickelten Gemüt. Ja, es gibt schon Dinge, die mir gefallen, aber Kunst ... Kunst ist mir oft zu künstlich! Nein. Das stimmt vielleicht auch nicht. Es ist möglicherweise einfach meine ganz bestimmte Art von Kunstgeschmack. Du siehst, ich gerate hier etwas ins Schlingern. Ich habe gelernt zu sagen: "Davon versteh ich nichts; in Sachen Kunst bin ich ein Banause. Ich bin allenfalls ein ahlbwegs brauchbarer Kreuz- und Querdenker, aber ..."

Nach diesem Vorgeplenkel zurück zu dem Gedicht. Es wirkt auf mich sehr schwer, sehr traurig, sehr verzweifelt. Es gibt eine Stelle, wo ein paar Farben auftauchen – etwas grün und blau und gelb – aber insgesamt bleibt bei mir der Eindruck von Knochen und Blut, Schmerzen, Sinnlosigkeit, Samen und Moder, Verletzungen, Wahnsinn, ungestillte Sehnsucht, Verzweiflung, Angst, Ekel. Die Wörter und Sätze bedrängen mich, stechen wie Messer nach mir. ... Ich will mich instinktiv an irgend ein sonniges Fleckchen Waldrand retten, will von all diessem Tränenscheiss, dieser Wut und Angst und Verzweiflung nichts wissen ... Gut. Wenn ich an dem Waldrand sitze und die Sonne nicht zu heiss und die Biese nicht zu kalt ist, dann, ja dann mag ich auch von Tränen und Angst hören und von Verzweiflung, kenne diese Gefühle ja auch und bin selbst nicht nur auf Verdrängen und nicht wissen wollen aus ... aber dieses Gedicht erschreckt mich, und ich möchte mich ganz schnell vergewissern, dass Du noch da bist und lebst, und dass du Deine Liebe zum Leben, die Du als Sänger entdeckt hast, noch spürst irgendwo in Dir drin; ich möchte mich vergewissern, dass Du auch auf Freude und Zuversicht stösst, wenn Du in Dir spazieren gehst und umschau hältst – stille melancholische Gefühle vielleicht, vielleicht auch Träume, nicht nur Angstschreie und blutende Titten und Hoden und ...

Du merkst, das Gedicht ist mir eingefahren. Vielleicht bin ich jja doch nicht so ganz unempfänglich für Kunst! ;-) – Wenn ich versuche, den Eindruck des Textes etwas von mir wegzuschieben, tauchen wieder andere Dinge auf, Sätze, die Du in Deinen Briefen geschrieben hast. Die beleben und bereichern mein Bild von Dir, doch es bleibt der Eindruck, dass Du nicht leicht lebst, dass da neben viel Ärger (von dem Du ja kürzlich geschrieben hast) auch viel Trauer und Verzweiflung ist und immer wiedr eine grosse Sehnsucht zu gehen. Täusche ich mich? Dramatisiere ich? Wieder möchte ich mich ganz schnell vergewissern, dass Du nicht gehen, sondern trotz allem hier sein willst und zwar nicht nur ein Bisschen, den andern zuliebe, sondern ganz fest, weil Du das Leben liebst. – Beides liegt ja oft sehr nah beisammen, die grosse Liebe zum Leben und die grosse Verzweiflung.

Ich weiss schon. Ich kann nicht herstellen, was nicht da ist. Trotzdem: Abgesehen davon, dass ich in jedem männlichen Wesen immer gleich meinen Traummann sehen und mich ihm zu Füssen werfen möchte, auf dass er die Bürde des Lebens von mir nehme und mich mit sich ins Paradies entführe, will ich auch immer Menschen retten: Ich will nicht, dass Du traurig bist, ich will auch nicht, dass Du immer wieder solche verdammten Schmerzen hast und wegen dieses Scheissreumas nicht mehr singen kannst und dass Dir die ganze Welt so unsäglich auf den Geist geht mit ihrer Dummheit und Gleichgültigkeit etc. Ich kann's ja verstehen, dass sie das tut, aber ich will nicht, dass all das Dich besiegt, dass das Leben dick und fett auf Dir drrauf hockt und grinst während Du unter ihm erstickst. Ich will, dass Du noch Mut zum kämpfen und Lust zu lachen und zu lieben hast – nicht dauernd und jeden Tag, wie irgend so ein geschniegelter "uns geht's guet"-Heini - aber immer wieder. – Wie gesagt: Vielleicht dramatisiere ich. Aber so bin ich. Ich möchte nicht, dass Menschen aufgeben. Ja ich glaube, aufgeben ist das Wort. Aufgeben zu kämpfen, für einen Moment, vielleicht sogar für den Rest des Lebens, ja, das vielleicht. Das kann ich mir vorstellen, denn irgendwann mag man nicht mehr. Aber seinen Glauben aufgeben, dass es möglich wäre, dass die Menschen könnten ... dieses Wissen, welches einmal so stark war, endgültig und unwiderruflich abzuschreiben ... das fühlt sich an wie Tod, wie Ende – Ende eines Spiels, das ich trotz aller Zeiten der Schwäche, trotz besseren Wissens und trotz fortgeschrittenen Jahren noch immer wahnsinnig mag.  Da komme ich dann angerannt mit meinem Verbandskasten, wenn ich meine, jemanden auf der Strasse liegen zu sehen, und knie mich neben ihm nieder, um ihn zu retten. Dabei schiesse ich manchmal allerdings etwas über das Ziel hinaus, verbinde Gliedr, die ganz heil sind, und reanimiere Menschen, die sich nur eben mal hingehockt haben, um einen losen Schuhbändel neu zu binden. – Überreaktion aufgrund unkontollierter "Gegenübertragung" oder so ähnlich. Vielleicht ist's auch Dir gegenüber eine solche Überreaktion. Ich weiss es nicht, aber ich wüsste es gerne, wüsste gerne, was Du zu Dir, Deiner Schwere und Deinem Lebenwollen sagst. Was mich angeht, so schwankt das sehr, doch stosse ich unter dem obligaten Seelengerümpel und Alltagsmüll doch immer wieder auf sehr viel Freude und Liebe zum Leben – oft überraschend viel. Manchmal richtig sau stark! Als fröhlichen Menschen würde ich mich dennoch nicht bezeichnen. Es gibt da auch sehr viel Melancholie, viel ungeweinte Tränen, viel Alltagsgriesgrämigkeit, die ich mir immer wieder wegwünsche und wegwische, die aber hartnäckig zurückkehrt wie der Staub überall in meiner ewig putzbedürftigen Wohnung. Früher (als ich 15 und 20 und 30 war) war's schwieriger mit der Freude. Da war sie tiefer verschüttet. Jetzt bin ich ihr oft näher, kenne die Schleichwege zu den guten Quellen in mir drin besser und das ist gut so. Nur:::: Möchte ich die Freude mit jemandem Teilen – ganz nah und ganz innig. Das bedeutet Liebesbeziehung (zwinker scheili); es bedeutet aber auch, wieder mit anderen Menschen Musik machen, auch wieder öffentlich spielen, nicht nur hier bei mir in meiner Stube; es bedeutet vielleicht auch, wieder mit anderen Menschen zu wohnen oder irgendwo konkret menschlich "gebraucht" zu werden – vielleicht so wie Du während der Nachmittage im Büro, wenn Du anderen hilfst, mit ihrem Anliegen durchzukommen.

Dies alles ist Nachklang von gestern. Dein heutiges Mail hat mich schon am Vormittag stark beruhigt und erheitert. Ich habe darin neue Weichheit gespürt, mehr Blick nach innen, die eigenen Fährnisse vielleicht einmal anschauen, zu den alten Mansarden zurückkehren und das angenehm beunruhigende Gefühl, das Leben vielleicht noch immer zu lieben ... so was habe ich da gespürt und mich gefreut. Auch von der Möglichkeit, dass Liebe vielleicht sein könnte – nicht das volle Programm von früher -, aber doch immerhin echte Liebe, kein vernunftgetrocknetes Surrogat! – auch davon schreibst Du, und dann Deine grimmige Drohung, mit den kritischen Blicken Deiner UNBESTECHLICHEN AUGEN meine brandschwarze Seele zu Tage zu fördern ... Das sind ja geradezu aufregende Aussichten ... ! Wau!

Lieber Dani. Inzhwischen knurren die Hungertiere in meinem Bauch und mein Körper will bewegt werden! Leb wohl für heute. Es gäbe noch viel zu schreiben, aber – wie Dänu C. immer zu sagen pflegte: Nodisno!

Ciao Du Mit- und Fürdichmensch, heb's guet!

Liebi Grüess

Martin